EWR 12 (2013), Nr. 3 (Mai/Juni)

Peter Fauser / JĂĽrgen John / RĂĽdiger Stutz (Hrsg.)
Peter Petersen und die Jenaplan-Pädagogik
Historische und aktuelle Perspektiven
unter Mitwirkung von Christian Faludi
Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2012
(512 S.; ISBN 978-3-515-10208-7; 75,00 EUR)
Peter Petersen und die Jenaplan-Pädagogik Man kann Peter Petersen wohl mit guten Gründen als den umstrittensten Reformpädagogen der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts bezeichnen. Kaum ein anderer polarisierte die pädagogischen Diskussionen nach 1945 so sehr wie er. Im Fokus der zahlreichen Kontroversen standen und stehen dabei weniger sein schulpädagogisches Konzept des Jenaplans, sondern zum einen dessen erziehungsphilosophische Begründungen samt ihrer semantischen Veränderungen im Verlauf verschiedener politischer Systeme und zum anderen speziell Peter Petersens Verhalten als Reformpädagoge und Hochschullehrer während der NS-Diktatur. Diese Kontroversen sind bis heute weder anachronistisch noch geschlichtet.

Man kann im Gegenteil von einer Renaissance der Petersen-Kontroversen sprechen, die längst ihren bildungshistorischen Rahmen gesprengt und − zumindest in Jena − scharfe tagespolitische Kontroversen ausgelöst hatten, die schlieĂźlich in die Umbenennung des ehemaligen „Petersenplatz“ mĂĽndeten. Diesem lokalpolitischen Kontext konnte sich auch der vorliegende Sammelband nicht ganz entziehen. Das merkt man zwar den einzelnen Beiträgen nicht spĂĽrbar an, aber die Herausgeber haben doch deutlich auf die lokalpolitischen Aufgeregtheiten im Vorfeld der Tagung hingewiesen, ohne sie in den Vordergrund zu schieben. Ihr Anliegen war es nämlich gerade, „eine engere lokalgeschichtliche Perspektive“ (9) zu vermeiden und Petersens Wirken in nationalen und internationalen Zusammenhängen erneut zu untersuchen. Ein Spezifikum des Buches besteht darin, dass hier bewusst nicht − wie in der Vergangenheit häufig − Petersen als Erziehungstheoretiker im Mittelpunkt steht, sondern a) die pädagogische Praxis der Universitätsschule, b) seine universitären Handlungsfelder − Lehrerbildung, Erziehungswissenschaftliche Anstalt und Universitätsschule − sowie c) seine Denkmuster, Verhaltensweisen und die personellen Netzwerke, in denen Petersen in unterschiedlichen politischen Systemen agierte.

Um es vorwegzunehmen: Im Gegensatz zu anderen Tagungsbänden wurden hier nicht einfach die Vortragsmanuskripte nachgedruckt, sondern die Referate wurden zum Teil erheblich ergänzt, thematisch erweitert und durch neue Archivstudien in der Zeit zwischen Vortrag und Veröffentlichung ausgebaut. Der Workshop legte damit zwar die Grundlage des Buches, aber es ist nicht sein Spiegelbild. Ohne Zweifel hat der Band damit an beachtlicher Qualität gewonnen. Die Herausgeber haben ihn chronologisch in drei Hauptkapitel gegliedert, nämlich mit Beiträgen zur Weimarer Zeit, zur Zeit der NS-Diktatur und schließlich für die Zeitspanne von 1945 bis 1991. Die insgesamt zehn Beiträge werden am Ende durch ein Kapitel abgerundet, das in dokumentarischer Absicht zahlreiche neue Bildmaterialien zu Peter Petersen und der Praxis der Jenaplan-Pädagogik enthält.

Franz-Michael Konrad eröffnet die Aufsatzsammlung mit einer Rekonstruktion der Entstehungshintergründe des „Kleinen-Jena-Plans“ im Vorfeld des 4. Kongresses der New Education Fellowship, der im August 1927 in Locarno stattfand. Jürgen John, ein exzellenter Kenner der thüringischen Regionalgeschichte, beleuchtet Petersens pädagogische Handlungsfelder von 1923 bis 1933, nämlich das Gebiet der Lehrerbildung, die Entwicklung der erziehungswissenschaftlichen Anstalt und die der Universitätsschule. Ihrer Gründung und ihren Anfängen ist auch der Beitrag von Peter Fauser gewidmet. Er unterzieht die Schule Petersens in einem Gedankenexperiment einer demokratiepädagogischen Qualitätsanalyse und kommt zu dem Ergebnis, dass sie nach heutigen Kriterien in ihrer pädagogischen Praxis zu den besten und demokratiefähigen Schulen zu rechnen sei. Gleichzeitig betont Fauser aber auch, Petersens „Pädagogik und sein Schulkonzept bleiben demokratiepolitisch und demokratietheoretisch unterbestimmt“ (226). Das erscheint widersprüchlich und ist es auch, aber diese Widersprüchlichkeit liegt in erster Linie in der Person Petersens, seinen Denkmustern und Verhaltensweisen und nicht in einer kurzschlüssigen Argumentation des Interpreten. Der Leser begegnet diesem Phänomen in fast allen der hier vorliegenden Beiträge, etwa in dem von Justus H. Ulbricht, der die vielfältigen Volksbildungskonzepte der Weimarer Zeit samt ihren konzeptionellen Gegensätzen unter die Lupe nimmt und Petersens Position hier verortet.

Vor dem Hintergrund der Petersen-Kontroversen der letzten Jahrzehnte erhalten natĂĽrlich die Beiträge ĂĽber die NS-Zeit eine besondere Brisanz. Sie zeigen vor allem, wie schnell die Rede von der „volklichen“ Bildung in die Propagierung „völkischer“ Bildung seit 1933 umschlagen konnte und Petersen steht hier nur als ein Exempel fĂĽr viele Protagonisten aus dem BildungsbĂĽrgertum. Und dennoch machen die quellengestĂĽtzten und luziden Beiträge von Hans-Christian Harten, Hein Retter und RĂĽdiger Stutz ĂĽber Petersens Agieren in der NS-Zeit dem Leser klar, dass man Petersen weder eindeutig als NS-Pädagogen abstempeln kann, aber dass auch keine Rede davon sein kann, Petersen habe durch semantische Anpassungen sein liberales Schulmodell der Jenaplan-Pädagogik retten und den NS-Machthabern als Modell einer nationalsozialistischen Schulpolitik andienen wollen. Aber auch hier sticht die WidersprĂĽchlichkeit in Petersen Verhalten ins Auge. Hans-Christian Harten zeigt auf der Basis grĂĽndlichen Quellenstudiums wie stark Petersen persönlich in SS-nahe akademische Netzwerke eingebunden war, er weist nach, dass eine beachtliche Zahl von Petersen-SchĂĽlern im SS-Schulungswesen Karriere gemacht hatte. Parallel dazu steht aber auch Hein Retters Befund, dass die Universitätsschule Petersens während der NS-Diktatur fĂĽr Kinder jĂĽdischer, sozialdemokratischer und kommunistischer Eltern eine Art Schutzraum gebildet hatte. Die Herausgeber interpretieren diese WidersprĂĽchlichkeit als „eine ebenso ambivalente wie illusionäre Doppelstrategie“ (9), nämlich sich dem NS-Regime anzudienen, um damit gleichzeitig seine eigene pädagogische Eigenständigkeit bewahren zu können. Sie diskreditiert in politisch-moralischer Hinsicht − so Harten − Petersen als Hochschullehrer, aber noch nicht per se das schulpädagogische Konzept des Jenaplans.

Vielleicht liegt hier der Schlüssel zum Verständnis der Petersen-Kontroversen nach 1945, die in Ansätzen im dritten Teil aufgegriffen werden. Marc Bartuschka rekonstruiert Petersens Pläne, unmittelbar nach 1945 wieder in Jena, Halle und Bremen beruflich Fuß zu fassen. In rezeptionsgeschichtlicher Perspektive fasst Will Lütgert die Kontroversen um den Jenaplan und Petersens Pädagogik von 1952 bis 1990 auf der Basis der Forschungen von Torsten Schwan und Hein Retter zusammen. Der abschließende Aufsatz konfrontiert den Leser mit den zeitgeschichtlichen Ereignissen, die sich 1990/91 in Jena rund um Petersen abgespielt hatten. Er thematisiert die heute noch umstrittene Ehrung Petersens, die publizistische Renaissance des Jenaplans und die Gründung der örtlichen Jenaplan-Schule.

Was bleibt? Ein gelungener Band, an dem die künftige Petersen-Forschung sich messen lassen muss und die nun neu bekräftigte Erkenntnis, dass Peter Petersen für persönliche Ehrungen heute endgültig diskreditiert ist, die Jenaplan-Pädagogik mit Blick auf ihre liberalen Ursprünge und ihre pädagogische Praxis dagegen nicht, so das Fazit der Autoren. Gibt es aber wirklich einen gordischen Knoten zwischen der schulpädagogischen Praxis, der Erziehungstheorie und dem politischem Verhalten eines Theoretikers oder lassen sich Werk und Person völlig trennen? Die Frage wird vermutlich die Petersen-Forschung auch künftig weiterhin beschäftigen.
Peter Dudek (Frankfurt am Main)
Zur Zitierweise der Rezension:
Peter Dudek: Rezension von: Fauser, Peter / John, JĂĽrgen / Faludi, RĂĽdiger Stutz unter Mitwirkung von Christian (Hg.): Peter Petersen und die Jenaplan-Pädagogik, Historische und aktuelle Perspektiven. Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2012. In: EWR 12 (2013), Nr. 3 (Veröffentlicht am 28.05.2013), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978351510208.html