EWR 7 (2008), Nr. 5 (September/Oktober)

Alfred Schäfer (Hrsg.)
Kindliche Fremdheit und pädagogische Gerechtigkeit
Paderborn: Schöningh 2007
(255 S.; ISBN 978-3-506-76448-5; 26,90 EUR)
Kindliche Fremdheit und pädagogische Gerechtigkeit „Es sind schwierige Zeiten für die Pädagogik. Der moderne Erziehungsbegriff kämpft mit großen Problemen. Die Fluchtwege sind unsicher.“ - Diese vor 16 Jahren gestellte Diagnose Masscheleins weist auf die Problemlage der modernen Pädagogik hin und scheint 2007 nach wie vor gültig zu sein. Die zweckrationale und romantische Vorstellung der Machbarkeit des Menschen durch Bildung und Erziehung hat sich im Zeitalter der sogenannten Postmoderne als Illusion oder zumindest als prekär erwiesen, weshalb der modernen Pädagogik die neuzeitliche Aufgabe, sich zwischen Allmacht und Ohnmacht neu zu identifizieren und zu orientieren, zugefallen ist. Antworten auf die herausfordernden Fragen, ob und wie sich die Pädagogik, nicht als eine „Glauben-schaft“, sondern als eine „Wissen-schaft“ legitimieren lässt, sind trotz vielfältiger Bemühungen nicht ganz klar und deutlich (vgl. Schäfer, 10f.). Besonders in Konfrontation mit den „Fragen der Repräsentation, der Alterität, der Aporie von Notwendigkeit und Unmöglichkeit im Horizont moralischen Handelns“ (Schäfer, 15), die spätestens seit Rousseau und Kant entweder in Vergessenheit geraten sind oder für unlösbar gehalten wurden, wird die theoretische Herausforderung der modernen Pädagogik unumgänglich. Das bedeutet, dass sie entweder erneut für die Möglichkeit und Notwendigkeit der ich-, subjekt- und erwachsenenzentrierten pädagogischen Konzeptionen plädieren muss oder Unmöglichkeit und Kontingenz als wesentliche Merkmale der pädagogischen Handlung zu akzeptieren hat und vielleicht das Untheoretisierbare zu einer möglichen Theorie entwickeln sollte.

Inmitten dieser schwierigen Lage der modernen Pädagogik hat die Kommission Bildungs- und Erziehungsphilosophie in der DGfE in ihre Schriftenreihe einen Band (2007) zum Titel „Kindliche Fremdheit und Pädagogische Gerechtigkeit“ aufgenommen (hrsg. von Alfred Schäfer), in dem elf Beiträge enthalten sind. Diese sind teilweise als Erweiterung bzw. Vertiefung der Diskussionen der letzten Jahrzehnte gedacht oder auch als Eröffnung neuer Perspektiven zum Thema „Fremdheit, Alterität, Kindheit“ in der Pädagogik zu verstehen. Zur ersteren zählen die kritisch-systematischen Untersuchungen über den Ausgangspunkt der modernen Pädagogik (Alfred Schäfer, Burkhard Liebsch, Dirk Rustemeyer) und die phänomenologisch orientierten Untersuchungen (Burkhard Liebsch, Gerhard Gamm, Michael Wimmer, Jan Masschelein/Maarten Simons, Bernhard Waldenfels); zur letzteren gehören die Beiträge aus der psychoanalytischen Perspektive (Iris Därmann, Peter Widmer) und ein Beitrag aus der gentechnologie-diskursanalytischen Perspektive (Norbert Ricken). Die phänomenologisch orientierten Beiträge beziehen sich u.a. auf Merleau-Ponty, Lévinas und Waldenfels und versuchen, die seit den 1980er Jahren (u.a. durch Wilfried Lippitz und Käte Meyer-Drawe) kontinuierlich, aber „eher randständig geführte Diskussion“ (Schäfer, 15) fortzusetzen und neue Denkweisen über die Legitimationsmöglichkeit des pädagogischen Handelns im Hinblick auf radikale Fremdheit des Kindeswesens zu zeigen. Die Beiträge aus der psychoanalytischen Perspektive rufen die fremde Seite des modernen Subjekts wieder in Erinnerung und der Beitrag aus der gentechnologie-diskursanalytischen Perspektive macht überdies auf die Gefahr der technologischen Mythologisierung des Subjekts im neuzeitlich-pädagogischen Diskurs aufmerksam.

Aufgrund der Vielfältigkeit der Aspekte und des breiten Themenspektrums kann hier auf die einzelnen Diskussionen nicht eingegangen werden. Stattdessen wird im Folgenden die grundlegende Problemstellung, die bei den meisten Beiträgen als roter Faden fungiert, skizziert. Diese figuriert nicht nur den Rahmen, in dem die Diskussionen über die Möglichkeit und Grenze der modernen Pädagogik stattfinden, sondern sie dient auch als Programm für die kritische Diagnose der zeitgenössischen Bildungs- und Erziehungsphilosophie heutzutage.

  1. Die Grenze des Wissens über die Anderen und Kritik an der pädagogischen Intentionalität: Es ist kein Zufall, dass man bei Rousseau den kritischen Ausgangspunkt für die pädagogische Überlegung der Alterität sucht. Man sieht bei Rousseau einen Menschen, der selber ein vollkommenes Naturwesen ist und trotzdem durch Bildung und Erziehung zu seiner ursprünglichen Natur zurückgebracht werden muss. Diese naturphilosophische Metaphysik führt zu einem Paradoxon in der Pädagogik, dass man wissen kann, was man eigentlich nie wissen kann, und dass man bilden kann und muss, was man nicht bilden kann und darf. Diesen Versuch einer „totalen Reformierung des Menschen“ Rousseaus beschreibt Liebsch als eine „Erfordernis einer restlosen Denatuierung des Selbst“ und kritisiert dies als eine „pädagogische Phantasie“ oder einen hyperpädagogischen Futurismus (Liebsch, 43f.). Solche Kritik ist bei Schäfer noch deutlicher zu sehen; denn er hat den Widerspruch des Naturalisierungsplans Rousseaus schon in seiner früheren Arbeit als „Phantasie einer ursprünglichen Zukunft“ bezeichnet und sie diesmal als „Wirklichkeit im Konjunktiv“ (Schäfer, 207) benannt. Ohne die Voraussetzung der gegenwärtigen und zukünftigen Bestimmbarkeit des Anderen kann die Pädagogik in Wirklichkeit schließlich nichts anderes als eine, so Schäfer, „fiktive Geschichte der Ermöglichung des sozial Unmöglichen“ (Schäfer, 217) sein. Die Betonung des hypothetischen Charakters der pädagogischen Handlung ist auch bei Wimmer („Nicht-wissen-Können um das Wesen des Kindes“; 156f.), bei Gamm („science-based ignorance“; „das weite und offene Meer des Nichtwissens um die Alterität“; 145) und bei Rustemeyer („das Wirkliche als temporäre Variante des Möglichen“; 205) zu sehen. Die „Unmöglichkeit einer ungebrochenen zweckgerichteten Intentionalität“ (Schäfer, 226) scheint aus unterschiedlichen Perspektiven Konsens gefunden zu haben.

  2. Legitimationsfrage der pädagogischen Handlung: Die Akzeptanz der Grenzen des eigenen Wissens und Verstehens über die Anderen verunsichert nicht nur die Möglich- und Notwendigkeit der pädagogischen Handlung und ihre kausale Auswirkung, sondern verursacht auch das pädagogisch-ethische Legitimationsproblem. Wenn man nicht von der „konjunktiven Wirklichkeit“, sondern von dem „indikativen Sachverhalt“ (Schäfer, 225) der Pädagogik ausgeht, dass sich das Ich der kindlichen Fremdheit sowie der Alterität des Anderen nur auf ihren Spuren begegnen kann, gerät die pädagogisch wohlwollende Vertretungsfunktion des Erwachsenen für das Kind, welches dieser häufig als ein Defizitwesen wahrnimmt, und die moralische Aufforderung der pädagogischen Verantwortung in Konfrontation mit der Gerechtigkeit, die Liebsch als „maß-lose und instabile Gerechtigkeit“ (Liebsch, 26) benennt. „Maß-los“ ist jedes Kind aufgrund seiner existentiellen Einzigartigkeit und „instabil“ ist die pädagogische Gerechtigkeit aufgrund des außer-ordentlichen Anspruchs des Fremden. Die radikale Dimensionierung der Alterität des Kindes von einer „vorontologischen ethischen Beziehung“ (Wimmer, 162) sowie „außerhalb der ontologischen Washeit“ (Liebsch, 33), ist in diesem Kontext zu verstehen. Als Folge dessen lässt sich sogar behaupten, dass „Ungewissheit für die Verantwortung konstitutiv ist“ (Gamm, 153). Die anschließende Behauptung („Ohne Ungewissheit keine moralische Verbindlichkeit“) könnte jedoch einen missverständlichen Eindruck erwecken, dass Wissen-können und Nicht-wissen-können, anders als bei den anderen Autoren des Sammelbandes, auf einem Kontinuum thematisiert werden könnten, als ob sich die subjektzentrierte Erkenntnis über die Anderen und Ethik der Verantwortung in einer funktional-kompensatorischen Konstellation befänden. Die radikale Dimensionierung der kindlichen Fremdheit und pädagogischen Gerechtigkeit, die man in den bisherigen Diskussionen in Bezug auf Lévinas, Merleau-Ponty und Waldenfels kennt, kann nicht immer der identischen Ansicht sein.

  3. Der wissenschaftliche Charakter der Pädagogik: Als Folge der oben geschilderten Problemstellungen wird es zum Bedürfnis, den wissenschaftlichen Charakter der Pädagogik zu revidieren bzw. neu zu bestimmen; d.h. dass eine andere Pädagogik, die weder „Gewaltmodell“ (Masschelein 1991) noch „Anti-Pädagogik“ (Liebsch, 31f.; Wimmer, 176) ist, zu konzipieren. Für Wimmer, der sich am intensivsten auf diese Problematik konzentriert, scheint der Ausweg nicht optimistisch zu sein, indem er das pädagogische Geschäft als „eine unmögliche Forderung, die ebenso eine Forderung des Unmöglichen“ (Wimmer, 166) ist, bezeichnet. Während er dieses notwendige, aber unmögliche Geschäft in seiner früheren Arbeit als eine „Wissenschaft des Unmöglichen“ bezeichnet hat, hat er es nun als „eine andere Möglichkeit des Möglichen“ (Wimmer, 182) gefasst. Die Verwandlung in die positive Bezeichnung bedeutet jedoch keine Änderung vorheriger Bestimmungen der Pädagogik, da er immer wieder die Paradoxie von der „theoretischen Unmöglichkeit einer Theorie, die ihr praktisches Gelingen nicht garantieren könnte“ (Wimmer, 180), betont. Dies führt dazu, dass eine Superaufgabe neu aufgetaucht ist, wo die alte Supertheorie verschwunden ist. Die Paradoxie bezüglich der Bestimmung des wissenschaftlichen Charakters der Pädagogik findet man nicht nur bei Wimmer, sondern bei den meisten Autoren dieses Sammelbandes. Formulierungen wie „das pädagogische Geschäft als Ermöglichung des Unmöglichen“ (Schäfer, 8 und 217f.), das „Paradox von Pädagogischer Erkenntnis und Gerechtigkeit dem kindlichen Fremdheit gegenüber“ (Liebsch, 65f.), das „Paradox der Re-Präsentation“ (Därmann, 81), der „Vergleich des Unvergleichbaren“ (Gamm, 152), „die Wirklichkeit des Kindes als eine nie erreichbare Wirklichkeit“ (Rustemeyer, 201), „Nichtssagende Worte, tausendmal gesagte Worte, die trotzdem gesagt werden“ (Masschelein/Simon, 242), weisen darauf hin, welche undurchsichtige Wirklichkeit die moderne Pädagogik zu bekämpfen hat. Die Frage, ob die Beinamen der Pädagogik „Arme Pädagogik“ (Masschelein/Simons, 242) sowie „Pädagogik der Über-Forderung“ (Liebsch, 27) eine Art alternative Theoriemöglichkeit für die neuzeitliche Pädagogik bzw. eine Bestätigung für Aussichtslosigkeit der „armen und über-forderten“ Pädagogik ist, bleibt weiterhin offen, wenn wir die folgende Bemerkung von Masschelein und Simons zur Kenntnis nehmen: „Dies ist keine Blindheit für die Realität, kein Plädoyer für Unverantwortlichkeit, sondern eine Einladung zu einer gleichsam unkomfortablen Verantwortlichkeit, in der wir selber auf dem Spiel stehen“ (Masschelein/Simons, 243).

Grob gesehen stellt man also fest, dass „die Situation unsicherer Auswege der modernen Pädagogik“, die am Eingang genannt wurde, in der Zielbeschreibung des Herausgebers, nämlich der „Suche nach den Entparadoxierungsstrategien“ (Schäfer, 12), den aktuellen Belang gefunden hat. Dies liegt vermutlich an der Tatsache, dass die pädagogische Wirklichkeit von Anfang an in der „Welt des Zwischen“ (Waldenfels, 249f.) situiert ist, die aus ein „anonym-labile(s) Geschehen“ (Waldenfels, ebd.) und somit eine „Anarchie der Ereignisse“ (Liebsch, 35) darstellt.
Jeong-Gil Woo (GieĂźen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Jeong-Gil Woo: Rezension von: Schäfer, Alfred (Hg.): Kindliche Fremdheit und pädagogische Gerechtigkeit. Paderborn: Schöningh 2007. In: EWR 7 (2008), Nr. 5 (Veröffentlicht am 09.10.2008), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978350676448.html