EWR 8 (2009), Nr. 3 (Mai/Juni)

Viola Hartung-Beck
Schulische Organisationsentwicklung und Professionalisierung
Folgen von Lernstandserhebungen an Gesamtschulen
Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2009
(270 S.; ISBN 978-3-531-16592-9; 29,90 EUR)
Schulische Organisationsentwicklung und Professionalisierung Zentrale Leistungsmessungen wie z.B. Lernstandserhebungen oder Vergleichsarbeiten sind Kernstück des vielfach propagierten Paradigmenwechsels von einer Input- zur Outputsteuerung des Schulsystems. Die Einführung von Bildungsstandards und Kerncurricula wird nur dann wirksam, wenn diese durch verpflichtende Leistungsmessungen und informative Rückmeldestrukturen ergänzt werden. Vergleichsarbeiten, Lernstandserhebungen, Kompetenztests, etc. wurden aus diesem Grund mittlerweile auch in allen Bundesländern eingeführt und sind Teil der KMK-Gesamtstrategie zum Bildungsmonitoring. Wie sich nun in Folge dieser testbasierten, top-down Reform Schule, Unterricht und professionelles Lehrerhandeln verändern sollen, ist allerdings eine ungeklärte Fragestellung, die in den letzten Jahren von einer wachsenden Zahl an Rezeptions- und Nutzungsstudien bearbeitet wurde. Auffallend ist, dass viele dieser Arbeiten Evaluationsstudien sind, die in einer direkten Verbindung mit den Vergleichsarbeitsprojekten stehen [z.B. 1, 2, 3]. Weiter fällt auf, dass diese Evaluationsstudien in der Regel von einer linearen Wirkung der Testrückmeldungen auf Unterricht, Lehrerhandeln oder Schulentwicklung ausgehen und vor diesem Hintergrund auch die Befragungsinstrumente gestalten.

Viola Hartung-Beck legt nun eine Studie vor, die sich ebenfalls dem Problem der Rezeption und Nutzung von Lernstandserhebungen widmet, sich aber von diesen ersten Rezeptionsstudien sehr deutlich abgrenzt. Zunächst einmal handelt es sich um den Ergebnisbericht der Vorstudie eines DFG-Projektes, das von einer externen, unabhängigen Perspektive Bedingungen und Prozesse der schulinternen Verarbeitung von Lernstandsrückmeldungen analysiert. Eine ähnlich unabhängige Herangehensweise an diese aktuelle Problematik der Bildungsforschung findet sich allenfalls noch in den Arbeiten des Rezensenten selbst [z.B. 4]. Ein zweites Merkmal, das die Arbeit von Viola Hartung-Beck von bisherigen Rezeptionsstudien deutlich absetzt, ist die konsequente Einbindung sämtlicher Fragestellungen in Organisations- und Professionstheorien. Damit wird ein theoretisches Niveau für die Analyse der Nutzung von Evaluationsdaten gesetzt, das von weiteren Forschungsvorhaben in diesem Bereich nicht mehr unterschritten werden sollte. Drittens wählt die Autorin einen qualitativen Zugang, der in der bisherigen Rezeptionsforschung wenig ausgeprägt ist.

Das Herzstück der Studie ist die Fundierung der Forschungsfragestellungen in Organisations- und Professionstheorien. Hartung-Beck fragt sich, "wie Lernstandserhebungen als Medium der Organisation bzw. als organisatorische Ressource in den schulischen Organisationsstrukturen etabliert werden und wie die Nutzung der Daten durch professionelle (epistemologische) Überzeugungen der Lehrkräfte strukturiert wird" (7). Als Analyserahmen für die Organisation Schule werden bürokratietheoretische, neo-institutionelle und systemtheoretische Ansätze herangezogen. Die professionelle Arbeit von Lehrkräften wird mit strukturfunktionalen, strukturtheoretischen Ansätzen und "Sensemaking"-Theorien konzeptualisiert. Hartung-Beck gelingt es überzeugend diese abstrakten Theoriebezüge in einem heuristischen Modell auf den schulinternen Umgang mit Vergleichsarbeiten zu beziehen. Damit ergeben sich die zentralen Fragekomplexe der Studie. Deuten Lehrkräfte die rückgemeldeten Daten aus Lernstandserhebungen technologisch oder normativ in Bezug auf die Struktur professionellen Wissens? Unterstützen Leistungsrückmeldungen die professionelle Selbstkontrolle oder werden sie eher als Kontrolle durch die institutionelle Umwelt gedeutet? Welche Formen der schulinternen Koordination impliziert die Auseinandersetzung mit Lernstandserhebungen?

Aufgrund der expliziten Theoriebezüge und der klaren Herausarbeitung von Begrifflichkeiten für die Formulierung der Forschungsfragen wäre für diese Studie durchaus auch eine quantitative Herangehensweise denkbar. Dennoch entscheidet sich Hartung-Beck für ein qualitatives Fallstudiendesign, um in dieser erstmaligen Anwendung von Organisations- und Professionstheorien auf den Gegenstandsbereich eine größtmögliche Offenheit im Forschungsprozess gewährleisten zu können. Als Forschungsdesign kommt ein sehr ausgefeiltes Fallstudienkonzept zur Anwendung. An zwei Gesamtschulen werden die von Lernstandserhebungen betroffenen Lehrkräfte befragt sowie relevante Dokumente ausgewertet.

Die qualitative Datenanalyse berücksichtigt die Mehrebenenstruktur innerhalb von Einzelschulen. In einem ersten Schritt findet eine typisierende Gesamtinterpretation aller Einzelfälle (Lehrkräfte) statt. Hartung-Beck kann vier Professionstypen und vier Organisationstypen herausarbeiten, die sehr unterschiedlich auf die Anforderungen einer outputorientierten Reform durch Lernstandserhebungen reagieren. Beispielsweise findet sich ein Professionstyp A, der belegt, dass "die Einführung der Lernstandserhebungen bei Teilen der Lehrerschaft direkt im intendierten Sinn ankommt und eine rationale bzw. technologische Erweiterung des Wissens und der Handlungen bzw. Entscheidungen aufgrund der empirischen Daten erreicht wird" (143). Andererseits gibt es aber auch den Professionstyp D, der durch eine starke Ablehnung der neuen Maßnahmen gekennzeichnet ist und kaum Möglichkeiten sieht, aus den Ergebnissen von Lernstandserhebungen Maßnahmen für den Unterricht abzuleiten.

Diese konsequent theoriegeleitete und sehr akribisch durchgeführte Typenbildung überzeugt methodologisch. Aber auch inhaltlich wird in einer bisher noch nicht erreichten Klarheit herausgearbeitet, dass Lernstandserhebungen auf eine gespaltene Lehrerschaft treffen und Ablehnung oder Zustimmung von sehr grundlegenden professionellen bzw. organisationalen Überzeugungen abhängen. Dieses Ergebnis kontrastiert beispielsweise die von Groß Ophoff, Hosenfeld und Koch (2007) auf der Grundlage von Clusteranalysen entwickelte Rezeptionstypologie. Dort findet sich zwar auch ein kritischer Rezeptionstyp 3, der sich von den ersten beiden Rezeptionstypen abhebt und deutlich weniger realisierte Unterrichtsentwicklungsmaßnahmen berichtet. Allerdings sind die absoluten Unterschiede bei den berichteten Maßnahmen zwischen den Typen nicht sehr hoch [3]. Dies suggeriert, dass selbst kritisch eingestellte Lehrkräfte die Vergleichsarbeitsrückmeldungen in einem gewissen Umfang rezipieren und nutzen. Die Typenbildung in der Studie von Hartung-Beck kann somit als wichtige Ergänzung bzw. Herausforderung für Rezeptionstypologien auf quantitativer Datenbasis betrachtet werden.

In einem zweiten Schritt werden die beiden untersuchten Gesamtschulen als Fälle betrachtet und zunächst einmal für sich (within case analysis) und dann vergleichend analysiert (cross case analysis). Durch dieses verschachtelte Vorgehen gelingt es der Autorin, professionelle und schulorganisatorische Strukturspezifika herauszuarbeiten, die Einfluss auf die Nutzung der empirischen Ergebnisse aus Lernstandserhebungen nehmen. Diese Strukturspezifika sind allerdings vor dem Hintergrund des Wissens über effektive Schulen keine große Überraschung. Beispielsweise unterschieden sich die beiden Schulen hinsichtlich Absprachen und Kommunikationskultur. Die Nutzung der Lernstandserhebungen ist an der Schule höher, an der Lehrkräfte gemeinsame Korrekturen durchführen oder gezielt über den Umgang mit den Ergebnissen diskutieren. Dennoch überzeugt auch in diesem Ergebnisabschnitt die Akribie, mit der Hartung-Beck die schulorganisatorischen Voraussetzungen für einen produktiven Umgang mit Lernstandsrückmeldungen herausarbeitet. Die Studie liefert auf dieser Ebene vielfältige Anknüpfungspunkte für weitere Forschung und für Programme zur Optimierung bzw. Etablierung einer datenbasierten Schulentwicklung.

Die genannten Vorzüge der theoretischen und methodologischen Herangehensweise markieren aber auch die Grenzen der Studie. Durch die konsequente Analyse des Datenmaterials vor dem Hintergrund organisations- und professionstheoretischer Begrifflichkeiten bleiben die Ergebnisse auf einem sehr abstrakten Niveau. Konkrete Implikationen für die Weiterentwicklung der Testsysteme oder für die Verbesserung der Nutzungsbedingungen auf Schulebene könnten aus den Ergebnissen durchaus abgeleitet werden. Das abschließende Modell über die Ergebnisnutzung von Rückmeldungen aus Lernstandserhebungen bietet hierzu Anknüpfungspunkte für weitere Arbeiten.
Methodisch konnte Hartung-Beck zeigen, dass durch qualitative Daten und ein fallanalytisches Vorgehen ein vertiefter Einblick in Prozesse der Rezeption und Nutzung von Testrückmeldungen in Schulen möglich ist. Dennoch handelt es sich wie bei fast allen bisherigen Rezeptionsstudien um Selbstauskünfte von Lehrkräften zu einer sensiblen Thematik. D.h. auch diese Daten sind anfällig für sozial erwünschte Darstellungen, die nicht unbedingt der Realität entsprechen.

Zusammenfassend soll noch einmal betont werden, dass Hartung-Beck eine Studie vorlegt, die als signifikanter Beitrag zur Rezeptions- und Nutzungsforschung betrachtet werden kann. Vor allem die theoretische Verankerung der Fragestellungen in Organisations- und Professionstheorien sowie die differenzierte und methodologisch gut begründete Vorgehensweise zur Auswertung der umfangreichen Interviewdaten überzeugen. Die Arbeit bietet damit vielfältige Anknüpfungspunkte für weitere Arbeiten zur Wirksamkeit outputorientierter Steuerungsstrukturen und speziell zur Wirkung von Vergleichsarbeitsrückmeldungen.

[1] Nachtigall, Chr./Jantowski, A.: Die Thüringer Kompetenztests unter besonderer Berücksichtigung der Evaluationsergebnisse zum Rezeptionsverhalten. Empirische Pädagogik, 21/4, (2007), S. 401-410.

[2] Hosenfeld, I./Groß Ophoff J. (Hrsg.): Nutzung und Nutzen von Evaluationsstudien in Schule und Unterricht. Empirische Pädagogik, 21/4, (2007), S. 352-457.

[3] Groß Ophoff, J./Hosenfeld, I./Koch, U.: Formen der Ergebnisrezeption und damit verbundene Schul- und Unterrichtsentwicklung. Empirische Pädagogik 21/4, (2007), S. 411-427.

[4] Maier, U.: Rezeption und Nutzung von Vergleichsarbeiten – Ergebnisse einer Lehrerbefragung in Baden-Württemberg. Zeitschrift für Pädagogik, 54 (1), (2008), S. 95-117.
Uwe Maier (Erfurt)
Zur Zitierweise der Rezension:
Uwe Maier: Rezension von: Hartung-Beck, Viola: Schulische Organisationsentwicklung und Professionalisierung, Folgen von Lernstandserhebungen an Gesamtschulen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2009. In: EWR 8 (2009), Nr. 3 (Veröffentlicht am 05.06.2009), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978353116592.html