EWR 21 (2022), Nr. 2 (April)

Lisbeth Matzer
Herrschaftssicherung im „Grenzland“
Nationalsozialistische Jugendmobilisierung im besetzten Slowenien
Paderborn: Brill 2021
(462 S.; ISBN 978-3-506-79185-6; 99,00 EUR)
Herrschaftssicherung im „Grenzland“ Matzer befasst sich in ihrer Dissertation mit den vom Auslandsamt der Reichsjugendführung (RJF) koordinierten Auslandsaktivitäten der Hitler-Jugend (HJ). Den konkreten Untersuchungsraum „bilden die durch das Deutsche Reich 1941 errichteten und bis 1945 bestehenden Besatzungszonen der ‚besetzten Gebiete Kärntens und Krains‘ sowie der Untersteiermark“ (5). Das zentrale Thema sind – inklusive ihrer regionalen Vorgeschichten (Kapitel 2) – die dortigen nationalsozialistischen Praktiken der „Jugendorganisierung“. Als „Jugendorganisierung“ werden hierbei „sämtliche Praktiken der Erfassung sowie Tätigkeiten und Aktionsfelder innerhalb der auf Jugend ausgerichteten Organisationsstrukturen wie der Hitler-Jugend sowie deren Auf- und Ausbau verstanden“ (1). Im Fokus steht das Agieren solcher Vereine, die in diesem spezifischen Besatzungskontext als Stellvertreter der HJ die jugendpolitischen Interessen der RJF durchsetzen sollten. In diesem Sinne rücken insbesondere die personelle Zusammensetzung, die handlungsleitenden Motive zentraler Akteur:innen sowie das Gelingen bzw. Scheitern der Aktivitäten der „Deutschen Jugend“ in der Untersteiermark und der „Kärntner Volksbundjugend (KVBJ)“ im Mießtal und in Oberkrain in den Blick (Kapitel 3-5). Insgesamt macht Matzer für ihre Untersuchungsräume deutlich, dass die konkrete Ausgestaltung der NS-Jugendpolitik vor Ort keiner reibungslosen top-down Umsetzung der Vorgaben der RJF entsprach, sondern an das individuelle Agieren der „regional führend tätigen Personen geknüpft“ (412) war.

In der jüngeren geschichtswissenschaftlichen Forschung wurden nur wenige Studien publiziert, die sich explizit diesem Themenfeld widmen. Matzer bezieht diese Vorarbeiten mit großer Umsicht in ihre eigenen Analysen mit ein. Lediglich einige wenige Titel vermisst man im Literaturverzeichnis – etwa die einschlägigen Arbeiten von Hans-Christian Harten. Da sie sich, anders als in der überwiegenden Mehrzahl der bisherigen Arbeiten, in denen vorrangig Gebiete in Osteuropa untersucht wurden, mit österreichisch-slowenischen Grenzräumen befasst, liefert ihre Studie den erreichten Forschungsstand überschreitende Erkenntnisse.

Der Schwerpunkt der Analysen liegt in Matzers Studie auf der Akteursebene. Als solche können die bereits erwähnten Vereine angesehen werden, die in den untersuchten Gebieten als regionale Äquivalente der HJ fungierten und innerhalb ihrer Aktionsradien mit dem Ausbau der dortigen nationalsozialistischen Jugenderfassung befasst waren. Die deren Inklusionsaufforderungen zugrundeliegende Bestimmung ihrer jeweiligen Zielgruppen – Heranwachsende, denen durch die RJF und deren regionale Stellvertreter eine Zugehörigkeit zum „Deutschtum“ attestiert oder in Aussicht gestellt wurde – war hierbei keineswegs formal eindeutig. Entscheidend war vielmehr eine mit einer „hohen Subjektivität“ (16) vergebene, rassistisch konnotierte „(Fremd-)Zuschreibung von Zugehörigkeit“ (1). Das, abgesehen von antisemitisch-biologistisch begründeten Ausschlusskriterien, weitgehende Fehlen einer klaren Definition der Kriterien, nach deren Maßgabe eine Zuordnung zum „Deutschtum“ zu erfolgen hatte, wurde einmal mehr durch „vage Referenzen auf ‚deutschen‘ Charakter und ähnlich abstrakte Rhetoriken“ ersetzt (256). Dies hatte zur Folge, dass beispielsweise „die Zielgruppe der NS-Jugendorganisierung in Oberkrain und der Untersteiermark“ letztlich „aus – fast allen – dort lebenden Jugendlichen im Alter von zehn bis 21 Jahren (bestand)“ (257). In der Praxis der Jugendorganisierung wurden Inklusionsangebote dann primär in Abhängigkeit eines attestierten NS-konformen Verhaltens vergeben (vgl. exemplarisch die entsprechend begründete Vergabe der Mitgliedschaft bei der Kärntner Jugend (168)). Um die „Vermittlung und Aneignung“ des Zugehörigkeitsempfindens unter den Heranwachsenden in der Praxis zu fördern, wandten beide Vereine „bereits reichsweit erprobte pädagogische Strategien“ der HJ-Formationserziehung an (261). Als spezifische Maßnahmen kamen Deutschkurse und eine (nie zur Gänze realisierbare) Deutschpflicht hinzu. Eine annähernd flächendeckende Etablierung des Zuständigkeitsanspruchs der Vereine im Rahmen der NS-Jugendorganisierung in den untersuchten Regionen bedeutete allerdings keineswegs, „dass auch alle potenziell als ‚deutsch‘ kategorisierten Jugendlichen (regelmäßig) an ihren Aktivitäten teilgenommen oder sich als Mitglieder überhaupt erst registriert hätten" (144). Oder, so wäre hinzuzufügen, der deutschen Sprache hinreichend mächtig gewesen wären, um etwa in der Untersteiermark eine reibungslose Durchführung des HJ-Dienstes überhaupt realisieren zu können (161; 316). Eine vollständige Durchsetzung der formalen Jugenddienstpflicht gelang, wie auch im Binnenreich, in den untersuchten Gebieten bis 1945 nicht (263).

Außerdem können als Akteur:innen im vorliegenden Kontext auch jene, „primär aus den ‚ostmärkischen‘ Gauen Steiermark und Kärnten stammenden“ (28), konkreten Personen verstanden werden, die bereits „Erfahrungen“ in der HJ in Österreich respektive – vor 1938 – „im illegalen deutschnationalen oder nationalsozialistischen Aktivismus gesammelt hatten“ (154). In den besetzten Gebieten avancierten diese – häufig in den oben genannten Vereinen – zu Führungspersonal im Rahmen der NS-Jugendorganisierung. Die Studie zeigt für die handelnden Personen sowie für die Vereine, deren Führungspersonal sich oftmals aus ersteren zusammensetzte, Motive, Strategien, Umsetzungsversuche und – nicht selten – das Scheitern der Bemühungen um eine Erfassung, Erziehung und Mobilisierung der Jugend vor Ort vielfältig exemplarisch auf. In der Summe entsteht daraus ein vielschichtiges Panorama entsprechender Vollzüge in der Untersteiermark, Oberkrain und dem Mießtal. Dies schließt auch eine vertiefende Analyse der „Konkurrenz- und Kooperationsbeziehungen“ mit ein, wie sie nach dem Beginn der Besatzungsherrschaft aufzufinden waren (Kapitel 4). Hierbei wird einerseits das konkurrierende Verhältnis der HJ und ihrer RJF zu anderen NS-Instanzen berücksichtigt, die sich um Einfluss auf dem Gebiet der Formationserziehung bemühten; andererseits die neu entstehenden Kooperationsbeziehungen innerhalb der Besatzungsverwaltungen, nicht zuletzt mit den regional ansässigen Schulen. Zu diesen wurde, anders als im Binnenreich, eine enge Kooperationsbeziehung angestrebt; Personen, die gleichzeitig Funktionen in einem der genannten Vereine und der Schule übernahmen, stellten keine Seltenheit dar.

Gegenüber diesen umfassenden Schilderungen der strategischen Motive, Planungen und Inszenierungen kommen vertiefende Einblicke in die unmittelbaren „Erfahrungswelten“ (23) insbesondere der passiv involvierten Personen – Heranwachsende, die an der NS-Jugendorganisation partizipierten, ohne sie selbst entscheidend beeinflussen zu können – etwas zu kurz. So auch im letzten Kapitel der Studie, das sich explizit „der Frage nach (der Lenkung und Einschränkung von) Handlungsspielräumen und Motiven“ widmet (Kapitel 6). Darüber, was jene Heranwachsenden erlebt, empfunden und gedacht haben, die freiwillig oder gezwungenermaßen von der NS-Jugendorganisierung in den besetzten Gebieten erfasst wurden und an den entsprechenden Praxen der Formationserziehung in den Vereinen teilnahmen, erfährt man vergleichsweise wenig. Dies ist jedoch nicht zuletzt der unzureichenden Quellenlage geschuldet, auf die Matzer wiederholt hinweist (346; 379).

Letztlich kann das Fazit gezogen werden, dass trotz aller Bemühungen der Besatzungsmacht und der betreffenden Akteur:innen vor Ort, „Kontrolle und Mobilisierung“ der Jugendlichen umfassend zu realisieren, „ein gewisses Maß an jugendlichem Handlungsspielraum erhalten (blieb)“ (344). Matzer belegt dies anhand des Spektrums der Reaktionsweisen auf das NS-Inklusions(an)gebot: von einer „erfolgreichen“ Mobilisierung, „zwischen Begeisterung und Sich-Arrangieren“ (346), bis zu Phänomenen abweichenden Verhaltens, zumeist als unterschiedliche Formen und Ausprägungen eines „Sich-Entziehens“ (380) oder der Non-Konformität im Dienst, seltener auch (unterstellter) Widerstandsaktivitäten, etwa Zugehörigkeit zu Partisanengruppen.

Die Studie fußt auf einer umfangreichen empirischen Basis, die das Ergebnis einer Recherche in den einschlägigen Quellenbeständen deutscher, österreichischer und slowenischer Archive darstellt. Genutzt wurden insgesamt 21 Archive und Sammlungen. Hinzu kommt die ergänzende Auswertung von 16 Zeitungen und Periodika. Außerdem wurde ein Zeitzeugeninterview geführt. Dem hohen eigenen Anspruch, mit der vorliegenden Publikation – gerade mit Blick auf die Strategien der NS-Jugendmobilisierung einerseits und ein Aufwachsen unter Besatzungsbedingungen andererseits – „Anknüpfungspunkte“ für die Historische Bildungsforschung, „das interdisziplinäre Feld der borderland studies“ sowie „vor allem für eine transnationale und europäische Geschichte des Nationalsozialismus“ zu liefern, wird Matzer in ihrer Studie überwiegend gerecht. Insbesondere mit Blick auf die Akteursebene bietet ihre lesenswerte Arbeit eine empirisch gehaltvolle und differenziert argumentierende Darstellung der NS-Jugendorganisation in den untersuchten Gebieten.
Jakob Benecke (Mannheim)
Zur Zitierweise der Rezension:
Jakob Benecke: Rezension von: Matzer, Lisbeth: Herrschaftssicherung im „Grenzland“, Nationalsozialistische Jugendmobilisierung im besetzten Slowenien. Paderborn: Brill 2021. In: EWR 21 (2022), Nr. 2 (Veröffentlicht am 03.05.2022), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978350679185.html