EWR 7 (2008), Nr. 6 (November/Dezember)

Michael Wimmer / Roland Reichenbach / Ludwig Pongratz (Hrsg.)
Gerechtigkeit und Bildung
Paderborn: Schöningh 2007
(202 S.; ISBN 978-3-506-76446-1; 24,90 EUR)
Gerechtigkeit und Bildung „Bildung und Gerechtigkeit“ – ein zentrales Thema in der gegenwärtigen Diskussion, in der es um sozial reproduzierte Ungleichheiten im Bildungssystem oder die Frage geht, auf welche Weise „Bildung“ dem Anspruch demokratischer Gesellschaften gerecht werden kann. Die Kommission „Bildungs- und Erziehungsphilosophie“ der DGfE publiziert vorliegend einen Tagungsband, der es sich zur Aufgabe macht, dieses Thema aus einer begrifflich-systematischen Perspektive zu beleuchten. Wichtiger Einsatzpunkt dabei ist die Überschreitung der oberflächlichen Rhetorik der Wechselseitigkeit: Bildung als Bedingung von Gerechtigkeit; Gerechtigkeit als Bedingung von Bildung. Über ein wechselseitiges Bestimmungsverhältnis hinaus muss nach den Justierungen von Bildung und Gerechtigkeit gefragt werden und damit danach, wo eine Bestimmung der Transformation von Selbst- und Weltverhältnissen bezogen auf die Heterogenität von Ordnungen und Teilungen an seine Grenzen stößt.

Eine Erschließung der kategorialen Struktur von Bildung und Gerechtigkeit streben Richard Kubac und Elisabeth Sattler an, wenn sie von Bildung und Gerechtigkeit als systematischen „Leerstellen“ sprechen. Unter Rückbezug auf die „Wege der Anerkennung“ Paul Ricœurs analysieren Kubac/Sattler einen Überschuss, der an gegenwärtigen bildungstheoretischen Vergewisserungen aufgezeigt wird: am pluralisierenden Widerstreit-Theorem der bildungsphilosophischen Überlegungen Hans-Christoph Kollers, am problematisierenden Vernunftgebrauch nach Jörg Ruhloff, der auf die Lücken im geschichtlich Gegebenen gerichtet ist, und schließlich an der dekonstruktiven Perspektive Michael Wimmers auf den Bildungsbegriff, die der Singularität und Alterität eine konstitutive Bedeutung einräumt. Der Autor und die Autorin arbeiten überzeugend die (je verschiedene) systematisch-kategoriale Öffnung dieser Ansätze als praktische Geste der Gerechtigkeit heraus (und werten diese im Hinblick auf eine Überschreitung der Gegenüberstellung von Deskription und Präskription aus). Der Einsatz der Gerechtigkeit bestehe in der Forderung nach Idiomatisierung des Widerstreitenden, im Einsetzen für das allem Wissen eingeschriebene Nicht-Wissen und schließlich als Unmöglichkeit verfügbarer Bildung (118).

Der kurze Beitrag Jörg Ruhloffs fügt sich in die Systematik Kubacs/Sattlers ein, da hier das skeptische Hinterfragen von Wahrheitsbehauptungen als Ausgangspunkt für die Frage nach der Gerechtigkeit verstanden wird. Mit der These, dass die Skepsis eine Enthaltung gegenüber der Auseinandersetzung um Rechtmäßigkeits- und Verteilungsfragen darstelle, gehen dann jedoch die Systematisierungen des Ortes der Gerechtigkeit in den beiden Beiträgen auseinander. Werden hier Ansprüche und Forderungen gesellschaftlicher Praxis zum Gegenstand von Auseinandersetzungen, zu denen der Skeptiker in eine Position der Enthaltung einrückt, steht bei Kubac/Sattler der bildungstheoretische Skeptiker schon unter der Forderung der Gerechtigkeit, die darin besteht anzuerkennen, dass das dem Wissen einwohnende Nicht-Wissen nicht abgespalten werden kann. Aus der Perspektive des Skeptikers nach Kubac/Sattler – so wäre zu ergänzen – entzieht sich der erstgenannte Skeptiker insofern dem Problem der Gerechtigkeit als dieser annimmt, sich in der Enthaltung souverän zu Ansprüchen der Gerechtigkeit positionieren zu können und damit die Verwobenheit von Wissen und Nicht-Wissen für sich sortieren zu können.

In seinem Beitrag sucht Timo Hoyer Perspektiven einer „Bildung zur Gerechtigkeit“ als personaler Kategorie durch eine motivgeschichtliche Rekonstruktion zu entwickeln. Da sich die Betrachtung jedoch auf grobe holzschnittartige Figurationen beschränkt (die ganze abendländische Tradition will in diesem Beitrag betrachtet werden), kann eine kategoriale Verknüpfung mit dem Bildungsbegriff nicht gelingen bzw. erfolgen. Auf welcher Grundlage die Rekonstruktion dann ihr positives Ende mit Kohlberg finden soll, dessen Bemühungen um die just community ohne weitere Reflexion ihrer Grenzen und rationalistischen Verengungen als unverzichtbare Richtlinie moralischer Entwicklung gedeutet werden, bleibt ebenfalls im Dunkeln.

Der Beitrag „Ungerechtigkeit vor des Anderen Angesicht“ von Gabriele Weiß problematisiert eben diese (von Hoyer affirmierte) positive Korrelation von Bildung und Gerechtigkeit über den Maßstab der Rationalität. Die Argumentation verläuft im Sinne einer mehrfachen Verschiebung. Zunächst nimmt Weiß die These Fritz Osers auf, dass der Anfang der Moral in der Erfahrung von Ungerechtigkeit liege. Die in Osers Position implizierte Annahme, dass eine Erfahrung von Ungerechtigkeit zu einem Wissen des Gerechten führe, hinterfragt Weiß jedoch mit Verweis auf die Schwierigkeit, aus der Negativität einer moralischen Erfahrung ein „Schutzwissen“ aufzubauen, „das vor Regelübertretung zukünftig schützt“ (95). Bezug nehmend auf Judith Shklars Studien zur Ungerechtigkeit wird dann der Interpretation der negativen Erfahrung als eines moralischen Gefühls gefolgt, um auch hier die problematischen Prämissen aufzuzeigen: die Engführung einer Rousseau-Interpretation, die meint einen „Sinn für Ungerechtigkeit“ allein auf der Selbstevidenz und Natürlichkeit eines Gefühls gründen zu können. Im abschließenden Abschnitt dieses konzise entwickelten lesenswerten Beitrags wird das kantische Verständnis einer „ästhetischen Urteilskraft“ herangezogen, um die rationale Unterbestimmtheit einerseits und der Bezug auf eine Urteilsdimension andererseits bezogen auf die „Erfahrung von Ungerechtigkeit“ systematisch angemessen zu entfalten.

Krassimir Stojanov kritisiert in seinem Beitrag die starke Orientierung der Bildungsgerechtigkeit in der Post-PISA-Debatte an Modellen gleicher Chancen. Eine begriffstheoretische Rekonstruktion soll das normative Interesse ins Recht setzen, die Bildungsgerechtigkeit als eine Anerkennungsgerechtigkeit zu gründen. Mit breitem Rückbezug auf die angloamerikanische Diskussion um Verteilungsgerechtigkeit (Brighouse), in dem gesellschaftliche Ungleichheiten nur auf der Grundlage von persönlichen Wahlentscheidungen legitimierbar sind und andernfalls einer Umverteilung bedürfen (z.B. bei sozialer Herkunft), kritisiert Stojanov die in Deutschland ventilierte Blindheit gegenüber Ungleichheitseffekten durch Chancengleichheit. Honneths Anerkennungsdenken wird im weiteren Verlauf herangezogen, um wiederum die stark rationalistische und subjektzentrierte Perspektive der Verteilungsgerechtigkeit zu problematisieren. Mit der Anerkennung wird der Fokus auf die „Herbeiführung von einer bestimmten Qualität von Sozialbeziehungen“ (42) gelegt, der gegenüber sich das deutsche Bildungssystem dysfunktional verhalte. Stojanovs analytische Referenzen ermöglichen eine kritische Beurteilung bestehender öffentlicher Thematisierungen von Bildungsgerechtigkeit, ohne dabei allerdings das Verhältnis von gesellschaftspolitischer Dimension und philosophisch-analytischer Rekonstruktion genauer zu bestimmen.

Auch Olaf Sanders sucht in seiner Beschäftigung mit der Ethik Spinozas nach einer Alternative für starre Verteilungslogiken der Bildungsgerechtigkeit. Maßgeblich ist dabei eine „andere Geometrie“ (79), die sich von neueren philosophisch-politischen Ausarbeitungen zu „Mannigfaltigkeit“ und einer geordneten und doch nicht gleichmäßig-metrischen Verteilung von Ansprüchen bzw. Anteilen speist. Leider wird die Referenz auf das Gerechtigkeitsdenken wie auf das Bildungsproblem nicht entfaltet, so dass die LeserIn mit metaphorisch assoziierten Vorstellungen der Verbindung von Gerechtigkeit und Differenz zurückbleibt. Die (durch Deleuze/Guattari und Hardt/Negri vermittelte) Lektüre Spinozas hätte nicht dieser Ausführlichkeit bedurft; die These indessen, dass sich die Zuteilung der Bildung nach den sich jeweils ändernden Möglichkeiten und Bedürfnissen zu richten habe (88), hätte m.E. in ihrer Bedeutung und in ihrem Status der Argumentation einen größeren Raum einnehmen können.

Um eine systematische Betrachtung des Verhältnisses von Pädagogik und Anerkennung bemüht sich Nicole Balzer in ihrem Beitrag „Die doppelte Bedeutung der Anerkennung: Anmerkungen zum Zusammenhang von Anerkennung, Macht und Gerechtigkeit“. Ausgehend von Honneths Verständnis, dass Anerkennung die intersubjektive Voraussetzung einer intakten „Identitätsbildung“ darstelle, wird eine doppelte Linie der Kritik aufgemacht, die ihr Ziel trifft: 1) Der sich auf Honneth berufende pädagogische Mainstream habe die Anerkennungskategorie normativ überschrieben und ihr mit der Erhebung zum pädagogischen Programm (als Allheilmittel gegen alle mögliche Arten der Differenz) die analytische Qualität genommen. 2) Mit seiner Orientierung an Intersubjektivität als uneindeutige und transparente Wechselbeziehung habe Axel Honneth die Möglichkeit verspielt, Differenz und Alterität in Anerkennungsverhältnissen in ihrer subjektkonstitutiven Bedeutung zu thematisieren. Diesen Weg schlägt die Autorin in hoher Differenziertheit mit Bourdieu und Butler ein, wobei das Subjekt zwischen Unterwerfung und Widerstand verortet wird. Im Schlussteil wirft Balzer mit dem Phänomen des „Witnessing“ (K. Oliver) den Blick auf eine „Anerkennung jenseits der Anerkennung“, wobei die Frage, inwieweit eine solche ethische Figur (wieder) eine problematische Moralisierung der Anerkennung im pädagogischen Feld bedingen könnte, nicht mehr thematisiert wird.

Carsten Bünger diskutiert in seinem Beitrag die Möglichkeiten und Grenzen politischer Bildung. Zunächst werden gegenwärtige Verkürzungen und Reduktionen im Diskurs der politischen Bildung, der stark von Formalisierungen einerseits und Machbarkeitsphantasien andererseits geprägt sei, aufgezeigt. Der Einsatz einer Neubestimmung will den „normative[n] Gehalt als legitime Parteilichkeit nicht abstrakt über postulierte Sollvorstellungen, sondern gleichsam von unten [i.O.] und zwar angesichts der spezifischen Politizität konkreter Subjektivität“ entwickeln (161). Darin ist die Forderung impliziert, die gesellschaftliche Vermitteltheit des (politischen) Subjekts zum Thema der politischen Bildung zu machen. Der Beitrag legt daraufhin (mit Referenzen auf Fromm, Boltanski/Chiapello, Alainberg) normative, ökonomische und psychoanalytische Koordinaten gegenwärtiger Subjektivität dar, die zugleich eine (kapitalismus-)kritische Perspektive mitführen. Die im letzten Schritt diskutierten Ansätze einer kritischen Theorie der politischen Bildung setzen dann folgerichtig bei der Überlegung an, wie dilettantische Subjekte ihre Konflikte als politische entschlüsseln können (Reichenbach), wobei die Bedeutung der Macht für das Selbstverständnis der Subjekte nicht übersehen werden darf. Politische Bildung will demnach verstanden werden als eine Arbeit, die beständig gesellschaftliche Verhältnisse der Ungerechtigkeit von unten analysiert.

Zwei weitere Beiträge sind im Band enthalten, deren inhaltliche Ausrichtung zumindest genannt werden soll: Roland Mugerauer diskutiert das Verhältnis von Bildung und Gerechtigkeit, indem er die Wirkungsgeschichte Luthers an dessen reformatorischer Theologie misst. Ziel ist dabei, eine skeptisch-problemerschlossene Bildung als für die heutige Zeit wegweisend (wieder) ins Recht zu setzen. Im Beitrag Steffen Schlüters wird die Relationierung von Bildung und Gerechtigkeit in Entwicklungstheorien der Moral (Kohlberg, Piaget) theoriegeschichtlich auf ihre philosophischen Herkünfte hin betrachtet.

Ein kurzes Fazit: Wie aus den inhaltlichen Rekonstruktionen deutlich werden konnte, besitzt der Großteil der Beiträge dieses Bandes eine herausragende analytische Qualität. Besonders hervorzuheben ist die Leistung der Beiträger, die beiden großformatigen Kategorien von Bildung und Gerechtigkeit zu diskutieren, ohne in eine selbstgenügsame Rhetorik zu verfallen. Des Weiteren ist bemerkenswert, wie fokussiert und bestimmt der Einsatzpunkt der bildungsphilosophischen Reflexionen ist, egal ob es sich dabei um eine machtanalytische Justierung des Anerkennungsdenkens, die Situierung der Erfahrung von Ungerechtigkeit zwischen Urteil und Gefühl oder die epistemische Verflüssigung der Bildungskategorie angesichts der Grenzen der Selbstbestimmung im Wissen bzw. Sprechen handelt. Fast alle Beiträge haben immense pädagogisch praktische, bildungspolitische oder konzeptionelle Konsequenzen. Da die Beiträge diese auf einem systematisch voraussetzungsvollen Niveau ausführen, wird der Band vor allem theoretisch interessierte Leser ansprechen.
Christiane Thompson (Halle)
Zur Zitierweise der Rezension:
Christiane Thompson: Rezension von: Wimmer, Miachel / Reichenbach, Roland / Pongratz, Ludwig (Hg.): Gerechtigkeit und Bildung. Paderborn: Schöningh 2007. In: EWR 7 (2008), Nr. 6 (Veröffentlicht am 05.12.2008), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978350676446.html