EWR 12 (2013), Nr. 4 (Juli/August)

Cristina Allemann-Ghionda
Bildung für alle, Diversität und Inklusion. Internationale Perspektiven
Paderborn / München / Wien / Zürich: Ferdinand Schöningh 2013
(261 S.; ISBN 978-3-506-77308-1; 29,90 EUR)
Bildung für alle, Diversität und Inklusion. Internationale Perspektiven Das Buch gliedert sich in fünf Kapitel und eine Einleitung, in der die Ziele angeführt sind: die Rekonstruktion erziehungswissenschaftlicher Diskurse um Diversität und Inklusion sowie deren institutionelle Reproduktion sollen international vergleichend dargestellt werden.

Im Kapitel „Interkulturalität und Diversität“ wird das theoretische Fundament der weiteren Betrachtung von Differenz gelegt. Dies erfolgt entlang der historischen Entwicklung der (wissenschaftlichen) Auseinandersetzung mit Differenz in (West-)Europa. Begonnen wird bei den ethnologischen Beschreibungen von Unterschieden, die im 15. Jahrhundert vorgenommen wurden. Die paradigmatische Hinwendung zu konstruktivistischen Überlegungen Rousseaus werden nachgezeichnet (23), die Macht- und Statusunterschiede berücksichtigen und im Zuge der Französischen Revolution Einzug in die politische Rhetorik erhielten; ohne allerdings in praktischer Hinsicht Diskriminierungen und Benachteiligungen zu überwinden und bis heute aktuell sind. Die Konstruktion von Differenz wird dabei als komplexer Prozess der Eigen- und Fremdzuschreibung, institutioneller und rechtlicher Regelungen u.v.a.m. definiert.

Supranationale Organisationen formulieren eine Diversität unterstützende Programmatik und fokussieren so die (bildungs-)politische Bewusstwerdung und stehen im Widerspruch zu einer „Praxis der Ablehnung von Diversität zugunsten eines Neo-Assimilationismus“ (35), so dass die Auseinandersetzung mit der Thematik das Risiko eines „diffuse[n] Mitschwimmen[s] mit dem Zeitgeist“ (36) beinhaltet. Eine reflektierte Bearbeitung stellt eine entsprechend komplexe Herausforderung dar.

Das zweite Kapitel betrachtet Mehrsprachigkeit als ein „normales Phänomen“, ohne dass diese in der Praxis entsprechende Anerkennung findet und im Kontext mit anderen Differenzdimensionen insbesondere sozio-ökonomischer Ungleichheit reflektiert wird. Allemann-Ghionda stellt das auf linguistischen Überlegungen fußende Modell individueller Zweisprachigkeit von Skutnabb-Kangass vor, das Herkunft, Kompetenz, Funktion und Identifikation ebenso definierend heranzieht wie die sozialen Bedingungen, unter denen Sprache(n) erworben wird/werden (74 f). Die Autorin referiert aktuelle, empirische Forschungen zur zweisprachigen Sozialisation, die auf die Schwellen- oder Interdependenzhypothese zurückgehen und kritisiert deren häufig fehlende methodologische Reflexivität, insbesondere hinsichtlich sozio-ökonomischer Differenzen der verglichenen ein- und mehrsprachigen Schüler/-innen.

Die Bedeutung unterschiedlicher Sprachen im Alltag, die zu qualitativ unterschiedlichen Formen der Mehrsprachigkeit führen und je andere pädagogisch-professionelle Unterstützungsformen bedürfen, treffen in Europa auf traditionell monolinguale europäische Schulen, die auf die Herausbildung der Nationalstaaten und (meist auch) -sprachen zurückgehen. Der Erwerb von Fremdsprachen ist zunehmend am Ziel interkultureller Verständigung orientiert, ohne vergleichbare Ergebnisse, wie es durch polykulturelle und -phone Umgebungen möglich wird, zu erreichen. Zusammenfassend resümiert die Autorin, dass Sprache zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für interkulturelle Kommunikation darstellt (115).

Kapitel 3 widmet sich der Frage von „Separation, Integration oder Inklusion?“. Die Genese des Begriffs Inklusion in der erziehungswissenschaftlichen Diskussion im englisch- und deutschsprachigen Raum zeigt, dass er wesentlich auf supranationale Organisationen zurückgeht, und insbesondere für den deutschsprachigen Diskurs eine Abgrenzung vom Terminus der Integration typisch ist, der mit dem allgemeinen Bedürfnis nach Überwindung der selektiven, schulischen Praxis einhergeht. Die theoretischen Ausführungen werden anhand von Politik und Praxis der Inklusion – illustriert anhand von Mehrsprachigkeit und Behinderung – vergleichend für (west-) europäische Länder vorgestellt und anschließend um die Dimension religiöser Differenzen erweitert, die nationalstaatlich in theoretisch-konzeptioneller ebenso wie curricularer und schulischer Hinsicht je anders bearbeitet werden.

Das Kapitel „Allgemeiner Bildungsauftrag und die Herausforderung der Heterogenität“ gliedert sich in Themenschwerpunkte zu Genese, Strukturen und Zeitpolitiken, Expansion der Hochschulbildung und Professionalität von Lehrpersonen im Kontext von Heterogenität. Die bildungspolitische und erziehungswissenschaftliche Idee der Bildung für alle unterscheidet sich konzeptionell von jener bis dato in Europa leitenden Orientierung an Elitenbildung. Die Bildung der Massen korrespondiert mit Machtverlust der Eliten und wird entsprechend ambivalent diskutiert (173).

Wurde die Thematik während der Bildungsexpansion der 1960/70er Jahre entlang der Fragen, wie schulische Leistung zustande kommt und den notwendigen Bedingungen, alle alles zu lehren, diskutiert, wird sie seit den 1990er Jahren im Kontext von Demokratisierung und Chancengerechtigkeit sowie mit Selektion und Exzellenz geführt (179). Nicht zuletzt unterschiedliche Zeitpolitiken europäischer Staaten ermöglichen und begrenzen die Bearbeitung von Diversität durch die Schule. Vergleichend wird gezeigt, dass Länder, die eine Ganztagsschule haben auch inklusiv ausgerichtet sind.

Der Bolognaprozess wird in seiner Bedeutung für die hochschulische Bearbeitung von Diversität thematisiert: die Entwicklung zur „Massenuniversität“ ist in vielerlei Hinsicht konträr zu den Ideen der Universität Humboldt‘scher Prägung, während die Einführung von Exzellenzinitiativen neue Formen der Hierarchisierung nach sich ziehen. Hochschulen sind herausgefordert, didaktische Konzepte für eine heterogene bildungsin- wie bildungsausländische Studierendenschaft zu konzipieren. Kapitalisierung und Kontrolle des Studiums gehen mit dem Risiko der „Technisierung“ von Wissensvermittlung einher, die konträr zu den bisherigen Inhalten und Vorstellungen v.a. der Geistes- und Sozialwissenschaften stehen und Risiken für die demokratischen Zusammenhänge der Gesellschaft bergen. Zugleich eröffnen die Reformen Möglichkeiten, Diversität als Thema in die Curricula zu integrieren. Die Auseinandersetzung mit Stereotypien und Machtasymmetrien sollte v.a. Lehrpersonen ermöglicht werden, wie die Autorin in Kompetenzzielen einer diversitätsbewussten Lehrerbildung zusammenfasst.

Im Kapitel „Diversität, Demokratie und Bildung für alle“ werden die Möglichkeiten und Risiken, die mit den bildungspolitischen Formen der Bearbeitung von Diversität einhergehen, zusammengefasst. Fehlender politischer Mut, Strukturen zu gestalten, die sich eignen, einen gesellschaftlich und bildungspolitisch weniger diskriminierenden Umgang mit Diversität zu etablieren, werden genauso angesprochen wie das Risiko, ethnische respektive kulturelle Unterschiede derart essentiell zu betrachten, dass sozio-ökonomische ausgeblendet bleiben. Abschließend kritisiert die Autorin, dass der deutsche Inklusionsdiskurs nicht explizit genug über (dis)ability hinausgeht.

Die Monografie gibt einen differenzierten Einblick in die westeuropäische Auseinandersetzung mit aktuellen Fragen der interkulturellen Pädagogik. Schulische Aspekte werden durchgängig eingebunden in bildungs- und sozialpolitische Zusammenhänge betrachtet. Diversität wird als eine inhaltlich-konzeptionelle Weiterentwicklung der interkulturellen Pädagogik verstanden, die teils in Relation zum Begriff der Inklusion steht, der für eine vergleichbare Entwicklung innerhalb der sonderpädagogischen Debatte steht. Die Autorin versucht Verbindungen zwischen den Diskursen herzustellen, dies gelingt in Teilen und eröffnet neue Perspektiven. Die von der Autorin formulierte Kritik am Inklusionsdiskurs, zu sehr die Differenzdimension (dis)ability zu fokussieren, kann m.E. auf ihre Ausführungen zum Kulturverständnis angewendet werden: auch wenn dichotome Beschreibungen von Kultur abgelehnt werden, bleibt offen, wie sich das Kulturverständnis zu (dis)ability, sozio-ökonomischen und geschlechtlichen Unterschieden verhält. Ungeachtet dieser kritischen Aspekte liefert das Buch einen differenzierten Einblick in den (west-) europäischen Diversitätsdiskurs und reflektiert aktuelle Entwicklungen kritisch.
Tanja Sturm (Basel)
Zur Zitierweise der Rezension:
Tanja Sturm: Rezension von: Allemann-Ghionda, Cristina: Bildung für alle, Diversität und Inklusion. Internationale Perspektiven. Paderborn / München / Wien / Zürich: Ferdinand Schöningh 2013. In: EWR 12 (2013), Nr. 4 (Veröffentlicht am 24.07.2013), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978350677308.html