EWR 8 (2009), Nr. 3 (Mai/Juni)

Elmar Drieschner
Bildungsstandards praktisch
Perspektiven kompetenzorientierten Lehrens und Lernens
Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2009
(178 S.; ISBN 978-3-531-16455-7; 24,90 EUR)
Bildungsstandards praktisch Mit ihren Beschlüssen von 1997 und 2002 ebnete die Kultusministerkonferenz den Weg für Bildungsstandards. Diese definieren Anforderungen an das Lehren und Lernen in Form von Kompetenzen [1]. Auf den unterschiedlichen Ebenen des Bildungssystems sind an Bildungsstandards verschiedene Funktionen geknüpft. Auf der Systemebene bildet sie mit der klaren Festlegung von Kompetenzzielen das inhaltliche Programm, an welches sich Maßnahmen zur Zielüberprüfung anschließen. Damit stellen sie (politische) Steuerungsinstrumente dar. Auf der schulischen Ebene sind die verpflichtenden Curricula als Kernbestandteile der Fächer und Domänen in eine erweiterte Gestaltungsautonomie der Schulen eingebettet. Schließlich bilden sie für Lehrkräfte, Eltern und Schüler einen Referenzrahmen der zu erwerbenden Kompetenzen, der gleichsam zur Unterrichtsplanung und zu Evaluationen herangezogen werden kann. Indem so definierte Standards als kriterienorientierte Bezugsnormen für Evaluationszwecke auf den verschiedenen Ebenen dienen können, enthalten sie ein Kontrollversprechen, welches über die Lernzieldiskussion der 1960er und 1970er hinausweist und von der wissenschaftlichen Diskussion aufzugreifen ist.

In der Literatur konstituierten sich bislang verschiedene Schwerpunkte der Diskussion: Standen am Anfang vermehrt deren Legitimation und bildungstheoretische Begründung im Vordergrund und damit auch Fragen der Konzeption, sind in neueren Arbeiten ebenfalls Befunde zu deren Implementation und Wirksamkeit aufzufinden [2, 3]. Veröffentlichungen, die das Konzept der Bildungsstandards in allgemein didaktischer Hinsicht konkretisieren, sind bislang mit wenigen Ausnahmen [z.B. 4] ein Desiderat geblieben. Dies ist um so erstaunlicher, als Lehrkräfte täglich vor der Herausforderung stehen, Bildungsstandards für Einheiten und Stunden kleinzuarbeiten und damit die Brücke zu schlagen zwischen den programmatischen Zielvorgaben und ihrer unterrichtlichen Umsetzung. Mit seinem Buch ‚Bildungsstandards praktisch‘ versucht Elmar Drieschner diese Lücke zu schließen. Vorweg bleibt zu betonen: Dies ist nach Meinung des Rezensenten in allen Teilen gelungen und ein höchst anregendes Buch entstanden, das förmlich nach Bleistift und Textmarker verlangt, um wichtige Stellen zu kennzeichnen.
Das Buch ist in sechs Kapitel gegliedert. In der Einleitung, die zugleich als erstes Kapitel ausgewiesen ist, beschreibt Drieschner die Verknüpfung von Kompetenzorientierung und Standardisierung als neues Element in der deutschen Bildungsdiskussion und führt sie als Reaktion auf TIMSS und PISA zurück. Daraus hervorgehend arbeitet er das Problem heraus, dass Schulen und Lehrkräfte innerhalb ihrer erhöhten Verantwortlichkeit aus den Standards aufgefordert sind, fachliche, fachdidaktische und pädagogische Konsequenzen zur Verbesserung des schulischen Lernangebots abzuleiten. Ihnen erwächst damit eine Aufgabe, zu welcher die Unterstützung durch Fortbildungen und Handbücher kaum im hinreichenden Maß gewährleistet ist.

Das zweite Kapitel arbeitet vorab die Funktionen der Bildungsstandards heraus und beschreibt deren Doppelfunktion als zugleich bildungspolitisches und unterrichtliches Gestaltungsinstrument. Eine kurze Chronologie der Einführung von Standards geht ihrer Verortung in der neuen Steuerungsdiskussion voraus. Weil Bildungsstandsstandards Gelingensansprüche an das Lehren und Lernen in der Schule formulieren, setzen sie Normen, die den Unterrichtsprozess leiten sollen und auf Kompetenzleistungen der Schülerinnen und Schüler zielen. Die Nationalen Bildungsstandards werden so als ‚performance standards’ gekennzeichnet. Sie stehen zusammengefasst für die klare Festlegung von Kompetenzzielen, die Ermöglichung der Zielerreichung durch geeignete didaktische und schulorganisatorische Arrangements sowie für die Überprüfung der festgelegten Kompetenzen (29). Am Rande sei hier erwähnt, dass in den Ländern der Bundesrepublik die Standards unterschiedlich umgesetzt wurden: Während die meisten Bundesländer sich am domänenspezifischen Begriff der Nationalen Standards orientieren, auf den sich auch Drieschner bezieht, gibt es auch Bundesländer, die einen formal-definierten Standardbegriff ihren Entwicklungen zugrunde legen. Die Umsetzungsproblematik, auf die der Autor zielt, bleibt in beiden Standardkonzepten latent. Drieschner greift nachfolgend die Diskussion um Schulautonomie und eigenverantwortliches Lehren und Lernen auf und klassifiziert die den Schulen zuwachsende Eigenverantwortlichkeit als Anpassungsleistung, weil den Bildungsstandards keine didaktisch-methodische Aussage im engeren Sinne eingeschrieben ist. Innerhalb der datenbasierten Steuerung stehen Bildungsstandards für eine neue Verknüpfung von unterrichtlicher und schuladministrativer Ebene, die ihnen gleichsam die zweifache Aufgabe zuweist, Zielkriterium und Reflexionsmaßstab zu sein.

Im dritten Kapitel wendet Elmar Drieschner den Blick von der Funktion auf die Konzeption der Bildungsstandards und beleuchtet das ihnen eingeschriebene funktional-pragmatische Bildungsverständnis aus historisch-systematischer Sicht. Daraus erkennt er einen Wandel in der didaktischen Kernaufgabe: Stand früher die Erschließung eines Stoffgebiets und die Ableitung von Lernzielen im Mittelpunkt, ist es heute die Auseinandersetzung mit einem Sinngehalt und die Suche nach zweckmäßigen Bildungsinhalten und Lernwegen (40 f.). Er hebt diesbezüglich hervor, dass sich das zugrunde gelegte Leitbild der Kompetenz von einer wissenschaftlich-systematischen Ableitung fachlicher Lernziele abgrenzt. Zur Konkretisierung führt Drieschner die Zuordnung von Teilkompetenzen im Bereich „Lesen – mit Texten und Medien umgehen“ der KMK-Bildungsstandards im Fach Deutsch der Primarstufe an. Bezogen auf dieses Beispiel stellt er heraus, dass die Standards selbst keine direkte Auskunft über die Genese und Stufung des Kompetenzerwerbs geben und eine genaue Beschreibung von Schwierigkeitsgraden bei fachlichen Aufgaben noch nicht hinreichend gesichert ist. Daraus resultieren Anforderungen an die Weiterentwicklung der Standards, die Drieschner in der Orientierung an weiterentwickelten Kompetenzmodellen, wie sie in PISA, PIRLS/IGLU oder DESI vorliegen, sieht (62); daneben auch im Ausgleich zwischen didaktischen und psychometrischen Ansprüchen, um die einseitige Ausrichtung auf überprüfbare Leistungserwartungen zu ergänzen.

Das vierte Kapitel stellt schließlich das zentrale Bestimmungsstück der Veröffentlichung dar, in dem es sich der praktischen Umsetzung von Bildungsstandards im kompetenzorientierten Unterricht zuwendet und diesen Bereich als neues Aufgabenfeld der Schul- und Unterrichtsentwicklung benennt. Als Kernaufgabe der praktischen Umsetzung begreift er die deduktive Ableitung von Lernzielen aus den Bildungsstandards und sieht darin zugleich ein didaktisch relativ unerschlossenes Gebiet. Daneben ist die Abstufung unterrichtlicher Kompetenzziele, die Inhaltserschließung und Entwicklung methodischer Zugänge für ihn als Aufgabe zu fassen. Diesen Einzelanforderungen ist zentral, dass Lehrkräfte vor dem Hintergrund ihres fachdidaktischen und bildungswissenschaftlichen Wissens zu einer Interpretation der Bildungsstandards gelangen müssen. Er fasst dies in der Terminologie Bernward Langes als Umwandlung distaler Kompetenzen in proximale innerhalb eines abgesteckten Zeitrahmens. Im übernommenen Begriff des ‚downsizing’ präzisiert er das Problem der Inhaltsauswahl als eine Auswahl valider und exemplarischer Repräsentanten. Dass Lehrkräfte hierfür ein breites didaktisches, diagnostisches und fachliches Wissen ebenso benötigen wie ein bildungswissenschaftliches Wissen wirft für ihn die Frage auf, ob sie für die Arbeit mit Bildungsstandards hinreichend vorbereitet und qualifiziert sind. Besonders die Abstufung unterrichtlicher Kompetenzziele als weitere Herausforderung, um der Heterogenität kognitiver sowie sozialer Lernvoraussetzungen zu begegnen, stellt die Schulpraktiker vor massive Probleme, weil die derzeit ausgewiesenen und nicht auf Kompetenzstufenmodellen aufruhenden Regelstandards „keine konzeptionellen Impulse zur Präzisierung der Leistungsdiagnostik und zur zielgerichteten Förderung liefern“ (75). Im Unterpunkt ‚Inhaltserschließung’ stellt der Autor heraus, dass die Kompetenzauslegung mit einer Inhaltsauslegung zu vermitteln ist, die auf die traditionelle Strukturierung eines Inhalts- und Themenbereichs im Zusammenspiel von Sachanspruch und Schülerorientierung zielt. Schließlich mündet die didaktische Aufgabe der Entwicklung methodischer Zugänge im Medium der Bildungsstandards, die Drieschner nicht als Selbstzweck, sondern in dienender Funktion begreift, in eine transparente Ziel-, Inhalts- und Prozessstruktur. Sie manifestiert sich über die Einzelaspekte ‚Strukturelle Transparenz und Klarheit’, ‚Differenzierung des Lernangebots in Niveaustufen’ und ‚aktiver Kompetenzerwerb und neue Aufgabenkultur’. Er bezeichnet so kompetenzorientierten Unterricht als einen aufgabenbasierten Unterricht und trennt Evaluationsaufgaben, mit denen abgrenzbare Teilfähigkeiten überprüfbar gemacht werden können, von Lernaufgaben, in welchen verschiedene Kompetenzen und Kompetenzbereiche in kreative und fachdidaktisch gehaltvolle Arbeitsaufträge eingebettet sind. Damit stellt er einen Ausgleich zwischen didaktischen und psychometrischen Ansprüchen her und erfüllt seinen Anspruch, den er zuvor unter dem Punkt zur Weiterentwicklung der Standards einforderte.

Die, in diesen Ausführungen dargelegten, zentralen Bestimmungsstücke werden nun im fünften Kapitel konkret auf die praktische Ebene transferiert und mittels des Planungsbeispiels einer Unterrichtseinheit zur Entwicklung von Lese- und Schreibkompetenz in einem dritten Schuljahr am Thema ‚Märchen und märchenhafte Welten’ verdeutlicht. Dieses Kapitel stellt die allgemeinen Lernvoraussetzungen der Einheit, ihre didaktische Begründung und den Unterrichtsverlauf dar und reflektiert ausführlich ausgewählte Lernsequenzen. Um dies zu besprechen, bleibt hier ebenso wenig Raum wie die spannende ‚Schlussbemerkung’ zu den schulpraktischen Möglichkeiten und Grenzen von Bildungsstandards aufzugreifen.

Die Veröffentlichung von Elmar Drieschner ist nicht nur für Studierende und Lehrkräften zu empfehlen, die mit der Umsetzung der Standards in konkrete Unterrichtseinheiten betraut sind. In dem diese Schrift theoretisches Grundlagenwissen und praxisanleitendes Handlungswissen miteinander verzahnt, stellt es gerade auch für Personen der Lehrerbildung, insbesondere für Schulpädagogen und Fachdidaktiker, eine höchst lohnenswerte Lektüre dar, die bisher unzureichend ausgeführten didaktischen Aspekte aus der Standarddiskussion in einer begrifflich äußerst präzisen und angenehm zu lesenden Sprache aufgreift. Es bleibt zu wünschen, dass diese Publikation ihren Weg findet.

[1] Bundesministerium für Bildung und Forschung (2003): Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards (so genannte ‚Klieme-Expertise’). Bonn: Bundesministerium.
[2] Pant, Hans Anand/Vock, Miriam/Pöhlmann, Claudia/Köller, Olaf (2008): Offenheit für Innovationen, Befunde aus einer Studie zur Rezeption der Bildungsstandards bei Lehrkräften und Zusammenhänge mit Schülerleistungen. In: Zeitschrift für Pädagogik. 54. Jg./Heft 6, S. 827-845.
[3] Wacker, Albrecht (2008): Bildungsstandards als Steuerungselemente der Bildungsplanung. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
[4] Ziener, Gerhard (2006): Bildungsstandards in der Praxis. Kompetenzorientiert unterrichten, Seelze: Kallmeyer in Verbindung mit Klett.
Albrecht Wacker (Ludwigsburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Albrecht Wacker: Rezension von: Drieschner, Elmar: Bildungsstandards praktisch, Perspektiven kompetenzorientierten Lehrens und Lernens. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2009. In: EWR 8 (2009), Nr. 3 (Veröffentlicht am 05.06.2009), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978353116455.html