EWR 14 (2015), Nr. 1 (Januar/Februar)

Kersten Reich
Inklusive Didaktik
Bausteine für eine inklusive Schule
Reihe: Inklusive Pädagogik
Weinheim / Basel: Beltz 2014
(392 S.; ISBN 978-3-4072-5710-9; 29,95 EUR)
Inklusive Didaktik Schulische Inklusion – es gibt zahlreiche Publikationen zu diesem Thema. Auf der Suche nach Veröffentlichungen zu inklusiver Didaktik wird man jedoch nicht so leicht fündig. Damit greift Kersten Reichs Buch einen großen Bedarf auf. Er verweist aber bereits zu Beginn darauf, dass sein Werk von „herkömmlichen Darstellung[en] einer Didaktik“ (9) abweicht und die Dimension des Unterrichts ergänzt wird durch notwendige strukturelle Bedingungen auf Schulentwicklungsebene. Entsprechend behandelt Reich auf knapp vierhundert Seiten nicht nur relevante Themen für inklusiven Unterricht, sondern auch diverse weitere Aspekte, die hilfreich sein können bei der Entwicklung einer inklusiven Schule.

Das erste Kapitel des Buches widmet sich notwendigen Voraussetzungen und Standards für eine inklusive Schule. Reich kritisiert das selektive deutsche Bildungswesen und plädiert für ein einheitliches Schulsystem von Klasse 1–13. Er sieht Inklusion als gesellschaftliche Aufgabe und befindet die Öffnung von Schule hin zur Kommune als notwendig. Anschließend werden im zweiten Kapitel mögliche Schritte aufgezeigt, die Schulen, die sich in Richtung Inklusion entwickeln wollen, gehen können. Hier wird u. a. der Index für Inklusion als hilfreiches Instrument vorgestellt. Im dritten Kapitel erweitert der Autor Ansätze seiner Konstruktivistischen Didaktik mit Hilfe konkreter Maßnahmen wie Teamarbeit, Partizipation u. v. m. zu einer inklusiven Didaktik. Im Zentrum des Buches stehen zehn Bausteine einer inklusiven Didaktik, die im vierten Kapitel des Buches ausführlich erläutert werden: Beziehungen und Teams, Demokratische und chancengerechte Schule, Qualifizierende Schule, Ganztag mit Rhythmisierung, Förderliche Lernumgebung, Lernende mit Förderbedarf, Differenzierte Beurteilung, Schularchitektur, Schule in der Lebenswelt sowie Beratung, Supervision und Evaluation.

Reich verdeutlicht im ersten Baustein die Relevanz von Beziehungen für eine inklusive Didaktik und deren Vorrang vor Inhalten. Er verweist im nächsten Baustein ‚Demokratische und chancengerechte Schule‘ auf die Verpflichtung einer inklusiven Schule, Heterogenität zu leben und alle Beteiligten für tägliche Diskriminierungen zu sensibilisieren und zu deren Abbau beizutragen. Weiterhin stellt der Autor erste Überlegungen zu einem inklusiven Curriculum an. Der Ganztag wird als Notwendigkeit für Inklusion formuliert. Anschließend schildert Reich seine Vorstellung einer inklusiven Lernumgebung (mit einer Homebase statt eines Klassenzimmers, der Vorstellung des Universal Design Ansatzes u. v. m.). Es folgen Überlegungen zum generellen Förderbedarf von Schülerinnen und Schülern, da jeder Mensch in seiner Entwicklung Förderung benötigt. Damit plädiert Reich für eine breite Verwendung des Begriffes, mit dem Ziel einer langfristig positiven Konnotation. Gleichzeitig verwendet der Autor den Terminus ‚besonderer Förderbedarf‘ für Menschen mit sogenannter Behinderung. Für die Feststellung dieses besonderen Förderbedarfs schlägt er eine Diagnostik anhand der ICF-Kriterien vor. Im Baustein ‚Differenzierte Beurteilung’ kritisiert Reich das Notensystem und votiert für die Einführung von Kompetenzrastern. Anschließend thematisiert er architektonische Notwendigkeiten in Richtung Inklusion und unterstreicht erneut die Bedeutung einer engen Zusammenarbeit zwischen Schule und Kommune. Der zehnte Baustein befasst sich mit der Relevanz von Beratung, Weiterbildung, Supervision und Evaluation in einem inklusiven Schulsystem. Einerseits soll das Konzept der Kollegialen Beratung als Basismodell für inklusive Schul- und Unterrichtsentwicklung dienen. Andererseits sollen Lehrkräfte verpflichtend regelmäßig Weiterbildungen besuchen. Eine ähnliche Kontinuität fordert der Autor bezüglich Supervision und Evaluation. Schule einschließlich aller Beteiligten hat sich als lernendes System zu verstehen und soll sich stetig weiterentwickeln.

Nach umfassenden Ausführungen zu den Bausteinen für eine inklusive Didaktik, wie Reich sie konstruiert, folgen drei weitere Kapitel, die sich mit klassischen didaktischen Themen auseinandersetzen:

Kapitel fünf widmet sich den Methoden. Hier werden vier Formate herausgehoben, die Reich folgend für inklusiven Unterricht besonders geeignet sind: Instruktionen, Projektarbeit, Lernlandschaften und Werkstätten. Am Ende des Kapitels findet sich ein Link zu einem Methodenpool, der dieses Kapitel umfassend ergänzt. Adäquat zu den vorgeschlagenen Methoden skizziert der Autor im sechsten Kapitel, wie die Planung der einzelnen Formate aussehen kann. Insbesondere die Vorschläge zur Planung instruktiver Phasen sind stark an Reichs Publikationen zur Konstruktivistischen Didaktik angelehnt, wie er selbst formuliert. Im Kapitel sieben werden allgemeine Qualitätsmerkmale guten Unterrichts kritisch im Hinblick auf ihre Anwendbarkeit im inklusiven System reflektiert und durch Ausführungen zu bspw. multiprofessionalen Teams, Beziehungsarbeit oder Partizipation ergänzt. Im abschließenden achten Kapitel wird nach möglichen Grenzen von Inklusion gefragt. Dabei wird auf die Langfristigkeit des Prozesses verwiesen und es werden verschiedene Misslingens- und Gelingens-Szenarien entworfen.

Reich liefert mit seinem Buch einen hilfreichen Überblick über notwendige Bausteine für die Entwicklung einer inklusiven Schule. Damit trifft er auch Aussagen zu einer inklusiven Didaktik im weiteren Sinne. Die im Titel angekündigten Ausführungen zur inklusiven Didaktik im engeren Sinne kommen dabei aber etwas zu kurz, da insbesondere Fragen zum Unterrichtsinhalt offen gelassen werden (z. B.: Braucht es einen gemeinsamen Inhalt? Welche Beziehung besteht zwischen Inhalt und Individuum bzw. zwischen Inhalt und Lerngruppe? u. v. m.).

Das ist typisch für die vorhandenen Lücken im gesamten inklusionspädagogischen Diskurs. Hier existieren bis dato kaum didaktische Konzepte. Ausnahmen stellen die entwicklungslogische Didaktik von Feuser [1] sowie die Weiterentwicklung dieses Ansatzes hin zu einer Inklusiven Didaktik von Seitz [2] dar.

Eine explizite Verknüpfung dieser Veröffentlichungen wird zwar von Reich nicht vorgenommen, jedoch sind zahlreiche Zusammenhänge zwischen seinen Bausteinen (bspw. Teamteaching, Beziehungsdidaktik oder Leistungsbewertung) mit diesen und weiteren Konzepten erkennbar. Auch wenn die Kapitel zur Unterrichtsplanung und Methodik einen wesentlichen Beitrag zur Konkretisierung einer inklusiven Didaktik beitragen, hätte die Auseinandersetzung mit dem „Gemeinsamen Gegenstand“ nach Feuser bzw. mit dem „Kern der Sache“ nach Seitz die Publikation durchaus noch bereichert.

Hervorzuheben ist die konsequente Beachtung verschiedener Differenz-Aspekte wie Gender, Migration oder sozio-ökonomische Risikolagen im Gegensatz zur im deutschen Diskurs überwiegenden Fokussierung auf Menschen mit sogenannter Behinderung bzw. sonderpädagogischem Förderbedarf. Gelungen (und selten) ist auch die Einbindung der Ausführungen in den internationalen Diskurs. Hilfreich sind weiterhin die zahlreichen Tabellen und Übersichten zu den einzelnen Themen des Buches.

Fazit: Das Buch von Reich eignet sich gut für Lehrkräfte und vor allem Schulleiter und Schulleiterinnen, die sich in Richtung Inklusion weiterentwickeln wollen. Hierfür gibt es Fragen zur Reflexion der eigenen Haltung und praktische Hinweise zur Umsetzung. Die Unterüberschrift „Bausteine für eine inklusive Schule“ trifft eher den Inhalt des Buches. Es handelt sich um eine ausführliche Auseinandersetzung mit inklusiver Pädagogik mit Fokus auf Schulentwicklung.

[1] Feuser, G.: Behinderte Kinder und Jugendliche – zwischen Integration und Aussonderung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1995.
[2] Seitz, S.: Zeit für inklusiven Sachunterricht. Baltmannsweiler: Schneider 2005.
Katja Scheidt (Bremen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Katja Scheidt: Rezension von: Reich, Kersten: Inklusive Didaktik, Bausteine für eine inklusive Schule Reihe: Inklusive Pädagogik. Weinheim / Basel: Beltz 2014. In: EWR 14 (2015), Nr. 1 (Veröffentlicht am 06.02.2015), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978340725710.html