EWR 17 (2018), Nr. 5 (September/Oktober)

Merle Hummrich / Rolf-Torsten Kramer
Schulische Sozialisation
Basiswissen Sozialisation. Ein Lehrbuch
Wiesbaden: Springer VS 2017
(187 S.; ISBN 978-3-531-18454-8; 22,99 EUR)
Schulische Sozialisation Schulische Sozialisation als spezifischer Fall allgemeiner Sozialisation ist ein befragenswerter Begriff, ohne dass sich immer präzise bestimmen ließe, was jeweils damit in unterschiedlichen Theoriekontexten – Einüben in soziale Rollen, Bewältigung der Lebenspraxis, Einverleibung des Habitus etc. – gemeint ist, da die Vorstellungen von Schule und der in ihr stattfindenden Sozialisation in ihrer Genese zwischen Befreiung von herkömmlichen Traditionen und der Reproduktion der sozialen Verhältnisse oszilliert. Merle Hummrich und Rolf-Torsten Kramer gelingt es in ihrem Lehrbuch zu schulischer Sozialisation dabei allerdings durchaus ihrem Anspruch gerecht zu werden, Reflexionsanlässe und Sensibilisierungen für Formen und Bedingungen schulischer Sozialisation im beruflichen Handlungsfeld zu schaffen und einen Einblick in das Zusammen-, Wechsel- und Widerspiel der Sozialisationsformen in der Schule zwischen Elternhaus, schulischer Organisation mitsamt ihrem Personal und der gleichrangigen Gruppe der Mitschülerinnen und Mitschüler zu geben. Bisweilen sind es aber eventuell mehr Reflexionsanlässe, als den beiden Autoren lieb sein kann und folgend weiter ausgeführt wird.

Zunächst ein kurzer Überblick über den Inhalt des Bandes: Nach der Bestimmung einer Arbeitsdefinition von Sozialisation allgemein wird in einem ersten Schritt die schulische Sozialisation in die Phasen der allgemeinen Sozialisation eingeordnet und die differenten Vorstellungen zur Sozialisation werden fein ziseliert abgegrenzt von den Begriffen Erziehung, Bildung und Enkulturation, wobei aber etwa die begriffliche Differenz zwischen entwicklungstheoretischen und sozialisationstheoretischen Konzeptionen, wohl eine der drängendsten theoriearchitektonischen Schwierigkeiten, etwas enggeführt wird. Darauf aufbauend werden die Sozialisationsinstanzen Familie und Gleichaltrige in ihrer Relation zur Schule dargelegt. In einem zweiten Schritt werden kurrente Konzeptionen schulischer Sozialisation in ihren Hauptströmungen entfaltet und im dritten Schritt auf den Komplex der sozialen Ungleichheit bezogen, indem milieuspezifische, geschlechtsspezifische und ethnospezifische Sozialisationsweisen als das Machen von Unterschieden in ihrem Zusammenspiel kenntnisreich und differenziert auseinandergelegt werden. Schließlich wird im vierten Schritt der eigene Forschungsansatz in den Legierungen von Schulkultur, Milieu und Individuation als strukturiert-strukturierende Prozesse der Herstellung einer Sinnordnung von Schule vorgestellt und konzise Perspektiven für Schule und das Handeln von Lehrerinnen und Lehrern entwickelt. Damit ist dann zwar der aktuelle Forschungsstand zur schulischen Sozialisation dar- und ein Einblick in die Schulkulturforschung vorgelegt, allein der Band scheint mir dadurch in einen Theorien aufzählenden Teil und einen Empirie gesättigten Teil auseinanderzufallen.

Dieser Eindruck hat wohl mit dem Darstellungsinteresse der Autoren zu tun, da sie weder die systematische Kontrastierung der sozialisationstheoretischen Perspektiven noch deren Genese in den Blick nehmen möchten, was aber doch vielleicht gerade in einem Lehrbuch zu prüfen gewesen wäre, um zu klären, warum die Theoretiker der schulischen Sozialisation dachten, was sie dachten, und wo Gemeinsamkeiten zwischen ihnen sind und wo Unterschiede, um nicht in der Theoriebildung einem haltlosen Eklektizismus aufzusitzen. Nur zwei Beispiele: Die Vertauschung der beiden Pattern Variables Selbstorientierung und Kollektivorientierung in der Sozialisationstheorie von Talcott Parsons, die er einführte, um historisch belehrt zwischen Gesellschaften zu differenzieren, die das Individuum in den Mittelpunkt schulischer Aufmerksamkeit stellen und nicht die Volksgemeinschaft, hat zur Folge, dass etwa ethnische Differenzierungen in staatlicher Politik und Schule in der Folge überbetont werden, und so eher Ethnos, denn Demos regiert, wo doch die Selbstorientierung auf die Seite der Gesellschaft gehört und Kollektivorientierung auf die Seite der Familie. Angemerkt sei aber auch, dass allerdings schon bei Parsons die aus dem Klassifikationsschema der Pattern Variables begriffslogisch abgeleiteten Mischformen nicht immer analytisch trennscharf sind, da es schon bei ihm unklar ist, wie es etwa theoretisch aufzufassen ist, dass die universalistische Orientierung, wenn sie mal mit Achievement (Leistung), mal mit Ascription (Zuschreibung) kombiniert wird, ihren Universalismus verändern kann. Ist der Universalismus je nach Kombinationsmöglichkeit anders universalistisch? Man kann das beckmesserische Begriffsklauberei nennen, problematisch wird es aber etwa dann, wenn das schulische Leistungsprinzip unbefangen in die Darstellung schulischer Sozialisation theoretisch wie empirisch übernommen wird. Für die Erziehungswissenschaft wie für die Bildungssoziologie würde es sich wohl lohnen, sich über den in Rede stehenden Leistungsbegriff zu beraten und zu prüfen, ob der schulische Leistungsuniversalismus als bloße Setzung nicht auch ein reifiziertes Leistungsverständnis transportiert, das eben nicht nur partikulär überformt, sondern durch die Singularisierung von Leistung sozial konstruiert und bestimmt wird. Solange Schule als historisch gewollte und gemachte symbolische Ordnung im Übergang lediglich mit der Folge unterschiedlicher Passungskonstellationen verstanden wird, in denen die vermeintliche universalistische Rahmung der Schule mit partikularen Milieubindungen sich amalgamiert, muss außer Acht bleiben, dass dieser Universalismus böse gesagt ein angemaßter Universalismus ist oder charmanter gesagt nur als regulative Idee fungiert. Solange in den Schulgesetzen der Bundesländer allerdings verfasst ist, dass schulische Bildung eine allgemeinbildende sein soll, dann muss als ein Endergebnis der schulischen Weitergabe und Auseinandersetzung mit traditionellen Wissensgehalten tatsächlich für alle Schülerinnen und Schüler, also jenseits von Milieu, Geschlecht und Ethnie, ein gleiches – zumindest sehr ähnliches – Ergebnis in Form einer Mindestkompetenz erreicht werden können. Das erst wäre ein eingelöster Universalismus.

Statt einer wünschenswerten Kontrastierung und Differenzierung der sozialisationstheoretischen Konzeptionen werden stattdessen deren zentralen gemeinsamen Annahmen benannt, wie die Differenz von Familie und Schule, die Bedeutung des Zusammenspiels von Familie und Schule für die Individuation, das Spannungsverhältnis von Sozialisation zwischen Anpassung und Eigentätigkeit und schließlich der Zusammenhang von schulischer Sozialisation und Bildungsungleichheit. Aber auch hier wird mir nicht ganz klar, wie unterschiedlich Schule und Familie tatsächlich aufzufassen sind, wenn die Schule spezifische primäre familiäre Sozialisationsprozesse prämiert oder sanktioniert, zumal dieses Wechselspiel durch Formen der Scholarisierung der Familie und der Familiarisierung der Schule durchkreuzt wird. Und wenn die beiden Autoren schreiben „schulische Sozialisation bedeutet somit nicht nur die Unterwerfung, sondern auch die Hervorbringung“ (106) stellt sich unter der von den Autoren selbst angeführten poststrukturalistischen Perspektive nicht unweigerlich die Frage, was hervorgebracht wird, vielleicht nämlich dann doch Subjektivierung als Form der Hervorbringung von unter das Leistungsprinzip unterworfenen Subjekten, die dann passend gemacht oder ausgeschieden werden?

Obwohl die kritischen Anmerkungen sich fortsetzen ließen, wobei vor allem der Wunsch besteht, theoretisch wie empirisch über zwei der aktuell drängendsten Problembereiche der Schule, die digitale Medialisierung und die Inklusion, in ihren Folgen für schulische Sozialisation informiert zu werden, soll ein ambivalentes Fazit gezogen werden.

Lehrbücher, Einführungen und Basiswissen sollen approbiertes und konsolidiertes Wissen liefern und sind zugleich wohl auch immer der Versuch der Kanonisierung und der Normierung von Wissensdomänen. Den Rezensenten beschleicht aber auch ein eigentümlicher Affekt gegen Lehrbücher, da diese einen eigenen Weg zu den Quellen des Verständnisses bisweilen eher versperren, denn ermöglichen, und so eine Art der Bildung und des Wissens bieten, die nur denen wirklich zugänglich sind, die Kenntnisse über Sozialisationsprozesse schon (zu) besitzen (meinen). Wird aber in dieser Rezension den Verfassern des Lehrbuchs nicht Unrecht zugefügt? Am Ende äußern sich ja da zwei erziehungswissenschaftliche Forscher/innen mit ungewöhnlich weit ausgreifender erziehungswissenschaftlicher Bildung und ausgewiesenen Kenntnissen zu Sozialisationsprozessen. Geziemt sich unter diesen Umständen der zänkische Ton, den ich zum eigenen Unbehagen aus meinem Text heraushöre? Was mich irritiert und aus der für Rezensionen notwendigen Balance bringt, ist die Textgattung Lehrbuch als solche und nicht dieses bestimmte Einführungsbuch. So sei denn flugs eine Art von Wiedergutmachung versucht. Während der Band als sozialisationstheoretische Darstellung des eigenen Forschungsprojekts zur Schulkultur und deren Einfluss auf die Stiftung von Unterschieden, die Begrenzungen und Erweiterungen der Individuation und die Dominanzkultur der schulischen symbolischen Ordnung mit Folgen von Gewinnen oder Verlusten für die milieuspezifischen und biografischen Habitusformen der Schülerinnen und Schüler sehr wohl zu überzeugen weiß und nicht hoch genug geschätzt werden kann, ist er in der theoretischen wie begrifflichen Herleitung schulischer Sozialisation für ein Lehrbuch nicht konsequent genug.
Hans-Peter Gerstner (Heidelberg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Hans-Peter Gerstner: Rezension von: Hummrich, Merle / Kramer, Rolf-Torsten: Schulische Sozialisation, Basiswissen Sozialisation. Ein Lehrbuch. Wiesbaden: Springer VS 2017. In: EWR 17 (2018), Nr. 5 (Veröffentlicht am 31.10.2018), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978353118454.html