EWR 9 (2010), Nr. 4 (Juli/August)

Petra Jung
Kindertageseinrichtungen zwischen pädagogischer Ordnung und den Ordnungen der Kinder
Eine ethnografische Studie zur pädagogischen Reorganisation der Kindheit
Wiesbaden: VS Verlag fĂĽr Sozialwissenschaften 2009
(270 S.; ISBN 978-3-531-15813-6; 34,90 EUR)
Kindertageseinrichtungen zwischen pädagogischer Ordnung und den Ordnungen der Kinder Letztens hat Martin Walser zwei Arten der Kritik ausgemacht: eine mütterliche und eine väterliche Weise, sich Büchern zu nähern. Erstere sei aufbauend und bringe den Menschen weiter, während die väterliche Variante oft von gar zu harter Strenge zeuge, die bisweilen destruiere. Und wenn im hier zu besprechenden Buch – der Dissertation von Petra Jung, Jahrgang 1957, die an einer ErzieherInnen-Fachschule in Saarlouis unterrichtet, - wenn also in diesem Buch hauptsächlich von Kindern die Rede ist, dann dürfte es naheliegen, dass im Folgenden die mütterliche Betrachtung überwiegt.

Es sind spannende Fragestellungen, die die Autorin entwickelt: Wie eigentlich gelingt es Kindern unter Bedingungen vergesellschafteter Kindheit Eigensinn zu besitzen beziehungsweise aufrechtzuerhalten? Wie ist es möglich, dass in Kindertageseinrichtungen, die ja auch verordnete Kinder-Gettos darstellen, ganz junge Menschen eine eigene Ordnung entfalten? Und wie eigentlich sind diese beiden Ordnungen - nämlich die der Institution und die sozusagen natur- und sozialisationsvermittelte ihrer Besucher -, wie sind sie miteinander austariert?

Der Aufbau des Buches ist schlüssig: Ausgehend von der Frage der Rationalität institutionalisierter Erziehung und Bildung werden unterschiedliche Ansätze organisationstheoretischer Art diskutiert. Daran anschließend wird der methodische Zugang zu dem in dieser Studie beforschten Kindergarten beschrieben, und zwar in seiner partikular und regional bestimmten, örtlichen Integriertheit ebenso wie in seiner Zugehörigkeit zum kirchlichen Träger.

Entsprechend methodologischer Gedanken werden zwei unterschiedliche Stränge ethnografischer Beschreibungen entwickelt, die in ihrem Bezug aufeinander Aufschluss darüber geben, wie sich der Erfahrungsraum Kindergarten konstituiert. So wird der Frage nachgegangen: Wodurch ist die Kommunikation zwischen Mitgliedern gleicher und verschiedener Altersgruppen gekennzeichnet, welche Kontexte normieren und strukturieren die spezifischen Formen der Begegnung? Auch die Bemühungen um Verbesserungen innerhalb des Kindergartens spielen hierbei eine Rolle.

Im letzten Kapitel des Buches werden die Erträge der ethnografischen Beschreibungen bilanziert. Die Autorin betont, dass sich hiermit Aussagen über den Wandel von Kindheit gewinnen ließen.

Seit vielleicht zwanzig Jahren ist der Kindergartenbesuch zur Regelerfahrung geworden; zu Hause bliebe man ohne gleichaltrige Kontakte. So aber hat sich auch die Erwartungshaltung von Kindern, Eltern, Trägern, Öffentlichkeit und Politik an das Geschehen im Kindergarten verändert. Es ist ein deutlicher Trend zu einer - überregional sich abzeichnenden - Professionalisierung auszumachen. Damit gehen Standardisierung und Festschreibung von Verfahren, Abläufen und Settings in den Tagesgeschehen von Kindergärten einher. Dies betrifft selbstverständlich nicht nur die Struktur, sondern auch die inhaltlich-pädagogische Fokussierung: Die Leitidee der Selbsttätigkeit und Selbstständigkeit der Kinder wird darauf bezogen, dass Kinder mehr denn je ihre Entwicklung unter Gleichaltrigen vorantreiben. Das bringt auch eine Abkehr von traditionellen Vorstellungen der Tätigkeit der ErzieherInnen mit sich. Es sind die kindzentrierten Momente, die sie zuungunsten der reinen Erwachsenenbezogenheit arrangieren müssen, und die sich in hohem Maße als Bildungspotenziale erweisen. Erst dann wird möglicherweise etwas von der heute nachdrücklich formulierten Zielsetzung wahr, Bildungsprozesse zu begleiten, die so nur im Kindergarten stattfinden.

Ob und wie nun alle diese neuen Anforderungen in den Ausbildungsgängen der einschlägigen Fachschulen angekommen sind, ist ein anderes Thema. Gegenstand des Buches vielmehr ist der „heimliche Lehrplan“; mit diesem Stichwort hat man vor gut dreißig Jahren institutionelle Bildung danach befragt, was wirklich gelernt wird. Das Ergebnis seinerzeit war die Beobachtung eines verbreiteten arbeitnehmerähnlichen Lernverhaltens vieler Schüler; getreu dem Motto: „Das Schönste im Leben sind die Pausen“. Vor allem für LehrerInnen war der Befund brüskierend, dass intendierte Lehrpläne und Lernziele nicht, ganz anders oder gar gegenteilig realisiert worden sind.

Nun ist der Kindergarten weder Schule noch Hochschule. Aber nicht alle Parallelen verbieten sich. Nehmen wir beispielsweise den Bachelor, ein Bildungsabschluss, der europaweit Vergleichbarkeit gewährleisten soll. Und schauen wir uns Lern- und Entwicklungsdokumentationen über Vorschulkinder an, die sich mittlerweile einer bundesweiten Beliebtheit erfreuen. Neu hinzu gekommen sind Materialmappen und -sammlungen, die die Kinder gemeinsam mit ihren ErzieherInnen erstellen. In ihnen ist eine größtenteils dreijährige Erfahrungs- und Lernzeit gebündelt, an die sich die meisten Kinder wie auch ihre Eltern (gerne) erinnern beziehungsweise sich mit ihr auseinandersetzen. Am Ende steht der Übergang zur Schule, der Beginn des „Ernst des Lebens“, der sich jedoch ohne seine Kindergarten-Vorgeschichte nicht mehr denken lässt. Folgerichtig sind auch die Grundschulen inzwischen darauf erpicht, von den ersten Lernschritten der Kinder etwas mit zu bekommen.

So konstatiert die Autorin die wachsende Professionalisierung und Pädagogisierung des Systems Kindergarten. Hier implementiert werden Ordnungen, in denen sich die Generationen aufeinander beziehen. Dabei können pädagogische Ideale, wie Mündigkeit, Toleranz oder Mut nur eine begrenzte Rolle spielen, denn zunächst kommt es auf die Verstetigung von Ordnungen an, ohne die sich schwerlich Erfahrungen machen lassen. Es entspricht der Alltagsbeobachtung im Kindergarten, dass es gerade die „starken“ Kinder sind, die von fehlenden Strukturen profitieren. Die Kinder dagegen, deren Entwicklungspotenziale bei Weitem nicht ausgeschöpft sind, können ihre „Selbstsozialisation“ nicht vorantreiben, wenn sie nicht auf eigene oder fremde Ordnungen zurückgreifen dürfen. Solche Ordnungen, seien sie nun von den Erwachsenen gesetzt oder etwa von den Kindern selbst entwickelt, solche Ordnungen bereiten einen Boden für die Selbstständigkeit der Kinder. Voraussetzung ist die Revidierbarkeit von Ordnungen, die auch als ein Aushandlungsergebnis der Generationen ihre Gültigkeit konstituieren. Sicherlich sind die ErzieherInnen als Verhandlungspartner zunächst einmal geschickter, aber merke: Kinder lernen sehr schnell.

Die intergenerationale Kommunikation im Kindergarten ist - und bleibt wohl auch perspektivisch - asymmetrisch. Trotzdem gilt es, partizipatorische Tendenzen zu registrieren. In der kleinen Welt des Kindergartens findet das so statt: Es wird zum Beispiel ein „Wunsch-Essen“ der Kinder kreiert, Kinder werden zur Gestaltung des Außengeländes gefragt oder Kindermeinungen werden mit ein bezogen, wenn es um die Erstellung des Wochenplanes geht. Das alles sind vielleicht Kleinigkeiten, die aber so vor nur zehn Jahren noch nicht an der Tagesordnung waren.

Die Dissertation der Autorin stellt Perspektivität und Qualität als Schlüsselbegriffe einer Theorie des Kindergartens dar. Dem Begriff der Perspektivität kommt dabei die Funktion zu, in den Figurationen von Ordnungen eine erfahrungsweltliche Form der Erziehung zu identifizieren und damit Erziehung als ubiquitäres, entpersonalisiertes Generationenverhältnis zu beschreiben. Warum angesichts dieser Zuschreibungen der Begriff der Sozialisation wie ein „unanständiges“ Wort gemieden wird, erschließt sich dem Rezensenten nicht wirklich.

Sei es drum, die Rede von der Qualität der Kindertagesstätten vernimmt man gerne. Die erste große Kindergartenreform, wie sie beispielsweise in den siebziger Jahren etwa in Nordrhein-Westfalen oder in den bundesdeutschen Stadtstaaten ins Leben gerufen worden war, zeitigte durchaus ambivalente Ergebnisse. Ähnlich wie in der Sozialarbeit stammten große Teile des Personals noch aus vor-professionellen Zeiten; und es ließ sich nicht per Federstrich ein Paradigmenwechsel verordnen. Gleichwohl schwante allen Beteiligten, dass es ein „Weiter-so“ nicht geben konnte.

Für die Gegenwart gilt: Die Einbezugnahme von Kindern und ihren Familien ist deutlich fokussiert, auch weil die Kita zu einer Anlaufstelle für alle Sorgen und Nöte ihrer Besucher geworden ist. Der Weg der Kitas zu Kinder- und Familienzentren ist vorgezeichnet. Nur so - und natürlich mit entsprechender Ressource ausgestattet - können sie den modernen Anforderungen einer Gesellschaft gerecht werden, die im Inneren immer weniger zusammengehalten wird. Und die darauf angewiesen ist, dass Erziehung, Sozialisation, Betreuung und Versorgung von Kindern schon lange keine Privatangelegenheit mehr ist. Die Kita, und das, was in ihr passiert, ist eine öffentliche Aufgabe.

Wenn eingangs von den mütterlichen und väterlichen Buch-Kritiken die Rede war, soll nicht verschwiegen werden, dass die Lesbarkeit des Buches Verbesserungen verträgt. Bücher sollten nicht gelesen werden, weil sie gelesen werden müssen. Was die mütterliche Seite der Betrachtung angeht, so wünschte ich mir einen kleinen, pointierten Aufsatz der Autorin. Ich bin mir sicher, ich käme auf meine Kosten.
Michael Köhler (Bremen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Michael Köhler: Rezension von: Jung, Petra: Kindertageseinrichtungen zwischen pädagogischer Ordnung und den Ordnungen der Kinder, Eine ethnografische Studie zur pädagogischen Reorganisation der Kindheit. Wiesbaden: VS Verlag fĂĽr Sozialwissenschaften 2009. In: EWR 9 (2010), Nr. 4 (Veröffentlicht am 10.08.2010), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978353115813.html