EWR 14 (2015), Nr. 2 (MĂ€rz/April)

Michael Maurer
Johann Gottfried Herder
Leben und Werk
Köln / Weimar / Wien: Böhlau Verlag 2014
(195 S.; ISBN 978-3-4122-2344-1; 19,90 EUR)
Johann Gottfried Herder Johann Gottfried Herder, neben Goethe, Schiller und Wieland einer der wichtigsten ReprĂ€sentanten des klassischen Weimar, galt einmal mit großer SelbstverstĂ€ndlichkeit auch als „Klassiker der PĂ€dagogik“, wie ein ihm gewidmeter Eintrag in einer frĂŒheren Ausgabe eines gleichnamigen und vielgelesenen bildungshistorischen Handbuchs unschwer erkennen lĂ€sst [1]. Sehr gerechtfertigt schien ein solches Urteil zu sein, war Herder doch seit den 1760er Jahren einer der fĂŒhrenden Erziehungsschriftsteller Deutschlands, der sich zeit seines Lebens auf originelle und höchst wirkungsvolle Weise mit Fragen der Bildung und der ihr zugrunde liegenden humanitĂ€ren Philosophie befasste. Zudem brachte er erst als Konsistorialrat in Schaumburg-Lippe, dann als Generalsuperintendent in Sachsen-Weimar-Eisenach – also in zwei der AufklĂ€rung sehr weitgehend zugetanen deutschen Staaten – grundlegende Schulreformen auf den Weg. Heute jedoch wird Herders ĂŒberragende Bedeutung auf dem Gebiet der Bildungsgeschichte offenkundig nicht mehr in gleicher Weise anerkannt, was sich unter anderem daran ablesen lĂ€sst, dass Heinz-Elmar Tenorth in der unlĂ€ngst von ihm besorgten Ausgabe des hierzulande wohl populĂ€rsten bildungshistorischen Nachschlagewerks einen eigenstĂ€ndigen Herder-Beitrag fĂŒr verzichtbar hielt [2].

Die jetzt von dem Jenaer Kulturhistoriker Michael Maurer verfasste schmale, aber ĂŒberaus inhaltsreiche Biographie Herders, die auch dessen umfangreiches Werk – und in hervorstechender Weise gerade auch seine bildungsphilosophischen Schriften – wĂŒrdigt und so knapp wie prĂ€zise interpretiert, lĂ€dt dazu ein, Herder wiederzuentdecken und die verblassende Erinnerung an ihn und jene faszinierenden ideen- und kulturgeschichtlichen Kontexte der AufklĂ€rung, der Romantik und der Klassik, in denen er tĂ€tig war, nachhaltig aufzufrischen. Maurer, der leicht, elegant und deshalb immer gut lesbar schreibt, dabei auch trotz seiner unverhohlen vorgetragenen Bewunderung fĂŒr den Gegenstand seiner Arbeit jedes falsche Pathos vermeidet, scheut sich am Anfang seines Bandes dennoch nicht, in einem ausnahmsweise Ă€ußerst ausdrucksstarken Satz darauf zu verweisen, warum man sich seiner Ansicht nach wieder und wieder mit Herder befassten sollte: „Johann Gottfried Herder (1744–1803) war einer der grĂ¶ĂŸten Denker und bedeutendsten Menschen, die je in Deutschland gelebt haben“ (7).

Maurer ist gegenwĂ€rtig einer der kenntnisreichsten und begabtesten Vermittler einer modernen Kulturgeschichte [3], wobei ihn besonders das Zeitalter der AufklĂ€rung interessiert, weshalb er auch wiederholt Herders Leistung als BegrĂŒnder einer historisch arbeitenden Kulturwissenschaft im 18. Jahrhundert herausstellt. Herder ist gewissermaßen Ahnherr und somit natĂŒrlicher Bezugspunkt des von Maurer vertretenen akademischen Lehrfachs. Doch gerade weil dies so ist, unterstreicht Maurer in seiner Darstellung bestĂ€ndig, das Herder in diesem Zusammenhang Entscheidendes fĂŒr das VerstĂ€ndnis eines Bildungsbegriffs getan hat, der sich durch eine ausgeprĂ€gte BeschĂ€ftigung mit der Geschichte der Menschheit und den in ihr sichtbar werdenden historischen Formationsprozessen – sowohl des Intellekts als auch des GefĂŒhlslebens – von Individuen und Völkern auszeichnet.

Außerordentlich geschickt verbindet Maurer in seinem Band die ErzĂ€hlung von Herders Lebensgeschichte mit der Deutung seiner wichtigsten Schriften, so dass sich dessen erstaunliche Biographie als Fallbeispiel einer aufregenden individuellen Bildungsgeschichte liest – als lebenslanger Bildungsprozess eines lernbegierigen Menschen, der in der Mitte des 18. Jahrhunderts an einem entlegenen Ort an der europĂ€ischen Peripherie aufwĂ€chst, dem kleinen ostpreußischen HandelsstĂ€dtchen Mohrungen (heute Morąg, zu Polen gehörig), das er dann als Heranwachsender verlĂ€sst, weil er die Welt kennenlernen möchte. TatsĂ€chlich wird er ausfĂŒhrlich Frankreich und Italien bereisen und dort mit den fĂŒhrenden Köpfen seiner Zeit in Verbindung treten, bis sich sein Lebenskreis zu Beginn des 19. Jahrhunderts schließt – in Weimar, einem ganz eigentĂŒmlichen Mittelding zwischen einer inspirierenden FĂŒrstenresidenz von europĂ€ischem Rang und einer mitunter doch auch recht krĂ€hwinkligen Kleinstadt.

Immer wieder verweist Maurer darauf, wie sehr Herder von der Überzeugung getragen wurde, dass Bildung sich nicht in erster Linie dem einsamen Selbststudium oder weiten Reisen verdankt – auch wenn derartige Bildungselemente den persönlichen Werdegang gewiss bereichern –, sondern, dass eine gute, solide und verstĂ€ndnisreiche Bildung letztlich eben doch ganz wesentlich von einer schulischen oder universitĂ€ren Grundlegung abhĂ€ngt, also einer frĂŒhen und gelungenen pĂ€dagogischen Vermittlung bedarf. Von Anfang an war Herder denn auch – um es mit einem etwas altertĂŒmlichen aber treffenden Begriff des Zeitalters der AufklĂ€rung auszudrĂŒcken – ein Schulmann. In Ostpreußen wuchs er als Sohn eines MĂ€dchenschulmeisters auf und wurde deshalb gleichsam „in der Schulstube groß“ (20). Als er zum Studium nach Königsberg ging, wohnte er in einer Lehranstalt, dem Collegium Fridericianum, wo er Unterricht erteilen musste, um dort frei wohnen zu dĂŒrfen. Im Studium hörte er mit Begeisterung Immanuel Kant, von dem er lernte, dass ein UniversitĂ€tsprofessor vor allem ein guter Lehrer zu sein hatte, der durch Scherz und Witz und Laune ĂŒberzeugen musste (26). Schließlich wurde Herder im Jahr nach dem Abgang von der UniversitĂ€t selbst ein Lehrer, an der Rigaer Domschule, und ĂŒbernahm somit ein Amt, das viele seiner Kommilitonen nur ĂŒbergangsweise und notgedrungen ausĂŒben wollten. Herder hingegen war, wie Maurer betont, sofort „ein begeisterter PĂ€dagoge, theoretisch und praktisch“ (8).

Aber auch Herder benötigte hin und wieder eine Auszeit von der Schule, um seine Gedanken neu zu ordnen und seine Ideen weiterzuentwickeln, so auf einer großen Seereise, die ihn im Jahr 1769 nach Nantes fĂŒhrte, von wo aus er ĂŒber Land nach Paris fuhr. Doch selbst in dieser Zeit fĂŒhrte er ein Reisejournal, in dem er von einer Reform des Unterrichts schwĂ€rmte, die er nach den Prinzipien der gerade erst entwickelten philanthropischen PĂ€dagogik durchfĂŒhren wollte (41f). Den Urheber dieser neuen Erziehungslehre, Johann Bernhard Basedow, traf Herder nach seiner RĂŒckkehr nach Deutschland noch im selben Jahr in Hamburg. Nach einer Zwischenstation in Straßburg, wo er ein Augenleiden zu kurieren suchte, das ihn ein Leben lang peinigte – und wo er Goethe traf, mit dem ihn hernach eine lange Freundschaft verband –, fand Herder 1771 eine neue und ehrenvolle Anstellung in BĂŒckeburg, der Residenzstadt von Schaumburg-Lippe. Hier erhielt er das höchste Amt, das dieses kleine LĂ€ndchen zu vergeben hatte: Er wurde Hofprediger, widmete sich aber zugleich als Schulrat auch den kleinsten Dorfschulen und den dort abgehaltenen Schulexamina mit großem Interesse fĂŒrs Detail. Dabei vergaß er das Denken in großen Linien nicht. So entstand in BĂŒckeburg mit der Schrift ‚Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit‘ im Jahr 1774 sein erstes grĂ¶ĂŸeres Werk, das ihn als Schriftsteller berĂŒhmt machte. Wie Maurer unterstreicht, entwickelte Herder darin die Vorstellung von der Menschheitsgeschichte als einer Bildungsgeschichte, als Weg hin zu einer „Selbsterkenntnis des menschlichen Geschlechts“ (74). Auf diesem Wege schreitend, könne sich der Mensch immer nur in der Generationenfolge begreifen, um sich darin ganz wesentlich als zugleich „Lernender und Lehrender zu definieren“ (68). Bildung ist nach Herder also vornehmlich die pĂ€dagogische Vermittlung und Aneignung von guter Tradition.

Solche Traditionen können nun vorzĂŒglich der Geschichte des eigenen Volkes – in seiner IndividualitĂ€t, Besonderheit und Einmaligkeit – entlehnt sein, doch sind bildungswillige Menschen durchaus auch dazu aufgerufen, sich fremder oder universal gĂŒltiger Traditionen und Prinzipien zu bedienen, falls sich ihr Leben dadurch spĂŒrbar bereichern oder verbessern lĂ€sst – und zwar im Sinne eines aufgeklĂ€rten und wahrhaft menschlichen Daseins im Geiste der HumanitĂ€t. Überlegungen wie diesen ging Herder nach seiner 1776 durch Goethe und Wieland veranlassten Berufung nach Weimar nach, um sie dort vor allem in seiner zwischen 1784 und 1791 in vier Teilen gedruckten Schrift ‚Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit‘ und in seinen zwischen 1793 und 1797 unter dem Eindruck der Französischen Revolution verfassten ‚Briefen zur Beförderung der HumanitĂ€t‘ zu veröffentlichen. In den Worten von Maurer arbeitete Herder in Weimar pointiert heraus, dass der Mensch sich niemals wĂŒrde eigenmĂ€chtig selbst formen können, sondern nur „durch die Übernahme vorgefertigter Kulturelemente von außen“ (130). In Herders eigener Diktion klingt dies 1791 so: „Wir glauben allein zu sein und sinds nie: wir sind mit uns selbst nicht allein; die Geister andrer, abgelebter Schatten, alter DĂ€monen, oder unsrer Erzieher, Freunde, Feinde, Bildner, Mißbildner, und tausend zudringender Gesellen wirken in uns. Wir können nicht umhin, ihrer Gesichte zu sehn, ihre Stimmen zu hören; selbst die KrĂ€mpfe ihrer Mißgestalten gehen in uns ĂŒber“ [4]. Der Heranwachsende setzt sich demnach immer zu einer vorgefundenen Kultur in Beziehung, und dies kann sowohl die eigene Familie sein, die Gruppe, das Dorf, der Stamm, aber eben auch die verschiedenen Völker und letztlich die grĂ¶ĂŸte denkbare Einheit, die Menschheit. So kann und soll sich der Mensch nach Herder immer zugleich national, multikulturell und universal-menschheitlich bilden – ein höchst anspruchsvoller und moderner Gedanke, der vor Herder wohl kaum jemals so prĂ€zise von einem anderen Denker formuliert wurde und der im Grunde schon das Humboldtsche Bildungsideal einer sehr viel spĂ€teren Zeit vorwegnimmt.

Auch in Weimar, wo er das Amt des Generalsuperintendenten bekleidete, verlor Herder trotz aller weitschweifenden Ideen niemals die Bodenhaftung, versuchte seine Gedanken zur kulturellen Bildung und Traditionspflege immer auch in der Schule zu vermitteln, selbst auf dem elementarsten Niveau – und natĂŒrlich als Prediger in der Kirche. Maurer fasst Herders alltĂ€gliche BemĂŒhungen als PĂ€dagoge in Weimar trefflich zusammen: Er versah dort „ein Amt mit fordernden Pflichten“, das „hĂ€ufige Predigten und geistliche Amtsverrichtungen“ beinhaltete, „Sitzungen im Konsistorium, Kandidaten- und Lehrerexamina, die Inspektion des weimarischen Gymnasiums und der Geistlichen und Schullehrer sowie die PrĂŒfung der Kirchenrechnungen“ (86). Herder vereinte in diesem Weimarer Alltag bewusst – und auch gerne – den Anspruch eines globalen Denkens und lokalen Handelns und bedauerte nur, dass seine KĂ€rrnerarbeit seitens des Herzogs Carl August und Goethes zuletzt nicht hinreichend anerkannt wurde. Selbst den Adelstitel – der Herder im Jahr 1801, zwei Jahre vor seinem Tod, fĂŒr seine zahlreichen Verdienste verliehen wurde – bekam er nicht vom Herzog von Weimar verliehen, sondern vom KurfĂŒrsten von Bayern.

Der Wunsch nach einer intensiveren, gebĂŒhrenden Anerkennung und WĂŒrdigung der Leistungen Herders ist auch die Motivation, die Maurer beim Verfassen eines schönen und gut komponierten Buches ĂŒber diesen bedeutenden Bildungsphilosophen und Schulmann beseelt hat. Am ehesten wird man daher Maurers Band gerecht, wenn man ihn als Aufforderung versteht – gerade auch an Bildungshistoriker –, Herder als ĂŒberragende Gestalt der deutschen (und europĂ€ischen) Bildungsgeschichte wiederzuentdecken. Zwar sind zuletzt durchaus interessante Studien zu seiner Bildungsphilosophie entstanden, die Maurer auch zitiert [5], doch verdiente Herder es in der Tat, noch sehr viel stĂ€rker untersucht und bedacht zu werden, insbesondere auch als Vordenker der Weimarer und BĂŒckeburger Schulreformen [6].

[1] Cillien, U. (1991): Johann Gottfried Herder (1744–1803). In: Scheuerl, H. (Hg.): Klassiker der PĂ€dagogik, Bd. 1: Von Erasmus von Rotterdam bis Herbert Spencer, 2. Aufl., MĂŒnchen: Beck, 187–197. Herder nimmt hier seinen Platz zwischen Pestalozzi und Humboldt ein. Nach der Ansicht von Cillien bewĂ€hrt sich Herder als PĂ€dagoge insbesondere wegen seines tiefgehenden VerstĂ€ndnisses fĂŒr den Zusammenhang von Bildung und Geschichte.
[2] Tenorth hat sich in der von ihm edierten Neuausgabe der „Klassiker der PĂ€dagogik“ bei der Rekrutierung der besprochenen Personen bewusst gegen die erneute Aufnahme Herders entschieden, obwohl er einrĂ€umt, dass Herder traditionell zu den „Top Ten der PĂ€dagogik“ deutscher Sprache zĂ€hlt. Vgl. Tenorth, H.-E.: Klassiker in der PĂ€dagogik – Gestalt und Funktion einer unentbehrlichen Gattung. In: Ders. (Hg.): Klassiker der PĂ€dagogik, Bd. 1: Von Erasmus bis Helene Lange, 9–20, hier 9.
[3] Vgl. Maurer, M.: Kulturgeschichte. Eine EinfĂŒhrung. Stuttgart: UTB Böhlau 2008.
[4] Herder, J. G.: Über die menschliche Unsterblichkeit [1791]. In: Ders. Werke in zehn BĂ€nden, Frankfurt am Main: Dt. Klassiker-Verlag 1985-2000, Bd. 8, 203.
[5] Welter, N.: Herders Bildungsphilosophie. Sankt Augustin: Gardez 2003; Graff, M.: Bildung durch Sinnlichkeit. „Vom Erkennen und Empfinden“ bei Johann Gottfried Herder, Jena: IKS 2008.
[6] Solche Untersuchungen hĂ€tten anzuknĂŒpfen an: Reichard, S.: BĂŒrgerliches HumanitĂ€tsideal und Schulwirklichkeit. Die pĂ€dagogischen Anschauungen Johann Gottfried Herders und sein Einfluß auf das Schulwesen des Herzogtums Sachsen-Weimar-Eisenach. (unveröffentl.) Diss., Jena: 1989.
JĂŒrgen Overhoff (MĂŒnster)
Zur Zitierweise der Rezension:
JĂŒrgen Overhoff: Rezension von: Maurer, Michael: Johann Gottfried Herder, Leben und Werk. Köln / Weimar / Wien: Böhlau Verlag 2014. In: EWR 14 (2015), Nr. 2 (Veröffentlicht am 08.04.2015), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978341222344.html