EWR 8 (2009), Nr. 3 (Mai/Juni)

Barbara Fornefeld (Hrsg.)
Menschen mit Komplexer Behinderung
SelbstverstÀndnis und Aufgabe der BehindertenpÀdagogik
MĂŒnchen/Basel: Reinhardt 2008
(211 S.; ISBN 978-3-497-01984-7; 24,90 EUR)
Menschen mit Komplexer Behinderung Das groß geschriebene „K“ im Titel dieser Veröffentlichung mag verstören und soll es sicher auch. Aber es ist kein Tippfehler oder Irrtum des Verlags, sondern lenkt die Aufmerksamkeit auf einen Personenkreis, der historisch, fachrichtungsspezifisch und epistemologisch immer wieder aus dem Auge des Betrachters verloren gegangen ist. Die Rede ist von Menschen mit mehrfachen oder schweren BeeintrĂ€chtigungen, Menschen mit geistiger Behinderung und herausforderndem Verhalten, Menschen mit geistiger Behinderung und psychischen Störungen, nicht sprechende Menschen mit geistiger Behinderung bzw. alle Menschen, die traditionell als schwer mehrfach behindert bezeichnet worden sind. Es ist der ausgesprochene Wille der Herausgeberin, diese Menschen aus dem Dunkel der fachspezifischen, sozialen, politischen und ökonomischen Debatte herauszuholen und diesen Personenkreis in einem neuen Begriff zu fassen, den sie mit Menschen mit Komplexer Behinderung umschreibt: Der naheliegenden Schreibweise ‚Menschen mit komplexer Behinderung‘ (also mit kleinem „k“) setzt sie mittels einer anthropologisch-phĂ€nomenologischen Reflexion diejenige mit großem „K“ entgegen, um die „Bezeichnung ‚Menschen mit komplexer Behinderung‘ als unzulĂ€ssige Eigenschaftsbeschreibung [zu] erkennen“ (11) und „die Namensgebung ‚Menschen mit Komplexer Behinderung‘“(ebd.) insofern zu begrĂŒnden, als „nicht die Behinderung komplex ist, sondern die LebensumstĂ€nde der Menschen“ (ebd.). Der Autorin und ihren Mitautorinnen und Mitautoren geht es dabei aber um wesentlich mehr als um abenteuerlich anmutende Wortspiele oder semantische Haarspaltereien. Hier wird der Anspruch formuliert, Problemlagen, Lebensbedingungen und Lebensperspektiven fĂŒr einen Personenkreis, der immer wieder in Gefahr gerĂ€t, in dramatischen Marginalisierungsprozessen unterzugehen, zu beschreiben und Impulse fĂŒr die Disziplin BehindertenpĂ€dagogik zu geben. Dabei ergibt sich folgender Aufbau des Buches:

In einem ersten Kapitel mit dem Titel ‚Verantwortung fĂŒr Menschen mit Behinderung im Wandel der Zeit‘ skizziert die Herausgeberin ein Problemfeld, vor dem ihrer Ansicht nach die Behindertenhilfe in Bezug auf Menschen mit Komplexer Behinderung steht: Sie gibt einen Überblick ĂŒber aktuelle VerĂ€nderungen in der professionellen Behindertenhilfe und warnt vor einer „Zwei-Klassen-Versorgung“ (23), die aus der Tatsache resultiere, dass Menschen mit Komplexer Behinderung von den innovativen AnsĂ€tze in BehindertenpĂ€dagogik, -hilfe und -politik nicht profitieren wĂŒrden. Sie benennt diesbezĂŒglich zukĂŒnftige Aufgaben von PĂ€dagogik und Rehabilitation, was in einem spĂ€teren Kapitel (Kapitel 7) nochmals aufgegriffen wird.

Markus Dederich widmet sich im zweiten Kapitel des Buches der Diskussion um Inklusion bzw. Exklusion unter der Überschrift ‚Der Mensch als Ausgeschlossener‘. Dederich analysiert Auswirkungen des gesellschaftlichen Wandels auf die Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen und beschĂ€ftigt sich eingehend mit Exklusionsgefahren, der Exklusionsdebatte, Exklusionsrisiken explizit bei Menschen mit Komplexer Behinderung und umreißt eine Typologie des Ausschlusses.

Kapitel 3 ĂŒbernimmt wiederum die Herausgeberin und setzt es unter die Überschrift ‚Menschen mit Komplexer Behinderung – KlĂ€rung des Begriffs‘. Es handelt sich hierbei gewissermaßen um das HerzstĂŒck des Buches, wenn Barbara Fornefeld hier in einer ausgewiesen anthropologisch-phĂ€nomenologischen Reflexion die LebensumstĂ€nde von Menschen mit Komplexer Behinderung analysiert und mit dem Schlagwort der „chaotisch-mannigfaltigen Bedeutsamkeit“ (71) zu fassen versucht.
‚Bildung als Antwort auf die Not und Nötigung, sein Leben zu fĂŒhren‘ nennt Ursula Stinkes das Kapitel 4, in dem sie sich dem BildungsverstĂ€ndnis innerhalb der GeistigbehindertenpĂ€dagogik annimmt, es kritisiert, um einen leiblich-phĂ€nomenologischen Aspekt erweitert und Bildung als responsive, menschliche Notwendigkeit umschreibt. Mit ihrer Forderung nach „bildenden VerhĂ€ltnissen“ (102) legt sie ein BildungsverstĂ€ndnis vor, das pĂ€dagogische Prozesse immer als Prozesse mit responsiver Struktur denkt, da in ihrem SubjektverstĂ€ndnis das Subjekt immer ein „relationales“ (102) ist. Ein solcherart erweitertes und begrĂŒndetes BildungsverstĂ€ndnis vermag somit auch Menschen mit Komplexer Behinderung einzubeziehen.

In Kapitel 5 vertieft Barbara Fornefeld ihre im Eingangskapitel angesprochene Kritik an den aktuellen Entwicklungen in der BehindertenpĂ€dagogik, -hilfe und -politik, indem sie die provokante Überschrift ‚PĂ€dagogische Leitgedanken als Ausschluss-Prinzipien?‘ wĂ€hlt. Sie deckt ihrer Meinung nach vorherrschende „Doppeldeutigkeiten“ (110) der Begriffspaare Integration/Inklusion bzw. Selbstbestimmung/Autonomie in Bezug auf die Lebenssituation von Menschen mit Komplexer Behinderung auf. Diese Doppeldeutigkeiten bestehen nach Ansicht Fornefelds darin, dass diese prinzipiell begrĂŒĂŸenswerten Entwicklungen und Konzepte nicht in der Lage seien, die Lebenssituationen und LebensumstĂ€nde von Menschen mit Komplexer Behinderung mitzudenken. Daher ihr PlĂ€doyer fĂŒr das „Prinzip Anerkennung“ (128ff.), das sie in Anlehnung an Nancy Fraser und Axel Honneth herausarbeitet.

In Kapitel 6 legt dann Martin W. Schnell den Fokus auf die ethische Dimension und benennt sein Kapitel ‚Der bedĂŒrftige Mensch – Eine ethische Grundlegung‘. Hier setzt er ein BehinderungsverstĂ€ndnis vom Krankheitsbegriff ab und betont unter RĂŒckgriff auf das Konzept der Basalen Stimulation den Aspekt der BedĂŒrftigkeit, insbesondere in Bezug auf den im Buch im Mittelpunkt stehenden Personenkreis der Menschen mit Komplexer Behinderung.

Die Herausgeberin gibt in Kapitel 7 ‚Aufgabe der BehindertenpĂ€dagogik‘ der Fachdisziplin einige Hausaufgaben mit auf den Weg, will die Disziplin den Personenkreis der Menschen mit Komplexer Behinderung wieder stĂ€rker in den Mittelpunkt der Fachdiskussion rĂŒcken. Sie macht dies unter Heranziehung eines nicht ganz unumstrittenen theoretischen Ansatzes, dem sog. ‚Capability Approach‘ nach Martha Nussbaum. Barabara Fornefeld stellt sich der Herausforderung dieses Ansatzes, indem sie ihn kritisch reflektiert und die so genannte Liste der GrundfĂ€higkeiten von Nussbaum um einen Aspekt erweitert, nĂ€mlich „die FĂ€higkeit, sich aus responsivem Bezug mit Anderen und zu anderem zu bilden.“ (179)

Das Schlusskapitel bleibt einer rechtlichen Sicht auf den Gegenstandsbereich vorbehalten, indem GĂŒnter Dörr in Kapitel 8 unter der ebenfalls provokanten Überschrift ‚“Jedem das Seine“ – die Bedeutung von Recht und Gerechtigkeit fĂŒr Menschen mit Komplexer Behinderung‘ den Zusammenhang von Gerechtigkeit, MenschenwĂŒrde und Menschenrechten in Bezug auf den Personenkreis der Menschen mit Komplexer Behinderung skizziert.

Insgesamt gesehen liegt mit dieser Veröffentlichung ein in vielerlei Hinsicht interessanter Reader vor: Das Buch ist provokant, spitzt zu, riskiert Einseitigkeiten (etwa in einer streng phĂ€nomenologischen Herangehensweise an das Thema – die sich nicht jeder Leserin und jedem Leser ohne Vorwissen gleichermaßen erschließen mag) und ist vor allem eines: Es kommt zur rechten Zeit! Denn der ‚Mythos vom harten Kern‘ (Toresini) lebt weiter und der im Buch im Mittelpunkt stehende Personenkreis wird weiterhin nicht beachtet, negiert oder schlicht im Dunkeln gelassen, gĂ€be es nicht mutige Versuche, diesen Personenkreis mehr in den Vordergrund zu rĂŒcken und vor allem die LebensumstĂ€nde dieser Personengruppe zu verbessern.

Insofern verlangt das Buch von seinen Leserinnen und Lesern die Bereitschaft, sich auf komplexe GedankengĂ€nge und theoretische Exkurse einzulassen, was aber dadurch erleichtert wird, dass es im Verlauf immer wieder Zusammenfassungen gibt, die vom Text abgehoben sind und etwa durch das Symbol des aufgeschlagenen Buches Hintergrundinformationen zu dem jeweils diskutierten Punkt liefern. Andere Symbole sind etwa das Ausrufezeichen, das so etwas wie MerksĂ€tze ankĂŒndigt oder das Dreieck, das konkrete Beispiele aus der Lebenswelt von Menschen mit Komplexer Behinderung begleitet. So sind es auch immer wieder diese beispielhaften Lebensskizzen, die die oft schwierigen GedankengĂ€nge der Autorinnen und Autoren illustrieren und zu einem besseren VerstĂ€ndnis beitragen. Leider gelingt diese didaktische StĂŒtze nicht in jedem Beitrag und lĂ€sst erkennen, dass Herausgeberin oder Verlag dies nicht durchgĂ€ngig zum Ziel hatten.
Zu den erwĂ€hnten Zuspitzungen und Provokationen des Buches ließe sich anmerken, dass Barbara Fornefeld wie beschrieben zwar ein zentrales Problemfeld der gegenwĂ€rtigen Debatte um Inklusion und Selbstbestimmung in der BehindertenpĂ€dagogik anspricht, aber hin und wieder dazu neigt, ihre Sorge zu ĂŒberspitzen, etwa in der Warnung einer „Zwei-Klassen-Versorgung“ in der Behindertenhilfe, die dann auch noch mit einem Schaubild (22), das u.U. von Studierenden auswendig gelernt und unreflektiert ĂŒbernommen werden könnte, illustriert wird. Hier wĂ€re ein Fragezeichen oder der Konjunktiv besser angebracht, zumal das weite Feld der behindertenpĂ€dagogischen Praxis auch eine Vielzahl an positiven Entwicklungen, auch in Bezug auf Menschen mit Komplexer Behinderung, zu bieten hat. Daher erschleicht sich an einigen Stellen des Buches der Gedanke, ob es im Rheinland, in dessen behindertenpĂ€dagogischer und behindertenpolitischer Umgebung das Buch entstanden ist, derzeit auf der Handlungsebene und im Zuge eines vom ĂŒberörtlichen TrĂ€ger der Sozialhilfe stark forcierten Prozesses der Ambulantisierung nicht zu einer Zuspitzung der im Buch analysierten Problematik kommt, die andernorts evtl. ganz anders wahrgenommen wird. Dies wĂ€re zu ĂŒberprĂŒfen.
Ebenso zu ĂŒberprĂŒfen wĂ€re die „Durchschlagskraft“ des neu geprĂ€gten Begriffes der Menschen mit Komplexer Behinderung. In der anthropologisch-phĂ€nomenologischen Reflexion von Barbara Fornefeld ist diese Begriffsfindung durchaus logisch und nachvollziehbar – ob sich dieser Begriff aber in der (internationalen) Fachdiskussion und Praxis durchsetzen kann, mag bezweifelt werden, da das dahinter stehende GedankengebĂ€ude in seiner KomplexitĂ€t nicht in zwei SĂ€tzen zu erklĂ€ren ist und die ohnehin schon unĂŒbersichtliche Begriffslandschaft in der BehindertenpĂ€dagogik nicht ĂŒbersichtlicher erscheinen lĂ€sst.

DarĂŒber hinaus muss angemerkt sein, dass der im Buch immer wieder auftauchende Ruf nach InterdisziplinaritĂ€t im Buch selbst kaum eingelöst wird und die Tatsache, dass beispielsweise mit der Theorie der Materialistischen BehindertenpĂ€dagogik oder der entwicklungslogischen Didaktik nach Feuser schon lange Ă€hnlich motivierte Konzeptionen in Bezug auf Menschen mit sehr hohen Hilfebedarfen vorliegen, greift die Veröffentlichung leider gar nicht auf.

FĂŒr eine zweite Auflage wĂ€re ein kritisches Lektorat wĂŒnschenswert, um Fehler im Inhaltsverzeichnis (Kapitel 1: „im Wandel der Zeit“! oder Kapitel 6 aus Herrn „Schell“ wieder einen Herrn Schnell zu machen!) und hin und wieder auch im Text zu korrigieren.

Neben all diesen kritischen EinwĂ€nden bleibt aber festzuhalten, dass mit dieser Veröffentlichung ein Ă€ußerst wichtiges und lesenswertes Buch vorliegt, dem man nur eine sehr breite Verwendung und Rezeption wĂŒnschen kann und das auf lĂ€ngere Sicht vielleicht einen Neubeginn des Einlassens auf und Diskutierens ĂŒber die Lebenssituation von Menschen mit sehr hohen Hilfebedarfen markiert – ob mit großem „K“ oder nicht.
Erik Weber (Landau)
Zur Zitierweise der Rezension:
Erik Weber: Rezension von: Fornefeld, Barbara (Hg.): Menschen mit Komplexer Behinderung, SelbstverstĂ€ndnis und Aufgabe der BehindertenpĂ€dagogik. MĂŒnchen/Basel: Reinhardt 2008. In: EWR 8 (2009), Nr. 3 (Veröffentlicht am 05.06.2009), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978349701984.html