EWR 15 (2016), Nr. 1 (Januar/Februar)

Alfred Schäfer / Christinane Thompson
Spiel
Reihe: Pädagogik – Perspektiven
Paderborn: Ferdinand Schöningh 2014
(187 S.; ISBN 978-3-506-77603-7; 24,90 EUR)
Spiel Das achte Buch der von Alfred Schäfer (Halle-Wittenberg) und Christiane Thompson (Frankfurt am Main) verantworteten Reihe „Pädagogik – Perspektiven“, in der bislang die Begriffe Scham, Autorität, Werte, Anerkennung, Gewalt, Wissen und Leistung behandelt wurden, widmet sich im neuesten Band dem Thema „Spiel“. Und wie in bisherigen Bänden auch, finden sich neben der Einleitung wenige, dafür aber einschlägige Texte zur Thematik wieder.

Nun ist das Spiel eines der Grundphänomene des menschlichen Daseins, das sich wohl einer eindeutigen Definition versagt – und daher immer wieder neu zu Interpretationen Anlass gibt. Der Philosoph Ludwig Wittgenstein meinte jedenfalls, dass die Frage, die man unbedingt vermeiden sollte, lautet: Was ist ein Spiel? In diesem Sinne liefert auch der vorliegende Band keine endgültige Definition, sondern fünf Perspektiven auf das Spiel. Folgt man dem Klappentext und der Einleitung, so versucht der Band vor allem drei Aspekte in den Blick zu nehmen: nämlich einerseits den Wirklichkeitssinn von Spielen, der sich gegenüber der nicht-spielerischen Wirklichkeit abzugrenzen versucht; sodann die pädagogische Verfügbarkeit bzw. Unverfügbarkeit der Spiele; und schließlich die Frage nach der Ludifizierung des Alltagslebens. Diese Aspekte werden im Band unterschiedlich akzentuiert.

Die von Schäfer und Thompson verfasste Einleitung geht vor allem auf den ersten (erkenntnistheoretischen) und letzten (kulturellen) Aspekt ein. Im Abschnitt „Spiel als unwirkliche Wirklichkeit“ wird verdeutlicht, dass das Spiel eine eigene Wirklichkeit konstituiert, die gleichsam durch sich selbst immer wieder fiktionalisiert und unterwandert erscheint; zugleich wird deutlich, dass das Spiel – gegenüber der „realen“ Wirklichkeit – selbst einen Wirklichkeitsbereich mit eigenen Regeln und Normen bildet. Diese Wirklichkeit des Spiels wird dann vor allem mittels der Ritualtheorie von Victor Turner und der Ästhetiktheorie von Friedrich Schiller in ihrem Zauber, ihrer Magie und ihrem Ernst in den Blick genommen. Fokussiert wird dabei auf das Spiel als Medium der Liminalität und illusorischen Versöhnung, und damit auf Aspekte, die die Faszination des Spiels ausmachen. Schließlich wird konstatiert, dass mit dem Phänomen der „Entgrenzung des Spielerischen“ in der Moderne eine Partikularisierung von Geltungsansprüchen und eine Virtualisierung des Wirklichen einhergehen.

Im Mittelpunkt des Beitrages von Gabriele Weiß (Siegen) werden vor allem erkenntnis- und subjekttheoretische sowie praktische und pädagogische Aspekte des Spielens im Feld von Möglichkeit und Wirklichkeit diskutiert. Unter dem Titel „Sich verausgabende Spieler und andere vereinnahmende Falschspieler“ kommt die problematische – nicht aufhebbare, aber stets verhandelbare – Grenze zwischen Spiel und lebensweltlicher Praxis durch vier Figuren, den Spielenden, den Spieler, den Falschspieler und den Spielverderber in den Blick. Während der Spielende eine gewisse Distanz und Souveränität gegenüber dem Spiel an den Tag legen kann, verliert der Spieler durch seine mangelnde Souveränität diese Distanz; und während der Falschspieler pro forma mitspielt, respektiert er zwar die Regeln des Spiels, verletzt sie aber gleichzeitig, während der Spielverderber die Spielregeln schlicht ignoriert und dadurch außer Kraft setzt. Gelingt das Spielen, dann bewegt man sich im Spannungsfeld von Versunkensein und Distanzierung – wie Weiß auch für die Lebenskunst verdeutlicht, die sie als spielerische Form der „Ästhetik der Existenz“ (Foucault) liest. Deutlich wird dann eine Pädagogisierung des Spiels im Unterricht kritisiert: Spiel im Unterricht ist kein Spiel, sondern Übung. Allerdings zeigt Weiß, wie man mit den analytischen Konzepten des Spielverderbers und des Falschspielers auch Schülerverhalten – das sich auf einer Skala vom Spielverderben über Falschspielen bis hin zum Mitspielen verorten lässt – ethnographisch rekonstruieren kann.

Carl-Peter Buschkühle (Gießen) geht von Nietzsches Konzepten des Übermenschen und des spielenden Kindes aus, wenn er in der modernen Kultur die Oberflächlichkeit, den Verlust von Tiefenschichten der Bedeutung und das Spektakel kritisiert. Dagegen wird mit Nietzsche und Heidegger u.a. auf eine künstlerische Dialektik von Selbst- und Weltbezüglichkeit abgehoben, die mit Wahrheit und Kreativität sowie gelingendem Leben und Glück aufgeladen wird. Indem der Künstler ein Kunstwerk schafft, bildet er sich selbst. Das Spiel der Kunst wird dementsprechend als experimentell, kreativ und sogar objektiv bestimmt – insofern das künstlerische Objekt gleichsam die Regeln vorschreibt, nach denen es gespielt werden soll. Für diese spieltheoretischen Hintergründe werden Schiller, Adorno und Beuys bemüht. Nötig sind dazu intuitive Wahrnehmung, kritische Reflexion und eigenständige Imagination, die drei Säulen – so könnte man sagen – einer ästhetischen Bildung. Diese drei Fähigkeiten sollen in einen produktiven (spielerischen) Austausch gebracht werden. Am Beispiel eines künstlerischen Bildungszusammenhangs aus der 7. Klasse eines Gymnasiums wird dann verdeutlicht, inwieweit der produktive Einstieg, das experimentelle Arbeiten und die Kontextualität (als Vertiefung der Thematik und Entwicklung der Arbeit) ästhetische Bildungsprozesse im Viereck von Schüler, Werk, Inhalt und Lehrperson bestimmen. Künstlerische Bildung stellt vor dem kulturkritischen Hintergrund den Versuch dar, Prozessen „der Abstraktion, der Akzeleration und der Animation einen Spielraum der Vertiefung, der Verlangsamung und der Verselbstständigung“ (95) gegenüber zu stellen.

Christoph Wulf (Berlin) leuchtet den Zusammenhang zwischen Spiel und Ritual aus, wobei er vor allem auf den Körper und seine spielerischen, mimetischen und performativen Qualitäten abhebt. Der Abschnitt über Rituale verdeutlicht u.a. nicht nur die reproduktiven, ja stereotypisierenden, sondern auch die konstruktiven und innovatorische Dimensionen von Ritualen, die als körperliche und soziale Inszenierungen von Differenzbearbeitungen verstanden werden. Dabei kann man unterschiedliche Ritualtypen in den Blick nehmen, die von den Übergangsritualen über jahreszeitlich bedingte Rituale bis zu magischen Zeremonien reichen. Oder es lassen sich spezifische Funktionen des Rituals benennen, etwa Vergemeinschaftung und Ordnung oder Identifizierung und Krisenbewältigung und schließlich Magie und Subjektivierung. Rituale haben ihren ludischen Charakter vor allem aufgrund ihrer Performativität, die mit der Inszenierung und Aufführung von Körpern, ihren sozialen Wirkungen sowie ihren Rahmungen und Grenzziehungen in Verbindung steht. Im performativen Handeln kommt es immer wieder zu leichten Veränderungen und Verschiebungen, zum experimentellem und kreativen Ausprobieren, wobei gerade der rituelle Rahmen auch eine gewisse Sicherheit für Abweichungen bietet. Das in Ritualen erworbene praktische Wissen ist körperlich, sozial, rituell und zugleich spielerisch und kreativ.

Mit dem Text über die „Ludifizierung des Sozialen durch Digitale Räume“ von Jens Holze und Dan Verständig (beide: Magdeburg) wird wiederum die kulturelle Bedeutung des Spiels thematisiert. Ausgehend von Huizingas Spielbegriff, der die Freiwilligkeit des Spielenden betont und Schillers Konzept des Spieltriebes, der in einer unsicheren Moderne eine idealistische Orientierungsleistung verspricht, wird vor allem die Theorie von McGonigal diskutiert, die Effekte des Spiels und ihre kulturelle Bedeutung in der zeitgenössischen Gesellschaft analysiert. Vor dem aktuellen sozialen Hintergrund, der mit Stichworten wie Komplexität, Unsicherheit, Diskontinuität, Optionalität etc. charakterisiert wird, avanciert das Spiel zu einem Medium und einer Technik, mit der man eine gewisse Kontrolle und eine gewisse Definitionsmacht im Umgang mit der Umwelt bewahren kann. Am Beispiel eines Twitterkontos lässt sich etwa zeigen, wie Selbstinszenierungen, Selbst- und Weltbildungsprozesse im spielerischen Kontext von Emotionalität und Rationalität ausgestaltet werden. Wichtig erscheint dabei der Hinweis, dass auch die digitalen Möglichkeiten endlich und die Möglichkeiten des Spiels durch die Möglichkeiten des Mediums begrenzt sind. In der Diskussion sog. social games, in denen die Spieler verschiedene Formen eines spielerischen Kontakts zu ihren Mitspielern eingehen können, verdeutlichen dann die Autoren die Notwendigkeiten von Kommunikationsformen angesichts der oftmals sehr losen sozialen Verbindungen. Die Spieler lernen hier spielerisch Kontakte zu knüpfen und Kontakte zu halten; und wie so oft stellt sich die Frage, ob diese Lernprozesse dann auch Effekte im real life haben werden und ob man „wirklich“ von einer „Ludifizierung des Sozialen“ reden möchte.

Der letzte Beitrag stammt von Stefen Wittig (Halle-Wittenberg) und dieser behandelt den Zusammenhang von „Kultur – Spiel – Subjekt“ unter der Fragestellung, wie sich Kultur in und als Spiel konstituiert. Herausgearbeitet wird anhand von Huizingas Spieltheorie, dass Spiele einen Möglichkeitsraum bilden, in denen kulturelle Sinndimensionen neu ausgehandelt werden können. Dieser ludische Möglichkeitsraum des Als-Ob zeichnet sich durch die Unterbrechung des gewöhnlichen Lebens, die Freiheit von ethischen Verbindlichkeiten, durch die Möglichkeit der Veranderung und durch ein Geheimnis oder Rätsel aus, das mit der anwesend-abwesenden Wirklichkeit des Spiels einhergeht. Was motiviert Menschen, sich freiwillig dem Regelwerk des Spiels zu unterwerfen? Es scheint die Möglichkeit zu sein, andere Sinnperspektiven zu erfahren und zu kreieren, Sinnperspektiven, die wirklicher sind als die Wirklichkeit. Diese Erfahrung ist möglich, weil der Spielende sich in der Gleichzeitigkeit von Spiel und Ernst, Fiktion und Realität, Distanz und Distanzlosigkeit befindet. Diesen Zustand kennzeichnet der Autor mit Huizinga als „heiligen Ernst“. Paradox ausgedrückt wird der Wirklichkeitscharakter des Spiels dadurch hervorgebracht, dass die Möglichkeit als Wirklichkeit erscheint. Die Reflexion im Spiel auf die Möglichkeit und die Wirklichkeit konstituiert etwas Drittes: eine wirkliche Unwirklichkeit. Kultur ist insofern ein Spiel, indem sie ihr eigenes Beobachten selbst noch einmal beobachtet, und dadurch neue Sinnperspektiven entwerfen kann.

Obwohl der Sammelband eine gewisse Bandbreite des Themas durch die jeweiligen Fragestellungen nach Subjektfiguren, Kunst, Ritual, Digitalität und Kultur absteckt, lässt sich eine gewisse Einebnung dieser Pluralität insofern beobachten, als viele AutorInnen sehr häufig auf Gadamer und Callois, fast alle aber auf Schiller und Huizinga abheben. Damit gewinnt und verliert der Band zugleich: Er gewinnt insofern, als die erkenntnistheoretischen Bezüge sowie die kulturellen Dimensionen des Spiels und seine Bezüge zur Kunst, zum Ritual, zur digitalen Welt und zur Kultur verdeutlicht werden; er verliert insofern, als die pädagogische Dimension etwas zu kurz kommt. Hierbei wäre sinnvoll gewesen, nicht nur auf den Bildungsbegriff, sondern auch auf den Erziehungs-, Sozialisations- oder Kultivierungsbegriff einzugehen. Es ist kein Zufall, dass wichtige historische wie aktuelle pädagogische Theoretiker in diesem Buch nicht vertreten sind oder dass wichtige pädagogische Fragestellungen – etwa nach den Spielgegenständen, den Spielformen oder Spielintentionen – nicht aufgegriffen werden [1]. Zudem hätte man sich auch einen historischen oder einen ethnographischen oder interkulturellen Beitrag gewünscht. Wer aber etwas über die erkenntnistheoretischen und kulturellen Bezüge des Spiels erfahren möchte, der ist mit diesem Buch sehr gut bedient.

[1] vgl. dazu etwa: Hans Scheuerl: Das Spiel. Weinheim: Beltz 1954; Hein Retter: Spielzeug. Handbuch zur Geschichte und Pädagogik der Spielmittel. Weinheim / Basel: Beltz: 1989; Johannes Bilstein, Matthias Winzen, Christoph Wulf (Hg.): Anthropologie und Pädagogik des Spiels. Weinheim / Basel: Beltz 2005.
Jörg Zirfas (Köln)
Zur Zitierweise der Rezension:
Jörg Zirfas: Rezension von: Schäfer, Alfred / Thompson, Christinane: Spiel, Reihe: Pädagogik – Perspektiven. Paderborn: Ferdinand Schöningh 2014. In: EWR 15 (2016), Nr. 1 (Veröffentlicht am 04.02.2016), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978350677603.html