EWR 17 (2018), Nr. 2 (März/April)

Norbert Ricken / Rita Casale / Christiane Thompson (Hrsg.)
Die Sozialität der Individualisierung
Paderborn: Schöningh 2016
(215 S.; ISBN 978-3-5067-8376-9; 27,90 EUR)
Die Sozialität der Individualisierung Dem Thema der Individualisierung kommt im aktuellen erziehungswissenschaftlichen Diskurs eine gesteigerte Aufmerksamkeit zu – insbesondere in Reaktion auf die Konjunktur selbstgesteuerten Lernens und individualisierten Unterrichts. Die Kommission Bildungs- und Erziehungsphilosophie der DGfE nahm sich diesem Thema auf ihrer Jahrestagung 2013 an. Unter dem Titel „Die Sozialität der Individualisierung“ wurden die Tagungsbeiträge in der Schriftenreihe der Kommission zu einem Band zusammengefasst und um zwei weitere Beiträge ergänzt.

Norbert Ricken betont in seiner Einleitung, dass Individualisierung nicht einfach als Gegenstück von Sozialität untersucht, sondern diese letztlich selbst als Sozialform verstanden werden soll (11). Die Texte sind drei Kapiteln zugeordnet: Burkhard Liebsch und Johannes Bellmann nähern sich dem Thema aus disziplinärer Perspektive (Kapitel I) – einmal (sozial)philosophisch und einmal erziehungswissenschaftlich. Aus kategorialer Perspektive (Kapitel II) konzentrieren sich Barbara Rendtorff, Ralf Mayer, Veronika Magyar-Haas, Johannes Drerup und Jörg Zirfas auf jeweils spezifische Verwobenheiten von Individualisierung und Sozialität. Anschließend fokussieren Nadine Rose und Kerstin Rabenstein aus schultheoretischer Perspektive ein exemplarisches Feld (Kapitel III).

Burkhard Liebsch stellt in seinem umfangreichen Beitrag eine Batterie von Fragen zusammen (bspw. 22, 26, 32), die den (sozial)philosophischen Problemhorizont des Bandes skizzieren. So ließen sich Individualität und Individualisierung nicht abschließend bestimmen, dienten sie doch der Würdigung des Lebens jedes Einzelnen, „insofern es nicht bloß als Gegenstand einer Kategorisierung und äußerer Beurteilung in Betracht kommt, sondern in unvordenklicher Art und Weise aus sich heraus gelebt und verantwortet wird, um auf dieser Grundlage dann eine gesteigerte (eben individualisierte) Ausdrucksform zu finden.“ (28) Der Autor kontrastiert eine geschichtlich spezifische, sozial auferlegte und das Selbstverständnis des Menschen betreffende Individualität mit einem Individuiertsein qua Existenz. Im ersten Fall erscheine Sozialität als Effekt und Motor einer übersteigerten Kultivierung von Individualität, so dass Liebsch die Vorstellung eines nur auf sich selbst zurückgeworfenen Selbst kritisiert. Dann nämlich böten die Anderen und das Andere nur Anlass, sich daran zum Zwecke von Selbsterhaltung, Selbstbestimmung und Selbststeigerung abzuarbeiten, wodurch der Widerfahrnischarakter existenziellen Individuiertseins zu leugnen oder abzuwehren sei (42f.).

Für Johannes Bellmann wird angesichts des Aufstiegs der Bildungswissenschaften die Frage nach dem spezifischen Erkenntnisgegenstand der Erziehungswissenschaft als Disziplin virulent. Gründe für jenen Aufstieg sieht Bellmann u.a. in der Bedeutungszunahme von Forschungsfeldern innerhalb und außerhalb der Erziehungswissenschaft, die keiner Sozialwissenschaft angehören oder sich nicht (mehr) als solche verstehen (58f.). Zusätzlich seien Bildungs- und Lerntheorien durch einen individualistischen Grundzug sowie ein sozialtheoretisches Defizit geprägt, wodurch das argumentative Rüstzeug fehle, „um dem mit den Bildungswissenschaften verbundenen Individualisierungsschub eine überzeugende sozialtheoretisch begründete Alternative entgegenzusetzen.“ (60) Aus gegenstandstheoretischer Perspektive plädiert Bellmann schließlich für eine Aktualisierung der sozialtheoretischen Grundlegung der Erziehungswissenschaft, indem er anhand der anthropologischen Forschung Tomasellos und durch Bezüge auf Theorien des Dritten, die Sozialität der Erziehung als emergentes Phänomen beschreibt.

Barbara Rendtorff betrachtet Individualität und Sozialität aus Geschlechterperspektive. So wurde die weibliche Position in der pädagogischen Literatur des 19. bis ins 20. Jahrhundert vermehrt einer Individualisierung entgegengesetzt, da sich die Auffassung der Unwürdigkeit individuellen Denkens und Handelns von Frauen mit der Betonung ihrer Unfähigkeit (78) und einem naturalisierten Bezogensein auf andere (74) verquickte. Die so entstandene sozial kontrollierte „Verähnlichung“ von Frauen wurde dem Entwurf des bürgerlichen Mannes entgegengesetzt, in dem sich „die Idee eines individuell verantwortlich handelnden Subjekts“ mit einer auf das gesellschaftliche Ganze bezogenen Sozialität verband (78f.). Die Logik der seperate spheres schlage bis heute durch, was sich u.a. an der Bewertung und Identifikation mit als männlich konnotierten Wahrnehmungs- und Bewertungsmustern von und durch Frauen zeige, die für jene zu einer kaschierten Doppelbelastung führe. Die Bearbeitung von Männlichkeitsvorstellungen werde dadurch ebenso erschwert wie eine pädagogische Arbeit, die auf Kompensation setzt anstatt auf eine geschlechtsgruppenbezogene Arbeit und Sichtweise zu verzichten.

Ralf Mayer arbeitet heraus, dass sich im individualistischen Denken Vorstellungen von Selbstverwirklichung als sozialer Distinktion mit einer naturalisierten besitzorientierten Nutzenvorstellung und Selbstreglementierung verbinden. Leidenschaft fungiere darin als Chiffre, mit der sowohl ihre Eindämmung zugunsten rationaler Regulierbarkeit gefordert werde, die aber auch zur Affirmation eines passionierten Verhältnisses gegenüber schematischer Rationalität tauge. Da Leidenschaften selbst subjektivierenden Charakter innerhalb eines soziosymbolischen Raums besäßen und ortlos zwischen einer Rationalität des Selbst und soziostrukturellen Bedingungen als Orten des Anderen ansiedeln, können sie „strategische Sinn- und Zwecksetzungen in Subjektivierungspraxen“ irritieren und dazu herausfordern „sich zu riskieren“ (101). An der tanzpädagogischen Arbeit Royston Maldooms zeigt Mayer inwiefern der Begriff der Leidenschaft als leerer Signifikant pädagogischen Schließungsversuchen ausgesetzt ist, die seine Ambivalenz einzuebnen versuchen.

Veronika Magyar-Haas diskutiert eine Konzeption von Sozialität, die als erweitertes Individuum erscheint. Ein „Wir“ simuliere dabei „vordergründig Ähnlichkeiten, gemeinsame Züge, Gleichrangigkeit nach innen“ und zugleich „setzt es nach außen hin Grenzen und produziert […] Differenzen, Nicht-Zugehörigkeiten, also ein ‚Nicht-Wir‘.“ (113) Eine solche Vorstellung von Gemeinschaft wird von der Autorin mit der sozialontologischen Gemeinschaftskonzeption Jean-Luc Nancys konfrontiert, der Existenz fundamental als Mit-Sein und Mit-Teilung denke. Die Sozialität eines singulären Pluralseins bzw. des pluralen Singulärseins trete letztlich als (Einander-)Ausgesetzt-Sein in Erscheinung, womit Nancys Gemeinschaftskonzeption an eine Kritik des Politischen anschließe. Im Politischen nämlich werde (im Unterschied zur fixierenden Politik) nicht das Gemeinsame, sondern der Konflikt um dieses betont, was letztlich mit einer post-identitären Selbstinfragestellung „gegen Einweisung in eine kollektive Identität und zugleich gegen den Zwang der Selbstidentität“ (125) einhergehe.

Johannes Drerup vertritt die These, dass ein „Umgang mit in pädagogischen Konstellationen notwendig auftretenden Legitimationsproblemen […] nur möglich [sei], wenn die theoretischen, normativen und empirischen Prämissen unterschiedlicher Autonomiekonzeptionen systematisch rekonstruiert und auf ihre Adäquanz geprüft“ würden (131). Drerup argumentiert für eine soziorelationale Autonomiekonzeption, bei der die soziale Einbettung als bedeutsam für Prozesse der Individualisierung und Selbstreflexion angesehen werden (138). Nach der Diskussion zweier Dilemmata der soziorelationalen Autonomiekonzeption, die die Bestimmtheit und Normativität von Autonomieideal und sozialer Relation betreffen, schlägt er eine liberal perfektionistische Rekonzeptualisierung von Autonomie (146) vor, denn in pädagogischer Hinsicht führe die Festlegung „auf bestimmte soziale Ermöglichungsbedingungen einer autonomen Lebensführung“ zur Festlegung „auf perfektionistisch begründbare Pflichten […], die auf die Etablierung und Förderung dieser Sozialverhältnisse und korrespondierender wünschenswerter Selbstverhältnisse abzielen“ (154).

Jörg Zirfas nimmt sich der Herausarbeitung einer relationalen Individualität an, indem er diskurstheoretisch die Dichotomisierung von japanischem Kollektivismus und europäischer Individualität problematisiert. Diese Gegenüberstellung hält der Autor für unterkomplex, wie er an der Ausdifferenzierung des japanischen Individualitätsdiskurses in acht verschiedene Formen der Individualität darlegt (171f.). Individualität zeige sich in Japan von Relationen, Strukturen und Anforderungen bestimmt, die in der belebten und unbelebten Mit- und Umwelt vorgegeben sind (166-169, 173) und werde „von einer situativen-sozialen Beziehung, dem Zwischen hergedacht, und ist daher immer situative Interindividualität.“ (174) Die japanische Vorstellung eines shifting self scheint für Zirfas damit nicht allzu weit von einer europäischen Patchworkidentität entfernt zu sein und sich eher in Bezug auf ihre soziale Eingebundenheit zu unterscheiden.

Nadine Rose fragt sich angesichts der Hochkonjunktur einer Rhetorik der Individualisierung im schulpädagogischen Kontext, woher die Attraktivität des Individualisierungsdiskurses rührt und inwiefern er sich in Semantiken und Technologien in der schulischen Arbeit zeigt. Individualismus als „historisch hochspezifische, mit paradoxen Spannungen durchzogene […] Form der menschlichen Welt- und Selbstauslegung“ (187) produziere durch das meritokratische Prinzip und die Abgrenzung von Naturnähe und Rohheit, Verheißungen von Chancengleichheit und Aufgeklärtheit (186). Die an das Subjekt ergehenden und von ihm selbst hervorgebrachten individualisierenden Anrufungen weisen jedoch eine paradoxe wie produktive Grundstruktur auf: Weder gelänge es die Norm der Interpellation zu erfüllen noch sich ihr zu entziehen. Entlang einer Vignette zeigt Rose, wie individualisierenden Programmatiken tatsächliche Anrufung entgegenlaufen kann, wenn bspw. Schüler*innen Entdifferenzierung und Pauschalisierung ausgesetzt sind.

Auch Kerstin Rabenstein nimmt die prominente Platzierung in aktueller Unterrichts- und Schulentwicklungsliteratur zum Anlass, dem Begriff der Individualisierung und den mit ihm verbundenen Vorstellungen von Sozialität diskurstheoretisch nachzuspüren und konfrontiert ihre Ergebnisse mit denen ethnographischer Schul- und Unterrichtsforschung. Individuelle Förderung würde bspw. nicht als Kompensation erschwerter Startbedingungen verstanden (200), sondern auf die Gesamtheit der Schüler*innen übertragen. Daneben seien pädagogisch-psychologische Standardisierungsinstrumente dann selten begründungspflichtig, wenn sie einer Überprüfung von Selbstlernprozessen dienten (200). Individualisierung verbinde sich als „Steigerungsformel für Bildungsanstrengungen“ (198) mit kompetitiven Praktiken, die die Verantwortung für die „Steigerung des Outputs von ‚Selbstlernprozessen‘“ (206) den Schüler*innen zuschreiben und Lehrkräfte pauschal zur Verpflichtung auf Leistungssteigerung aufrufen (201). Dass Soziorelationalität und Mitteleinsatz verstärkt hinsichtlich ihres Beitrags „zur Ertragssteigerung individueller Leistung“ (207) in den Blick kommen, während eine kritische Reflexion dessen ausbliebe, führe letztlich zur Entpolitisierung individualisierter Ungleichheitsordnungen und damit zu gesellschaftlicher Entsolidarisierung.

Die in der Einleitung des Bandes angekündigte Thematisierung von Individualität bzw. Individualisierung und Sozialität in ihrer Verwoben- und Verstricktheit gelingt in den anspruchsvollen und z.T. voraussetzungsreichen Beiträgen sehr gut. Diese zeichnen sich vor allem durch ihren Verzicht aus, die offene Frage nach Individualisierung und Sozialität durch neue Theoriefundamente und Letztbegründungen schließen zu wollen. Durch die Lektüre werden intuitiv positive Konnotationen des Individualisierungsbegriffs irritiert, was jedoch weder zu einer vereinseitigenden Ablehnung noch zur Befürwortung postmoderner Beliebigkeit führt. Vielmehr lässt sich der Band als produktive Verkomplizierung einer vermeintlichen Eindeutigkeit verstehen, der zur Reflexion von nur scheinbar Selbst-Verständlichem beiträgt. Es zeigt sich abermals – wie auch in anderen Bänden der Kommission, etwa zum Begriff des Politischen oder der Heterogenität – die Unmöglichkeit der Bereitstellung eines pädagogischen Werkzeugkastens angesichts einer grundsätzlichen Widersprüchlichkeit des behandelten Gegenstands. Die Sozialität der Individualisierung bleibt damit nicht stillzustellende Herausforderung individuellen und gemeinsamen pädagogischen Arbeitens.

Ein Beitrag aus explizit soziologischer Perspektive wäre wünschenswert gewesen (darauf wurde auch in der Einleitung Rickens hingewiesen), wobei dieses Fehlen durch zahlreiche (sozial)philosophische Referenzen nicht allzu stark ins Gewicht fällt. Zugunsten eines noch konsistenteren Gesamteindrucks, hätte sich eine stärkere Bezugnahme der Beiträge aufeinander (wie bspw. gelungen bei Rose und Rabenstein) angeboten (bspw. hinsichtlich der Texte von Liebsch und Bellmann oder Magyar-Haas und Zirfas). Warum gerade der Schulpädagogik ein eigenes Kapitel gewidmet wurde, ist plausibel. So kann die Schule als Brennglas der im Buch untersuchten grundsätzlichen Problematik verstanden werden. Andererseits gäbe es dennoch zahlreiche weitere pädagogische Praxisfelder, in denen Paradoxien von Individualität und Sozialität zum Thema werden.

Angesichts einer „Kultur der Kontingenz“, bietet der Band – mit Burkhard Liebsch gesprochen – einen wertvollen Beitrag zur nach wie vor offenen Frage, wie sich Individualität und Sozialität so zusammen denken lassen, „dass sowohl deren ursprüngliches Verwiesensein auf einander, in der Frage nach einem eigenen, lebbaren Leben, als auch deren unaufhebbarer Widerstreit zwischen existenziellem Individuiertsein einerseits und kulturellen Angeboten und Zwängen der Individualisierung andererseits, denkbar bleibt“, ohne auf diese Frage mit „einer Wiedereinhausung des Einzelnen in der fragwürdigen Gemeinschaftlichkeit eines lokalen Ethos oder einer Polis das Wort zu reden“ (46).
Sebastian Jacobs (Salzburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Sebastian Jacobs: Rezension von: Ricken, Norbert / Casale, Rita / Thompson, Christiane (Hg.): Die Sozialität der Individualisierung. Paderborn: Schöningh 2016. In: EWR 17 (2018), Nr. 2 (Veröffentlicht am 09.05.2018), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978350678376.html