EWR 12 (2013), Nr. 2 (März/April)

Klaus Zierer / Wolf-Thorsten Saalfrank (Hrsg.)
Zeitgemäße Klassiker der Pädagogik
Leben – Werk – Wirken
Paderborn: Schöningh 2010
(281 S.; ISBN 978-3-506-77053-0; 29,90 EUR)
Zeitgemäße Klassiker der Pädagogik Eine sich stets ausdifferenzierende Erziehungswissenschaft erzeugt erhöhten Orientierungsbedarf und somit den Wunsch nach – zumindest halbwegs – fixen Referenzpunkten, an denen lose Diskursfäden zusammengeknüpft und miteinander verwoben werden können. Diese These liefert einen möglichen Erklärungsansatz dafür, dass mit „Zeitgemäße Klassiker der Pädagogik. Leben – Werk – Wirken“ erneut ein Sammelband über Klassiker der Pädagogik erscheint [1]. Eine solche Pluralisierung der Klassiker führt ironischerweise gerade nicht zu einem wohlgeordneten pädagogischen Wachsfigurenkabinett namens Kanon, sondern vielmehr zu einer ‚neuen Unübersichtlichkeit‘ auf dem schon immer umkämpften Feld der Klassiker. Daher gilt es zu fragen: Wozu eignet sich eine solche Einführung in Klassiker? Wer gilt aufgrund welcher Kriterien im vorliegenden Band als Klassiker? Und was zeichnet diesen Sammelband über Klassiker der Pädagogik gegenüber ähnlichen Bänden aus?

Auf alle diese Fragen antwortet Klaus Zierer in seinem Einführungsaufsatz. Die Frage nach dem ‚Wozu‘ der Beschäftigung mit Klassikern wird von ihm damit begründet, dass eine Disziplin sich wie ein Mensch nur aus seiner Vergangenheit verstehen und nur auf dieser Basis Gegenwart und Zukunft gestalten könne (7). Während diese Begründung unmittelbar einleuchtet, bleibt unklar, warum das Verständnis der Vergangenheit einer Disziplin am besten durch die Auseinandersetzung mit Leben, Werk und Wirken von Einzelpersonen gewonnen werden kann, können doch auch Menschen ihre Vergangenheit nicht durch Rekurs auf unverwobene, biografische Einzelereignisse, sondern nur durch eine einigermaßen kohärente Narration ihrer Lebensgeschichte ‚verstehen‘.

Als Klassiker gelten für Zierer „diejenigen, die in besonderer Art und Weise Einfluss auf die Nachwelt genommen haben“ (7). Ausgerechnet Nietzsche, der Verfechter ‚unzeitgemäßer Betrachtungen‘, wird angeführt, um zu begründen, warum Klassiker nun auch zeitgemäß sein müssen. Insgesamt leitet den Sammelband nämlich die Zielsetzung, „Klassiker nicht nur historisch zu betrachten, sondern sie auch für den gegenwärtigen Diskurs fruchtbar zu machen und ihre Relevanz für die Gegenwart aufzuzeigen“ (16). Nicht ganz unbescheiden wird genau in dieser Zielsetzung das ‚Alleinstellungsmerkmal‘ des Sammelbandes gesehen: „Vor allem eine ‚kritische‘ Perspektive, ein zeitgemäßer Umgang erscheint [....] im Vergleich zu bestehenden Klassikerreihen innovativ und neu“ (16).

Wie wird dieses Ziel umgesetzt? Allen neunzehn Beiträgen haben die Herausgeber eine „zweigliedrige Kapitelstruktur“ (16) verordnet. So wird in einem ersten Schritt „in das Leben, Werk und Denken des Klassikers eingeführt“ (16), um in einem zweiten Schritt „die Relevanz des Klassikers für die Gegenwart und Zukunft sichtbar“ (16) zu machen, „indem neben Quellenauszügen auch auf aktuelle Literatur zu den aufgeworfenen Problemstellungen hingewiesen wird“ (16). Diese Zweiteilung erweist sich jedoch als eine allzu grobe Differenzierung, die die Orientierung des/r Lesers/Leserin erschwert und die Beiträge aufgrund sehr heterogener Schwerpunktsetzungen der Autoren und Autorinnen wenig vergleichbar macht. Beispielsweise schwanken die biographischen Skizzen im Umfang von wenigen Zeilen bis zu mehreren Seiten.

Doch wer gilt aus welchen Gründen hier überhaupt als Klassiker? Neben einigen ‚üblichen Verdächtigen‘, die auch schon in den meisten anderen Klassikersammlungen auftauchen (Comenius, Rousseau, Kant, Pestalozzi, Herbart, Humboldt, Schleiermacher, Buber) sowie bewährten ‚Ersatzspielern‘, denen hin und wieder Klassikerstatus zugeschrieben wurde (Basedow, Nietzsche, Dewey, Montessori, Kerschensteiner, Bollnow), gibt es auch die obligatorischen Überraschungen und ‚Erstnominierungen‘ (August Hermann Niemeyer, Heinrich Roth, Robert M. Gagné). Zwei Klassiker sind zudem derart zeitgemäß, dass sie noch leben: Wolfgang Klafki und Hartmut von Hentig. Insbesondere die Auswahl des letzteren ist m.E. aktuell unverständlich: Zwar wird im Buch „auf die Diskussion um seine Person im Hinblick auf die Missbrauchsfälle an der Odenwaldschule“ (275) verwiesen, es ist jedoch fraglich, ob man angesichts Hentigs Verhalten in dieser Diskussion, das für viele in völligem Widerspruch zu seiner Pädagogik steht, diesen aktuell in den Stand eines Klassikers heben sollte. Der Aufsatz von Susanne Thurn über von Hentig ist mit seinen hagiografischen Zügen denn auch einer der schwächeren Beiträge des Bandes.

Natürlich kann man zu Recht viele potentielle Klassiker vermissen und fragen: Warum sind weder Nohl, Litt noch Spranger und somit kein klassischer Vertreter der geisteswissenschaftlichen Pädagogik repräsentiert? Warum finden sich im Band keine Vertreter einer kritischen Pädagogik, so z.B. Bernfeld, Mollenhauer oder Freire? Könnten oder müssten angesichts der Wahl Montessoris nicht auch Reformpädagogen wie Makarenko, Freinet oder Korczak Beachtung finden? Und wenn schon ein Lernpsychologe als Klassiker der Pädagogik gelten darf, warum dann Gagné, nicht aber Piaget? Auch wenn diese Fragen sicherlich berechtigt sind, muss man den Herausgebern zu Gute halten, dass eine Auswahl von Klassikern, vor allem bei einem einbändigem Werk, zwangsläufig lückenhaft und teils idiosynkratrisch sein muss.

Schwerer fällt jedoch ins Gewicht, dass die Auswahl insgesamt wenig kohärent erscheint und ein roter Faden kaum zu erkennen ist: Theoretiker, die eher selten explizit Pädagogik betrieben, die Pädagogik mit ihren Ideen und Theorien aber maßgeblich beeinflussten (z.B. Nietzsche), werden mit disziplinprägenden Pädagogen (z.B. Pestalozzi) sowie jenen, die eher als Bildungsreformer und/oder politisch prägend wirkten (z.B. Kerschensteiner) munter ‚in einen Topf geworfen‘.
Die Herausgeber selbst präsentieren zwei Auswahlkriterien. So habe man sich einerseits an der disziplingeschichtlichen Bedeutung, d.h. an gängigen Klassikern, an der „gegenwärtige[n] und womöglich zukünftige[n] Bedeutung“ (17) sowie daran, „dass die Klassiker in einer bestimmten Art und Weise eine Epoche, eine Strömung, eine Denkweise innerhalb der Pädagogik repräsentieren" (17), orientiert. Zudem habe man andererseits „aus pragmatischen Gründen […] die Neuzeit als Startpunkt gewählt“ (17). Obwohl die Herausgeber also sichtlich darum bemüht waren, die Auswahl gut zu begründen und dies in verkürzter zusammenfassender Form sowohl in Klaus Zierers Eröffnungsbeitrag als auch in Wolf-Thorsten Saalfranks Schlussbeitrag für jeden der neunzehn Klassiker pointiert geschieht, blieb beim Rezensenten am Ende dennoch ein starkes Gefühl der Beliebigkeit hinsichtlich einer solchen Auswahl.

Wie ist die Qualität der Beiträge zu beurteilen? Trotz den in Sammelbänden üblichen qualitativen Schwankungen zwischen den Beiträgen gelingt es diesen durchgehend gut, auf wenigen Seiten in Leben, Werk und Denken des jeweiligen Klassikers einzuführen. Problematischer, sicher auch ungleich anspruchsvoller, erweist sich der zweite Teil: die ‚zeitgemäße Interpretation‘. So führt der starke Fokus auf die Gegenwartsbedeutung dazu, dass die Wirkung bzw. die Rezeptionsgeschichte einiger Klassiker stark unterbeleuchtet bleibt (exzellent gelingt dies hingegen Timo Hoyer in dessen Beitrag zu Nietzsche). Zudem gelingt es vielen Beiträgen entgegen der expliziten Ziel- und Schwerpunktsetzung des Bandes nicht, einen tatsächlichen Bezug zu Gegenwartsproblemen und -fragen der Pädagogik herzustellen. In manchen Beiträgen beschränkt sich der zweite Teil lediglich auf eine Bilanzierung von Leben, Werk und Wirken oder auf eine kurze Apologetik des Klassikerstatus. Auch enthalten diese Bilanzierungen nur selten eine wirklich kritische Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Klassiker (Ausnahmen sind hier vor allem Jürgen Oelkers’ Beitrag zu Rosseau, Daniel Tröhlers zu Pestalozzi und Andreas Poenitschs zu Humboldt).

Auch dann, wenn der Bezug zu Gegenwartsfragen der Pädagogik hergestellt wird, ist das nicht immer überzeugend, da Kritik an gegenwärtigen Trends teils recht harmlos scheint (ein Beispiel findet sich in Jürgen Overhoffs Beitrag, der mit Basedow gegen die Instrumentalisierung und Ökonomisierung der Bildung die „Rückbesinnung auf das Glück der Schüler“ (71) anmahnt). Sehr gut gelingt es hingegen Roswitha Lehmann-Rommel, Deweys Beitrag zu aktuellen Diskursen differenziert zu diskutieren. Besonders gute Beiträge sind zudem solche, die klar aufzeigen, mit welcher Frage sich ein Klassiker epochemachend beschäftigte (Beispiele sind Eva Steinherrs Beitrag zu Immanuel Kant und dem Paradox von Freiheit und Zwang in der Erziehung sowie Ralf Koerrenz Beitrag zu Bollnow und dem Ethos des Erziehenden und des Erziehens).

Auch wenn die Debatte um Klassiker sicher häufig überschätzt wird und der Band seine eigene Zielsetzung nur teilweise erfüllt: Wer sich für die Geschichte der Pädagogik und insbesondere deren Klassiker interessiert, wird mit dem Band bestens bedient. Neben bislang möglicherweise unterbeleuchteten ‚Klassikern‘, die es zu entdecken gilt, gelingt es auch vielen Beiträgen, wohlbekannte Klassiker so vorzustellen, dass sie neu faszinieren oder in neuem Licht erscheinen. Der Band ist somit ein wertvoller Beitrag zur historischen Reflexion der Disziplin. Für die eigentliche Zielgruppe des Bandes, „in erster Linie […] Studentinnen und Studenten der Pädagogik“ (16), gibt es hingegen, das muss deutlich gesagt werden, bessere Alternativen. Denn nicht nur in Punkto Strukturierung der Beiträge (s.o.) fällt der vorliegende Sammelband auf jeden Fall hinter andere Klassikerbände zurück; der Band weist auch andere editorische Versäumnisse bzw. verpasste Möglichkeiten auf: Einige Beiträge dürften für Studierende sprachlich bzw. stilistisch nur schwer verständlich sein bzw. zu viel Vorwissen voraussetzen (ein Beispiel sind unübersetzte französische Zitate) und es gibt weder weiterführende Lektürehinweise noch ein Personen- oder Autorenregister. Dies ist zu bedauern, bieten Klassiker als Repräsentanten einer ‚fleischgewordenen Geschichte‘ mit all ihren (werkimmanenten) Widersprüchen, (biografischen) Brüchen und (persönlichen) Eigenheiten doch einen guten und unterhaltsamen Einstieg in die spannende und komplexe Geschichte der Pädagogik.

[1] Für einen kurzen, sehr guten Überblick siehe Edith Glaser / Karin Priem: Klassiker-Renaissance? Neue Studienbücher der Erziehungswissenschaft In: EWR 2 (2003), Nr. 4 (Veröffentlicht am 01.08.2003), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/ueberblick2003-1.html sowie Jens Brachmann: Rezension von: Dollinger, Bernd (Hg.): Klassiker der Pädagogik, Die Bildung der modernen Gesellschaft. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2006. In: EWR 7 (2008), Nr. 3 (Veröffentlicht am 03.06.2008), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978353114873.html
Tobias Künkler (Marburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Tobias Künkler: Rezension von: Zierer, Klaus / Saalfrank, Wolf-Thorsten (Hg.): Zeitgemäße Klassiker der Pädagogik, Leben – Werk – Wirken. Paderborn: Schöningh 2010. In: EWR 12 (2013), Nr. 2 (Veröffentlicht am 03.04.2013), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978350677053.html