EWR 10 (2011), Nr. 5 (September/Oktober)

Christoph Wulf / Birgit Althans / Kathrin Audehm / Gerald Blaschke / Nino Ferrin / Ingrid Kellermann / Ruprecht Mattig / Sebastian Schinkel
Die Geste in Erziehung, Bildung und Sozialisation
Ethnographische Feldstudien
Wiesbaden: VS Verlag fĂŒr Sozialwissenschaften 2011
(297 S.; ISBN 978-3-5311-7733-5; 39,95 EUR)
Die Geste in Erziehung, Bildung und Sozialisation Mit den hier vorgelegten ethnographischen Studien zur Bedeutung von Gesten in Erziehung, Bildung und Sozialisation machen die Autoren auf ein wichtiges Themenfeld im Rahmen der phylogenetischen sowie ontogenetischen Entwicklung des Menschen aufmerksam. Das Ziel der Studien formuliert Christoph Wulf folgendermaßen: „Mit unterschiedlichen ethnographischen Verfahren wollen wir in ausgewĂ€hlten Situationen den „modus operandi“ des Gestenwissens herausarbeiten und damit einen wesentlichen Beitrag zur methodischen Entwicklung einer erziehungswissenschaftlichen Gestenforschung leisten“ (22).

Den entsprechenden Stand der Wissenschaft zur menschheitsgeschichtlichen Relevanz der Gestik umreißt Christoph Wulf in der Einleitung. Demnach kommt Gesten eine vielfĂ€ltige, kulturtragende Bedeutung zu, sie sind als conditio sine qua non menschlicher Beziehungen anzusehen. Ihr Bedeutungsspektrum reicht von der körperlich-symbolischen Her- und Darstellung von Intentionen und Emotionen ĂŒber ihre Funktion als Mittel der Sinngebung oder der einfachen Begleitung der Sprache. Gesten werden dabei als höchst zuverlĂ€ssiger Ausdruck des inneren Lebens eines Menschen betrachtet, der stĂ€rker ist als die vom Bewusstsein gesteuerten Worte.

Im Wesentlichen beziehen sich die sechs in diesem Band vertretenen Studien auf folgende drei prominente Bereiche des Forschungsfeldes der Gesten: 1. auf evolutionstheoretische AnsĂ€tze zur Untersuchung der Gesten, insbesondere der Zeigegesten, wie sie neuerdings von Michael Tomasello in seinem Buch „Die UrsprĂŒnge der menschlichen Kommunikation“ vorgelegt worden sind, 2. auf die internationale Gestenforschung, die ihren Ausgang von der Sprache bzw. dem Zusammenhang von Geste, Sprache, Denken und Imagination nimmt und 3. auf Forschungsergebnisse zu Gesten als Körperbewegungen in ihrer Funktion im Rahmen von Ritualen bzw. Ritualisierungen.

In den ethnographischen Einzelstudien wird die Relevanz von Gesten in unterschiedlichen Situationen und Kontexten beschrieben, geprĂŒft und reflektiert, beginnend mit der Analyse der Bedeutung von Gesten im Kontext der Schule. Am Anfang der Beobachtungen von Ingrid Kellermann und Christoph Wulf steht eine Einschulungsfeier, in der es um Gesten der Integration und sozialen Aufnahme in die Institution Schule geht. Dabei handelt es sich um die Übergabe einer Sonnenblume an jedes Kind, wodurch sein neuer Status als SchĂŒlerin oder SchĂŒler symbolisch vermittelt werden soll. Die Wirkkraft entfaltet sich nach Meinung beider Autoren auch dann, wenn die Kinder den symbolischen Bedeutungsgehalt der Geste nicht verstanden haben.

Im Anschluss daran beschreiben die Autoren Gesten, die funktional fĂŒr die Steuerung von Unterricht sind und beziehen dabei bestehende systematische Konzeptionen zum PhĂ€nomen und zur Funktion von Gesten in ihre Analysen mit ein (u. a. Bourdieu, Goffman, Prange). Ebenso ist die Beschreibung des Einsatzes jener Gesten, die das Sprechen und den Körperausdruck begleiten, ein mitlaufender Gegenstand der Beobachtung.

Am Ende des Beitrags werden Gesten der Verabschiedung anlĂ€sslich der Abschlussfeier nach der 6. Klasse einer Berliner Grundschule beschrieben, wobei die Übergabe eben jener kĂŒnstlerisch bearbeiteten Sonnenblume an die SchulabgĂ€nger nun das Ende der gemeinsamen Grundschulzeit symbolisiert: „Am Tag der Verabschiedung liegt die institutionell-pĂ€dagogische Intention der feierlichen Inszenierung auf einer letztmaligen „Bezauberung“, die bei den SchulabgĂ€ngern innere Bilder und sinnliche Assoziationen an die zurĂŒckliegende Grundschulzeit evozieren soll“ (78). Auch in dieser Situation ist es nicht entscheidend, ob die SchulabgĂ€nger die „Bezauberung“ durch die Gesten auch tatsĂ€chlich empfinden: Sie nehmen in jedem Falle, so die Überzeugung der Autoren, „die auf diese Jahre bezogenen individuellen GefĂŒhle, Erinnerungen und persönlichen Errungenschaften [...] mit auf ihren weiteren Lebensweg“ (ebd.).

Dass Gesten ihre Wirkkraft ĂŒber körperlich-sinnliche EindrĂŒcke entfalten und dadurch auch fĂŒr Erziehungs- und Bildungsprozesse konstitutiv sind, ist an sich plausibel, aber ihre Funktion als soziale Sprache in Erziehungsprozessen könnte noch prĂ€ziser beschrieben werden. Als pĂ€dagogische Geste wird zwar auf die Zeigegeste verwiesen und entsprechend Bezug genommen auf bestehende pĂ€dagogische Konzeptionen (vgl. dazu Prange u.a.), aber weitere AusfĂŒhrungen zu pĂ€dagogischen Grundsituationen und ihren entsprechenden Gesten finden sich dann ĂŒberraschenderweise doch selten.

Der im ResĂŒmee vorgelegte Systematisierungsversuch der Gesten als raumkonstituierende Gesten, als Gesten, die Institutionen typisierenden, als theatralische und reprĂ€sentative Gesten sowie als Gesten, ĂŒber die Hierarchisierungen laufen, wĂŒrde ebenso an pĂ€dagogischer Überzeugungskraft gewinnen, wenn die Analysen stĂ€rker und schĂ€rfer an pĂ€dagogischen Konzeptionen und Begrifflichkeiten ausgerichtet wĂ€ren.

Die zweite Studie, vorgelegt von Kathrin Audehm, fragt nach „Fehlenden Gesten“ im Rahmen des Kunstunterrichts. Dabei werden „pĂ€dagogische Gesten ausgehend von den TĂ€tigkeiten der Unterrichtsakteure in den Blick genommen“ (83). In einer videobasierten Beobachtung werden zwei Lehrer wĂ€hrend der unterrichtlichen Interaktion beobachtet, mit dem Ziel, einen möglichen „Zusammenhang zwischen gestischer Aufladung, pĂ€dagogischer AutoritĂ€t und szenischem Arrangement des Kunstunterrichts zu verdeutlichen“ (84). Das Ergebnis: Die UnterrichtsverlĂ€ufe belegen eine relativ geringe gestische Aufladung des Unterrichtsgeschehens und machen deutlich, dass pĂ€dagogische AutoritĂ€t auch ohne gestische PrĂ€senz ganz gut funktioniert.

Sebastian Schinkel analysiert die Geste im Kontext des Familienlebens. Seinen Analysen zufolge kann Gesten „eine gewisse, wenngleich weitgehend unbestimmte Wirksamkeit in der Familieninteraktion zugesprochen werden“ (116). Leitend fĂŒr die Beobachtung sind dabei die drei zentralen Wirkungsweisen der Geste: die Gestaltung, die Verortung und die EinfĂŒhlung. Dieser Referenzrahmen, der vom machttheoretischen Theorierahmen Foucaults und Bourdieus inspiriert ist, leitet die Beobachtungen in den einzelnen Situationen des Familienlebens (etwa am Esstisch oder beim gemeinsamen Spielen am Tisch). Schinkel hebt darauf ab, dass Gesten konstitutiver Bestandteil der Familienkultur sind und beispielsweise familiĂ€re Macht- und Kontrollbeziehungen in Gesten ausgehandelt und geltend gemacht werden. Damit illustriert und bestĂ€tigt er am Kontext der Familie die facettenreiche soziale Funktion von Gesten, die ihnen im Rahmen von familiĂ€ren IdentitĂ€tsprozessen und bei der Aushandlung sozialer Rangfolgen zukommen können.

Gerald Blaschke und Ruprecht Mattig illustrieren am Beispiel eines Rockkonzerts, inwiefern Gesten eine im Vergleich zur Sprache eigenstĂ€ndige Kommunikationsfunktion haben und thematisieren ihren Einsatz sowie ihre strategische Verwendung auf Rock- und Popkonzerten: Die Geste reicht hier von der Strukturierung des Konzertablaufs bis hin zur Lenkung der körperlichen AktivitĂ€ten der Konzertteilnehmer. Dass es bei derartigen Veranstaltungen hĂ€ufig um massensuggestive Großgesten geht, die die Beteiligung des Publikums anregen und leiten, wird ausfĂŒhrlich beschrieben. Ebenso wird auf ĂŒbersteigerte und ironisierende Gesten hingewiesen, die bewusst als AuffĂŒhrungsstrategie eingesetzt werden können. Insbesondere dĂŒrften sich Kenner von Rock- und Popkonzerten fĂŒr die funktionalen Analysen und Deutungen derartiger Erfahrungen interessieren. Die beschriebenen Gesten sind natĂŒrlich auch aus dem reichen Gestenrepertoire der Rhetorik bekannt und dort in ihrer manipulativen Wirkung reflektiert worden.

Inwiefern Gesten als Medium zwischen Spieler und Spielfigur (Avatar) fungieren und eine Verbindung von körperlichem Ausdruck und dem Einsatz bzw. der Fortbewegung von Spielfiguren sich aufbaut, ist das Thema von Nino Ferrin. Er beschreibt dabei die Entstehung eines entsprechenden medialen Kompetenzerwerbs und geht davon aus, dass diese Spielererfahrungen ein reflexives Bildungspotential eingeschrieben ist. „In der stetigen EinĂŒbung solcher Spielpraktiken entsteht implizit eine Verschiebung des Selbstbezugs, was als bildungsrelevantes Erfahrungswissen gekennzeichnet werden kann“ (249). Als Interpretationshilfen zieht er dabei das Foucaultsche Konzept der Selbsttechniken und Überlegungen von Sloterdijk bezĂŒglich der Figur des Selbstbezugs bzw. der Selbstbildung heran.

Wie sich Gesten im politisch-medialen Raum darstellen und deuten lassen, thematisiert Birgit Althaus ausgehend vom scheinbar missglĂŒckten Akt der Vereidigung des derzeitigen US-PrĂ€sidenten Barak Obama. Als zweites Beispiel wird die Entwicklung des pĂ€dagogischen Know Hows einer Referendarin beschrieben, die dies ĂŒber die mimetische Nachahmung der disziplinarischen Gestik ihrer Ausbildungslehrerin erwirbt. Die Hintergrundfolie fĂŒr derlei Analysen liefert das Konzept der „stillen PĂ€dagogik“ (253) bzw. der „stillen Macht der pĂ€dagogischen Gestik“ Ă  la Bourdieu. Die Abhandlung zeigt vor allem die Belesenheit der Autorin im Blick auf Ă€ußerst variable Deutungsmuster der beiden Großszenen.

Die fehlerhafte Vereidigung Obamas als „gag“ oder „ambivalente Handlung der Machteinschreibung“ (275) zu deuten, ĂŒberzeugt jedoch weniger. Es drĂ€ngt sich nĂ€mlich die Frage auf, die im Grunde alle sechs Studien betrifft, was denn der Fall ist, wenn die prominenten Hintergrundtheorien Foucaults und Bourdieus sich als nicht ausreichende bzw. einseitige Referenz- und Deutungskonzepte fĂŒr Gesten erweisen. WĂ€hrend der LektĂŒre der durchaus lesenswerten und interessanten Studien entsteht durch die hĂ€ufige Bezugnahme auf diese Theorierahmen der Eindruck, eine doch einseitig machttheoretische Interpretation der Gesten vorgelegt zu bekommen. Über eine begriffliche Konzeption der PĂ€dagogik ließe sich dagegen ein Bezugsrahmen entwickeln, der den Blick fĂŒr pĂ€dagogische Gesten und deren Beschreibung schĂ€rfen wĂŒrde.

Wenn die Thematik, wie Christoph Wulf einleitend formuliert, zu einem wichtigen Gegenstand der Erziehungswissenschaft werden soll (1), bedarf es noch einer nĂ€her an den real vorkommenden Gesten orientierten Beschreibung, in der konkretisiert wird, welche Bedeutung bzw. welche Funktion Gesten im Rahmen der drei im Titel genannten begrifflichen Konzepte der Sozialisation, der Bildung und der Erziehung haben. Auf wichtige Fragen, z.B. was ermutigende oder erklĂ€rende Gesten im Lernprozess sind und wie Kinder sie erlernen, könnten dann neue pĂ€dagogisch nutzbare Antworten gegeben werden. So bleibt der Blick noch zu oft am durchschnittlich AuffĂ€lligen hĂ€ngen, an Ritualen und gestischen Großinszenierungen, anstatt ihn auf grundlegende pĂ€dagogische Situationen und Gesten zu wenden.
Gabriele Strobel-Eisele (Ludwigsburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Gabriele Strobel-Eisele: Rezension von: Wulf, Christoph / Althans, Birgit / Audehm, Kathrin / Blaschke, Gerald / Ferrin, Nino / Kellermann, Ingrid / Mattig, Ruprecht / Schinkel, Sebastian: Die Geste in Erziehung, Bildung und Sozialisation, Ethnographische Feldstudien. Wiesbaden: VS Verlag fĂŒr Sozialwissenschaften 2011. In: EWR 10 (2011), Nr. 5 (Veröffentlicht am 04.10.2011), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978353117733.html