EWR 20 (2021), Nr. 4 (Juli/August)

Eva Steinherr
SexualpÀdagogik in der Schule
Selbstbestimmung und Verantwortung lernen
Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2020
(205 S.; ISBN 978-3-17-036054-9; 32,00 EUR)
SexualpĂ€dagogik in der Schule In der Bundesrepublik ist seit den Empfehlungen der ‚StĂ€ndigen Konferenz der Kultusminister der LĂ€nder‘ (KMK) von 1968 schulische Sexualerziehung verbindlicher Bestandteil der LehrplĂ€ne aller BundeslĂ€nder. Die LĂ€nder waren entsprechend aufgefordert, eigene Richtlinien zur schulischen Sexualerziehung zu entwickeln und in unterschiedlichen Fachdidaktiken zu implementieren. Im Zuge der deutschen Wiedervereinigung wurde 1992 mit der EinfĂŒhrung des Gesetzes zur Vermeidung und BewĂ€ltigung von Schwangerschaftskonflikten (SchKG) SexualaufklĂ€rung erneut als lĂ€nderĂŒbergreifende, öffentliche Aufgabe formuliert. Nach mehreren Jahrzehnten rechtlich verankerter SexualaufklĂ€rung, fĂŒr deren Umsetzung auch Schule mitverantwortlich ist, existieren fĂŒr Deutschland jedoch ĂŒberraschend wenig Publikationen und Studien darĂŒber, wie genau die fĂ€cherĂŒbergreifende sexuelle Bildung – mit welchen Themen, auf Grundlage welcher Qualifikationen, Materialien und Werthaltungen – in Schule realisiert wird, wie Lehrpersonen den sexualitĂ€tsbezogenen Bildungsauftrag umsetzen und wie diese BildungsbemĂŒhungen von den – sich in ihrer Persönlichkeitsentwicklung durchaus deutlich unterscheidenden – Zielgruppen wahrgenommen werden.

Der von Eva Steinherr veröffentlichte Band „SexualpĂ€dagogik in der Schule. Selbstbestimmung und Verantwortung lernen“ knĂŒpft hier an. Die Autorin will dabei ĂŒber eine SexualaufklĂ€rung, die als bloße schulische Wissensvermittlung zu biologischen Aspekten verstanden wird, hinausgehen und fokussiert mit dem Begriffspaar Selbstbestimmung und Verantwortung zwei zentrale sexualpĂ€dagogische PrĂ€missen. Ein vielversprechendes Vorhaben – schließlich wird in sexualpĂ€dagogischen Fachdebatten seit LĂ€ngerem betont, dass die Lebenswelten der diversen Zielgruppen zum Ausgangspunkt sexueller Bildungsangebote genommen werden sollten, mit dem Ziel, sexuelle, reproduktive und geschlechtliche Selbstbestimmung zu unterstĂŒtzen. Leider werden die im Titel geweckten Erwartungen nicht erfĂŒllt. Bereits im einleitenden Teil ĂŒberrascht, dass Steinherr den zeitgemĂ€ĂŸen Begriff der sexuellen Bildung in ihrem Buch nicht verwendet und sich zudem gegen eine begriffliche Differenzierung zwischen SexualpĂ€dagogik, Sexualerziehung und SexualaufklĂ€rung entscheidet. Entsprechend scheinen auch ihre Absichten zwischen SexualpĂ€dagogik, -erziehung und -aufklĂ€rung zu changieren. Auch an anderen Stellen mangelt es an Differenzierung: so nutzt die Verfasserin selten gendersensible Schreibweisen und argumentiert entlang binĂ€rer Geschlechtervorstellungen. Zwar geht Steinherr in einem Glossar (74-79) auf Begriffe der sexuellen Orientierung und geschlechtlichen IdentitĂ€t ein. Allerdings fehlt hier der seit 2019 existierende dritte Geschlechtseintrag ‚divers‘ und wird der Begriff ‚queer‘ ausgespart, da er nach der Autorin unterschwellig Werte vermittele, die kritisch zu hinterfragen seien (79). Auf diese Weise geraten diejenigen Jugendlichen und Jungerwachsenen aus dem Blick, die sich selbst als queer (im Sinne von nicht-heterosexuell bzw. nicht-cisgeschlechtlich) bezeichnen und die es sexualpĂ€dagogisch durchaus zu adressieren gilt.

In ihr Buch fĂŒhrt die Autorin mit einer mehrseitigen Kritik an einer SexualpĂ€dagogik der Vielfalt ein, bevor sie anschließend ihr eigenes begriffliches VerstĂ€ndnis von SexualpĂ€dagogik skizziert. FĂŒr sie hat SexualpĂ€dagogik als Teilbereich der Werteerziehung und -bildung (12) die Aufgabe, „SexualitĂ€t als Ausdrucksform der Liebe zu verdeutlichen“ (46). Das ethische Ziel eines sexualpĂ€dagogischen Unterrichts sieht sie in der BefĂ€higung zu einem gelingenden Leben (13f.) bzw. geglĂŒckten (Liebes-)Leben (47). SexualitĂ€t und Liebe postuliert Steinherr als eng zusammengehörig, wobei Liebe ein Ausschließlichkeitscharakter – im Sinne von „Mein(e) Einzige(r)“ – zugeschrieben wird (54-55).

Nachdem Steinherr in Kapitel 1 und 2 ihren Grundansatz einer SexualpĂ€dagogik der Selbstbestimmung und Verantwortung sowie einen ganzheitlichen Ansatz einer SexualpĂ€dagogik vorstellt, nĂ€hern sich Kapitel 3 und 4 den Themen Liebe, SexualitĂ€t und Beziehung(sfĂ€higkeit) aus historisch-philosophischer Perspektive. Kapitel 5 bis 10 greifen sexualpĂ€dagogische Themenfelder auf: behandelt werden HomosexualitĂ€t bzw. sexuelle Vielfalt, MultikulturalitĂ€t, PrĂ€vention von und Intervention bei sexuellem Missbrauch, Prostitution und Pornografie, PrĂ€vention ungewollter Schwangerschaften sowie HIV- und Aids-PrĂ€vention. Diese letztgenannten Kapitel sind insgesamt ĂŒbersichtlich aufgebaut und bieten Anregungen zur praktischen Umsetzung sexualpĂ€dagogischer Inhalte, wobei die MaterialvorschlĂ€ge nicht fĂŒr alle thematischen Schwerpunkte gleichermaßen umfangreich und passend sind. In gebotener KĂŒrze soll auf einzelne inhaltliche Aspekte dieser Kapitel eingegangen werden:

Kapitel 5 trĂ€gt die Überschrift „Toleranz und Akzeptanz von HomosexualitĂ€t bzw. einer sexuellen Vielfalt“, die jedoch nur bedingt zum Inhalt des Kapitels passt: so thematisieren bspw. beide einfĂŒhrende ‚Fallbeispiele‘ Aspekte geschlechtlicher Vielfalt, nicht der sexuellen Orientierung/Vielfalt. Zudem werden einige relevante IdentitĂ€tsentwĂŒrfe schlicht ausgespart. Positiv hervorzuheben sind die angefĂŒhrten UnterrichtsvorschlĂ€ge, die trotz der eher verkĂŒrzten theoretischen HinfĂŒhrung geeignete Anregungen fĂŒr die sexualpĂ€dagogische Arbeit mit insbesondere höheren Klassenstufen bieten.

Kapitel 6 widmet sich „Toleranz und Akzeptanz von MultikulturalitĂ€t“, wobei die Autorin nur grob zwischen multikulturellem, transkulturellem und interkulturellem Lernen unterscheidet. Als Fallbeispiel wird eine kurze Unterrichtssequenz zwischen einer 17jĂ€hirgen muslimischen SchĂŒlerin und einer Lehrkraft zum Thema voreheliche SexualitĂ€t angefĂŒhrt, auch die weiteren theoretischen und geschichtlichen ErlĂ€uterungen beziehen sich auf den Islam – die angekĂŒndigte ‚MultikulturalitĂ€t‘ wird kaum thematisiert. Die abschließenden UnterrichtsvorschlĂ€ge fallen sehr knapp aus. Um die Anregungen im Schulunterricht aufgreifen zu können, wĂ€ren hier weitere Anleitungen hilfreich.

Kapitel 7 geht auf „PrĂ€vention von und Intervention bei sexuellem Missbrauch“ ein. Es bietet einen ersten, orientierenden Überblick ĂŒber Daten zur Betroffenheit von sexualisierter Gewalt und hilfreiche Informationen fĂŒr pĂ€dagogische FachkrĂ€fte im Feld Schule. Im Praxisteil finden sich UnterrichtsvorschlĂ€ge fĂŒr Zielgruppen unterschiedlichen Alters sowie einige relevante Internetadressen zur weiteren Information und UnterstĂŒtzungssuche.

Das Kapitel 8 bespricht die beiden sehr unterschiedlichen Felder der „Prostitution und Pornografie“. Ihren Zusammenhang sieht Steinherr darin, dass beide kommerzialisierte Formen von SexualitĂ€t seien und nicht als Sprache der Beziehung erscheinen (136). Zugleich beschreibt sie beide als Fehlformen von SexualitĂ€t, gegen die sexualpĂ€dagogischer Unterricht vorgehen mĂŒsse (150; 157). Empirische Befunde, die bspw. auf vorhandene Pornografiekompetenz von Jugendlichen hinweisen, werden zwar teilweise angefĂŒhrt – von der Autorin jedoch zugunsten einer (alarmistischen) Gefahrenperspektive hintenangestellt.

In Kapitel 9, ĂŒberschrieben mit „AufklĂ€rung ĂŒber Abtreibung zur PrĂ€vention von ungewollten Schwangerschaften“, verdeutlicht die Autorin vor allem ihre persönliche, ethische Haltung zu SchwangerschaftsabbrĂŒchen. Dass ein Schwangerschaftsabbruch eine wirklich freie, selbstbestimmte und individuell richtige Entscheidung einer Frau sein kann, scheint demnach nicht möglich. Hier finden sich zudem teilweise schlichtweg falsche Angaben, die nicht dem aktuellen Forschungsstand oder der Gesetzeslage entsprechen – wenn bspw. auf erhebliche körperlich-psychische Risiken eines Schwangerschaftsabbruchs hingewiesen wird (161) oder die Verfasserin behauptet, dass in westlichen Gesellschaften das Selbstbestimmungsrecht der Frauen stĂ€rker als der Schutzaspekt des ‚ungeborenen Lebens‘ fokussiert wĂŒrde (163). Auch im zugehörigen Praxisteil finden sich tendenziöse, stigmatisierende und pĂ€dagogisch wenig geeignete UnterrichtsvorschlĂ€ge.

Kapitel 10 beschließt den Band mit AusfĂŒhrungen zur „HIV- und AIDS-PrĂ€vention“. Hier macht Steinherr deutlich, dass dieses Thema im Unterricht nicht skandalisiert werden darf und VerantwortungsĂŒbernahme und eine angemessene Vorsicht gefördert werden sollen (185). Der einfĂŒhrende Teil ist im Vergleich zum unterrichtsbezogenen Teil kurzgehalten. Wichtige Informationen (etwa zur Post-Expositions-Prophylaxe oder der PrĂ€-Expositions-Prophylaxe) finden erst im vorgeschlagenen Material der Deutschen Aidshilfe ErwĂ€hnung. Problematisch ist, dass auch dieses Kapitel dafĂŒr genutzt wird, um „sexuelle Treue“ (182) als einfachsten Schutz vor Ansteckung und Ausdruck von Liebe und gelingender Paarbeziehung zu betonen.

Die Publikation von Eva Steinherr weist – vielleicht ungewollt – darauf hin, dass auch ĂŒber 50 Jahre nach der Verankerung des Themas Sexualerziehung in schulischen LehrplĂ€nen und Curricula inhaltliche Differenzen und Unklarheiten ĂŒber dessen Ausgestaltung herrschen. Adressat*innen sexueller Bildung im Feld Schule sollten entsprechend nicht nur SchĂŒler*innen, sondern auch und gerade Lehrpersonen und weitere pĂ€dagogische FachkrĂ€fte sein. Steinherr ist darin zuzustimmen, dass es dabei auch um die Entwicklung einer eigenen, professionellen Haltung zu SexualitĂ€t, Liebe und Partner*inschaft gehen sollte – nach der LektĂŒre bleiben aufgrund der genannten Kritikpunkte allerdings Zweifel, inwieweit das Buch fĂŒr Lehrpersonal bei der Entwicklung einer diversitĂ€tssensiblen, diskriminierungsarmen und an den Lebenswelten der Zielgruppen orientierten professionellen Haltung zu diesen Themen unterstĂŒtzend sein kann.
Maika Böhm (Merseburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Maika Böhm: Rezension von: Steinherr, Eva: SexualpĂ€dagogik in der Schule, Selbstbestimmung und Verantwortung lernen. Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2020. In: EWR 20 (2021), Nr. 4 (Veröffentlicht am 01.09.2021), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978317036054.html