EWR 21 (2022), Nr. 4 (Oktober)

Claudia Roesch
Wunschkinder
Eine transnationale Geschichte der Familienplanung in der Bundesrepublik Deutschland
Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2022
(323 S.; ISBN 978-3-525-35697-5; 70,00 EUR)
Wunschkinder „Die Figur des Wunschkindes besaß eine so wirkmächtige Ausstrahlung, dass sich weder konservative Politiker*innen, [sic] noch Eugeniker*innen oder Frauenrechtler*innen ihm widersetzen konnten“ (107). So beschreibt Claudia Roesch das Wunschkindparadigma, das seit den 1950er Jahren das Bild des westdeutschen Familienideals prägte und das Konzept der Familienplanung mitstrukturierte. Die Familie wurde zu einem planbaren Projekt, das bewusst geplante Kind zu einer positiv konnotierten Figur, die Sehnsüchte und vermeintliche Sicherheiten mit dem aktuellen Stand reproduktiven Wissens kombinierte und somit als Gegenansatz zum ungewollten Kind propagiert wurde.

Die vorliegende Studie ist das Ergebnis eines Forschungsprojekts, das im Rahmen des Münsteraner Sonderforschungsbereichs „Kulturen des Entscheidens“ initiiert und am Deutschen Historischen Institut in Washington abgeschlossen wurde. Genau wie die geografische Reise des Projekts selbst richtet sich auch der Inhalt des Werkes auf die Verwobenheit der Bundesrepublik Deutschland mit den Vereinigten Staaten von Amerika. Der Fokus liegt darauf aufzuzeigen, wie sich die Implikationen des Kinderkriegens transnational gewandelt haben und sich besonders in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sowohl emanzipatorische als auch eugenische Momente aufzeigen lassen.

Auf welchen Werten basierte die Konzeption der Familienplanung? Wie wurde das Wissen über Familienplanung transnational produziert? Wie zirkulierte es und wie gelangte es in entsprechende Institutionen? Welchen Einfluss übten rechtliche, mediale und technologische Veränderungen auf die Unterstützung der Konzeption aus? Wer verbreitete das Konzept der Familienplanung und welche gesamtgesellschaftlichen Wandlungsprozesse spiegeln sich in dieser Verbreitung wider? Dies sind einige wenige Fragen, denen sich Claudia Roesch in ihrer Monografie widmet. Als Hauptquellen der Studie dienen der Autorin die Akten des Planned Parenthood National Headquarters und des Pro-Familia-Verbandsarchivs sowie die Nachlässe Margaret Sangers und des Pro-Familia-Mitbegründers Hans Harmsen, die für die Analyse durch zusätzliche Akten ergänzt wurden. Wichtig erscheint in diesem Zusammenhang, dass die Personen Sangers und Harmsen – die eng mit der Planned Parenthood Federation und Pro Familia liiert waren – einer kritischen Analyse unterzogen werden. Dabei geht es vor allem um deren (bereits in mehreren Studien kontrovers diskutierte) Nähe zur Eugenikbewegung sowie Harmsens Rolle im Nationalsozialismus.

Verfolgt wird ein geschlechtergeschichtlicher Ansatz, der zivilgesellschaftliche Expert*innen aus der Peripherie der Geschichtsschreibung in den Mittelpunkt rückt und gezielt „nach den Rahmenbedingungen des reproduktiven Selbstentscheidungssrechts [sic] von Frauen fragt […]“ (25). Wissensproduktion wird von der Autorin als etwas historisch Gewordenes verstanden; sie unterliegt somit komplexen und fluiden Prozessen, die lokal verankert sind. Aus diesem Grund erscheint es spannend, solch lokal produziertes Wissen in einen transnationalen Zusammenhang zu stellen, um dessen Zirkulation innerhalb heterogener Gruppen zu verstehen. Ist Wissen Macht? Inwieweit kann reproduktives Wissen Frauen dazu verhelfen, über ihren eigenen Körper zu entscheiden? Welche Interessen werden gestärkt, wenn bewusst Wissen über Nebenwirkungen von Verhütungsmitteln zurückgehalten wird?

Besonders in der Zeitspanne von 1952 bis 1992 wurde die Praxis des reproduktiven Entscheidens zum strukturierenden Moment der westdeutschen Gesellschaft. Durch die Verfügbarkeit zulässiger Verhütungsmittel konnte das Kinderkriegen als Ergebnis von Entscheidungen verstanden werden. Aus diesem Grund gliedert Claudia Roesch ihre Monografie in vier Ebenen der Entscheidungen auf. Dem voran geht ein Prolog über transnationale Netzwerke in der amerikanischen Birth-Control-Bewegung und der Sexualreformbewegung der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus, die die Grundbausteine für die Konzeption der Familienplanung legten (Kapitel 1). Der von der Autorin gewählte transnationale Ansatz kommt innerhalb der einzelnen Kapitel immer wieder zum Tragen, indem Verstrickungen wie der persönliche Austausch zwischen amerikanischen und westdeutschen Expert*innen über reproduktives Wissen dargelegt werden. Die Verwobenheit mit weiteren Organisationen aus anderen Kontexten wird in dieser Studie vernachlässigt.
Die Ebene 1 der Entscheidungen bezieht sich auf die Frage, was dazu geführt hat, dass Familien überhaupt bewusst geplant werden wollten. Dabei werden unter anderem Debatten um globale Überbevölkerung betrachtet, die Einzug in die ersten Kampagnen von Planned Parenthood fanden (Kapitel 2). Dieses amerikanische Konzept wurde mit der Gründung der Pro Familia nach Deutschland überführt (Kapitel 3).

Die Ebene 2 fokussiert die Frage nach den Mitteln, mit denen Familienplanung zu betreiben war. Beleuchtet werden in diesem Kontext Debatten um die Zulässigkeit von Sterilisationen, der offensichtlich diskriminierende Umgang mit Minderheiten (Kapitel 4) und die Frage, welche Verhütungsmittel – insbesondere seit der Einführung der Anti-Baby-Pille – für welche Personengruppen zugänglich sein sollten (Kapitel 5). In den 1960er und 70er Jahren kam es zu Kontroversen zwischen Mediziner*innen, der neuen Frauenbewegung und Pharmaunternehmen, die die Freiwilligkeit von Sterilisationen und die Sicherheit der Pille in den Fokus stellten (Kapitel 6).

Die Ebene 3 dreht sich um den potenziell „richtigen“ Zeitpunkt für eine geplante Schwangerschaft und um die Reform für legale Abtreibungen bei ungewollten Schwangerschaften (Kapitel 7). Diese Debatten um die Legalisierung von Abtreibungen wurden in den 1980er Jahren in der Schwangerschaftskonfliktberatung sowie der Anti-Abtreibungsbewegung weitergeführt (Kapitel 8). Ein Detail dieser Kontroversen liegt in der Idealisierung des Embryos, die den Körper der schwangeren Person hinter den des Ungeborenen rückt.

Die Ebene 4 umfasst das Thema neuer Reproduktionstechnologien, das beim Ausbleiben einer gewünschten Schwangerschaft bedeutend werden kann. Diese Ebene, die besonders ab den 1990er Jahren zum Tragen kam, bleibt jedoch innerhalb des Buches unbeachtet. In einem abschließenden Fazit resümiert Claudia Roesch ihre Studie in vier Hauptthesen: 1. Das Prinzip des Wunschkindes wurde handlungsleitend für Programme zur Familienplanung (1940er bis 1980er Jahre). 2. Der Verein Pro Familia war zentral für die Einführung des Konzepts in der Bundesrepublik Deutschland. 3. Die Auseinandersetzung mit der Geschichte der Familienplanung zeigt das Spannungsverhältnis zwischen emanzipatorisch-feministischen und bevölkerungspolitisch-eugenischen Ideen auf. 4. Wissen wurde im Verlauf des 20. Jahrhunderts zur wichtigsten Ressource für reproduktives Entscheiden.

Die Monografie stellt einen großen Mehrwert für die Auseinandersetzung mit menschlicher Reproduktion dar, weil die Autorin durch die gezielte Arbeit mit Akten die historische Genese eines Konzepts präsentiert, das bis heute in den beiden diskutierten Organisationen und darüber hinaus wirksam ist. Die Studie schlägt eine Brücke zwischen Diskursen um die Errungenschaften der Frauenbewegungen (inklusive der sich daraus ergebenden Konzepte von Elternschaft) und Diskursen um Möglichkeiten und Grenzen neuer Reproduktionstechnologien. Für weitere Forschungsprojekte könnte sich folglich die von der Autorin herausgearbeitete Ebene 4 als fruchtbar erweisen, die das Wunschkind als planbare Figur im Zusammenhang mit den Potenzialen neuer Reproduktionstechnologien betrachtet. Dies erscheint deshalb zentral, da eine solche Analyse an bereits bestehende Diskussionen um die Begriffsverschiebung vom „Retortenbaby“ zum „Wunschkind“ anknüpfen könnte. Die bis in die 1990er Jahre verbreitete Bezeichnung des „Retortenbabies“ fokussierte sich auf die artifizielle Zeugung des Embryos, die mit steigender Routine zugunsten eines Bedürfnisses der Eltern durch den Begriff des „Wunschkindes“ abgelöst wurde [1]: Wie ließen sich die von Claudia Roesch herausgearbeiteten Implikationen des Wunschkindes im Kontext dieser Diskurse um Eizellspenden und Leihmutterschaft weiterzeichnen?

Die Analyse zeigt, dass das Konzept der Familienplanung ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts handlungsleitend wurde, wobei die Frauen reproduktive Entscheidungen zwischen Aufopferung und Selbstverwirklichung treffen mussten. Deutlich wird dabei die enge Verwobenheit von privaten, individuellen Wünschen, beratenden zivilgesellschaftlichen Expertisen und den jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnissen. Erst durch das Öffnen der Perspektive auf transnationale Verstrickungen können zugrunde liegende Mechanismen, Glaubenssätze und Überzeugungen sichtbar gemacht und somit zur Diskussion gestellt werden. Claudia Roesch gelingt es mit ihrer geschichtlichen Analyse, mögliche Ursprünge vorherrschender Familienideale zu entlarven und deren Ambivalenzen diskutierbar zu machen. Neben konservativen Idealen können sich durch neue Reproduktionstechnologien zudem Perspektiven auf soziale Neuordnungen von Familie ergeben. Dies ist vor allem im Kontext der Erziehungswissenschaft von zentraler Bedeutung. Dabei wäre es sowohl für die vorliegende als auch für weitere Studien wünschenswert, die Perspektiven queerer Menschen vermehrt in den Mittelpunkt zu rücken, um nicht in der binären Denkstruktur von weiblich und männlich zu verharren.

[1] Bernard, A. (2014). Kinder machen. Neue Reproduktionstechnologien und die Ordnung der Familie. Samenspender, Leihmütter, Künstliche Befruchtung: S. Fischer; Mettele, G. (2018). Kinder wünschen – Mütter leihen. Geschlechtergeschichtliche Ãœberlegungen zur Familie und ihrer Machbarkeit. Impulse aus Recht, Theologie und Medizin. In E. Schramm & M. Wermke (Hrsg.), Leihmutterschaft und Familie (S. 25–35). Springer.
Aileen Graf (Kassel)
Zur Zitierweise der Rezension:
Aileen Graf: Rezension von: Roesch, Claudia: Wunschkinder, Eine transnationale Geschichte der Familienplanung in der Bundesrepublik Deutschland. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2022. In: EWR 21 (2022), Nr. 4 (Veröffentlicht am 11.11.2022), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978352535697.html