EWR 21 (2022), Nr. 4 (Oktober)

Sebastian Engelmann / Bernhard Hemetsberger / Frank Jacob (Hrsg.)
War and Education
The Pedagogical Preparation for Collective Mass Violence
Paderborn: Brill Schöningh 2022
(406 S.; ISBN 978-3-506-79196-2; 129,00 EUR)
War and Education Der von Sebastian Engelmann, Bernhard Hemetsberger und Frank Jacob herausgegebene Band widmet sich mit der Verflechtung von Krieg und Bildung einem hochkomplexen Thema, das spĂ€testens seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine wieder enorm an AktualitĂ€t gewonnen hat. Schließlich sind Bildung und Erziehung auch wĂ€hrend eines militĂ€rischen Konfliktes von grundlegender Bedeutung fĂŒr die Lernenden und Lehrenden, können doch Schulen und UniversitĂ€ten ĂŒber den Unterricht hinaus einen sicheren Raum bieten, in dem Routinen vermittelt und lebensrettende Ressourcen wie Mahlzeiten und psychologische Hilfe bereitgestellt werden. Man kann also nur erahnen, was es fĂŒr die ukrainische Bevölkerung bedeutet, wenn seit Kriegsbeginn etwa 1.800 Bildungseinrichtungen entweder beschĂ€digt oder zerstört worden sind. Aber auch darĂŒber hinaus kommt dem Thema eine erhebliche Bedeutung zu, wie der US-amerikanische Erziehungswissenschaftler Thomas Woody nur wenige Monate nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in einem Aufsatz zur Verbindung von Krieg und Erziehung im 18. Jahrhundert darlegte: „War is an instrument of the national state; education, as an instrument of the national will, has been made a psychological preparative for the ultimate test of war.” [1]

Obgleich die Herausgeber nicht auf Woodys Analyse rekurrieren, lassen sich doch Parallelen erkennen, die deutlich machen, wie stark Bildung und Krieg vor, wĂ€hrend und nach einem militĂ€rischen Konflikt zusammenhĂ€ngen und einander bedingen. Mit Blick auf das im Band fokussierte 20. Jahrhundert betonen die Herausgeber, dass beide Faktoren eng miteinander verflochten waren, sich gegenseitig beeinflussten und zu kombinierten Fragestellungen einladen: Als gesellschaftliche Funktion und wichtiges Bindeglied zwischen den Generationen wird Bildung immer von der jeweiligen Zeit geprĂ€gt, von Ideologien geformt und natĂŒrlich von Menschen realisiert, die selbst unter diesen spezifischen Bedingungen erzogen wurden.

Um einen monokausalen ErklĂ€rungsansatz fĂŒr die interessen-, spannungs- und konfliktreiche Verflechtung von Krieg und Bildung auszuschließen, haben sich die Herausgeber fĂŒr einen breiten geografischen und zeitlichen Zuschnitt entschieden. Neben mehreren europĂ€ischen Staaten wie DĂ€nemark, Deutschland, Österreich, Polen und Schweden dienen auch die USA sowie China und Japan als UntersuchungsrĂ€ume fĂŒr die einzelnen Fallstudien, wodurch die Beziehung von Krieg und Bildung gleichsam als globales PhĂ€nomen deutlich wird. Mit der Wahl des 20. Jahrhunderts kommt dem Band ferner der Umstand zugute, dass die Autor:innen in ihren Analysen nicht nur die naheliegenden „hot“, sondern auch die ebenso dynamischen „cold wars“ betrachten können.

Als ordnender Rahmen fungieren weiterhin drei Sektionen, die zentralen Bereichen gewidmet sind und den Band inhaltlich strukturieren. Direkt an die Einleitung anschließend befassen sich die Autor:innen der ersten Sektion mit dem Schwerpunkt „Education for War“. Mithilfe dieses erzieherischen Ansatzes sollte in erster Linie die Bereitschaft zum Töten und die Akzeptanz, auch das eigene Leben zu riskieren, vermittelt werden. Daneben gehörten die BewĂ€ltigung der kriegsbedingten Folgen, die Einigung bestimmter Gruppen und die Konstruktion von Feindbildern zu diesem Bildungskonzept. Schließlich muss sowohl die Bereitschaft, an dem Krieg teilzunehmen, als auch die Überzeugung, dieser sei gerechtfertigt, dauerhaft geweckt, angeregt, vermittelt, popularisiert, vertieft und aufrechterhalten werden. Dabei bleibt freilich zu betonen, dass ein solches Bildungsmodell nicht nur auf einen zeitgenössischen Konflikt ausgerichtet sein muss, sondern auch dem Ziel dienen kann, kĂŒnftige Generationen mit dem Blutvergießen vertraut zu machen.
In ihren Analysen befassen sich die vier BeitrĂ€ger:innen mit ganz unterschiedlichen Aspekten: WĂ€hrend Mette Burchardt die Verbindung von Krieg und Bildung als SchlĂŒsselelement fĂŒr das VerstĂ€ndnis der Entstehung des Kulturprotestantismus in Skandinavien untersucht, widmet sich Andreas Dorrer dem Zusammenschluss der beiden Faktoren im Kinder- und Jugendtheater des deutschen Kaiserreichs. Manfred Heinemanns Beitrag nimmt dagegen die PlĂ€ne der britischen Besatzungsmacht zur Re-Education der deutschen Bevölkerung nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in den Blick. Den Abschluss der Sektion markiert der Beitrag von Bernhard Hemetsberger und Katharina Thyri, der ausgehend vom sogenannten „Sputnik Schock“ die amerikanischen Debatten zur Schulbildung und pĂ€dagogischen Ausgestaltung des Unterrichts untersucht. Vor dem Hintergrund einer Erziehungs- und Bildungsdebatte wurden in der Folge Reformen vorangetrieben und politische Agenden umgesetzt, die auf eine Vereinheitlichung des Schulwesens, der Ausbildung von Lehrenden sowie auf eine Förderung talentierter SchĂŒler:innen abzielten.

NatĂŒrlich kommt Bildung, unabhĂ€ngig ob in der Schule, UniversitĂ€t oder Ausbildung, mit dem Kriegsbeginn nicht vollstĂ€ndig zum Erliegen. Als integrale gesellschaftliche Funktion passt sich Bildung selbst wĂ€hrend einschneidender ZĂ€suren wie Revolutionen, politischen Systemwechseln oder Kriegen an ihre Umgebung an, obgleich VerwĂŒstungen, Ressourcen- und Personalknappheit oder die Erfahrung von Verlust und Tod erhebliche Auswirkungen haben können. Bildung kann u.a. dafĂŒr genutzt werden, Resilienzen gegenĂŒber Gefahren, Risiken, Tod und menschlichen Grausamkeiten aufzubauen. Schließlich mĂŒssen militĂ€rische Konflikte von einer Gesellschaft bewĂ€ltigt werden, und Bildung ist eine wichtige kulturelle Anstrengung, um dies zu erreichen.

In diesem Kontext ist die zweite Sektion mit dem Titel „Wartime Education“ zu verorten: Den Aufschlag macht Frank Jacob, der sich mit den Diskussionen der frĂŒhen japanischen Feministinnen zur Frauenbildung befasst. Daran anschließend erörtert May Jehle anhand von Schulvideos das Argument der Landesverteidigung im Rahmen des StaatsbĂŒrgerkundeunterrichts in der Deutschen Demokratischen Republik. Im Mittelpunkt des von Stefan Kessler, Raffaela Christina de Vries, Christina Rothen und Carmen Flury verfassten Beitrages steht die Ausbildung von Krankenschwestern in der Schweiz zwischen 1930 und 1955. Ein weiterer Aufsatz, aus der Feder von Julia Kurig und Esther Berner, ist dem Erziehungswissenschaftler Erich Weniger vorbehalten, der am Aufbau der westdeutschen Armee mitwirkte. Der letzte Beitrag in der zweiten Sektion stammt von Esbjörn Larsson, dessen Untersuchung dem militĂ€rischen Training von schwedischen SchulmĂ€dchen wĂ€hrend des Zweiten Weltkrieges gewidmet ist.

In der dritten Sektion „The Impact of War on Education“ wird der in der jĂŒngeren geschichtswissenschaftlichen Forschungsliteratur teilweise geĂ€ußerten Annahme nachgegangen, ein militĂ€rischer Konflikt besĂ€ĂŸe erzieherisches Potential. [2] Eine solche Perspektive akzeptiert die Tatsache des Tötens und fragt deshalb in erster Linie nach den vielfĂ€ltigen sozialen Folgen, Rechtfertigungen, Aufarbeitungen und Integrationen von Kriegen – schließlich schaffen diese einzigartige Erfahrungen, die von der Bildung aufgegriffen, aufgearbeitet und verarbeitet werden können. Die dritte Sektion konzentriert sich daher verstĂ€rkt auf die Zeitlichkeit der kriegsbedingten EinflĂŒsse hinsichtlich der Bildungsnormen, -formate und -mittel.

Martin Woda beginnt diesen Abschnitt mit einer Erörterung der geschlechtsspezifischen Aspekte der KriegspĂ€dagogik an den höheren Schulen Preußens, insbesondere in Berlin vor und wĂ€hrend des Ersten Weltkriegs. Nachfolgend beschĂ€ftigt sich Christine Ogren mit der Wahrnehmung des Ersten Weltkriegs in den USA und argumentiert, dass dieser als Katalysator fĂŒr VerĂ€nderungen in der Lehrerausbildung diente. Annette Rasmussen und Karen Andreasen dagegen thematisieren das dĂ€nische Interesse an der Ausbildung von Frauen in der Hauswirtschaft wĂ€hrend des Zweiten Weltkrieges und machen einmal mehr deutlich, wie eng die Faktoren Krieg und Bildung in dieser Diskussion miteinander verbunden waren. Der Fokus von Shaofang Wang und Kaiyi Li liegt auf den chinesischen Sommer-Trainingslagern fĂŒr Studenten in den 1920/30er Jahren, die sie vor dem Hintergrund frĂŒherer Versuche, militaristische AnsĂ€tze in die LehrplĂ€ne zu integrieren, diskutieren. Abschließend hinterfragt Joanna Wojdon das kollektive GedĂ€chtnis in Polen in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg und argumentiert, dass die bis heute Ă€ußerst hitzig gefĂŒhrten Debatten ĂŒber den Holocaust und den Weltkrieg nicht nur auf die Bedeutung des historischen Ereignisses zurĂŒckgefĂŒhrt werden können, sondern auch auf ihre UnterdrĂŒckung durch das kommunistische Regime.

Fragt man nach dem transformativen Potenzial des Bandes, so ĂŒberzeugt der globale Zuschnitt, auch wenn sich die BeitrĂ€ge zumeist auf die jeweiligen nationalen Bildungsdebatten beschrĂ€nken. Indem die Autor:innen aber Bildung im Kontext von heißen als auch kalten Kriegen mit Blick auf das gesamte 20. Jahrhundert diskutieren und der Band dabei nicht auf einer eurozentrischen Ebene verharrt, lassen sich argumentative Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den einzelnen BildungsansĂ€tzen und -reformen deutlicher erkennen, etwa indem sich LĂ€nder wie China (in ihren MilitĂ€rcamps fĂŒr Studenten) dezidiert an europĂ€ischen Methoden orientierten.

Alles in allem ist der Band argumentativ dicht, intellektuell anregend und breit gefĂ€chert, was ihn fĂŒr ein breites Publikum interessant macht. Er leistet einen aktuellen Beitrag zu einem hochkomplexen Thema, das spĂ€testens seit dem Beginn des Russisch-Ukrainischen Krieges auch in Europa wieder von enormer Bedeutung ist.

[1] Woody, T. (1945). War and Education. Bulletin of the American Association of University Professors (1915-1955), 31(4), 587.
[2] Denzler, A., GrĂŒner, S., Raasch, M., (2016). Kinder und Krieg. Von der Antike bis in die Gegenwart. De Gruyter Oldenbourg.
Martin Göllnitz (Marburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Martin Göllnitz: Rezension von: Engelmann, Sebastian / Hemetsberger, Bernhard / Jacob, Frank (Hg.): War and Education, The Pedagogical Preparation for Collective Mass Violence. Paderborn: Brill Schöningh 2022. In: EWR 21 (2022), Nr. 4 (Veröffentlicht am 11.11.2022), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978350679196.html