EWR 12 (2013), Nr. 6 (November/Dezember)

Helmut Fiedler
Biographische Profile ostdeutscher Lehrkräfte
Das Beispiel der Freien Waldorfschulen
Heidelberg: Springer 2012
(469 S.; ISBN 978-3-531-19616-9; 59,95 EUR)
Biographische Profile ostdeutscher Lehrkräfte Die Lehrerpersönlichkeit und ihre Berufsbiographie stehen im Fokus der personalen Pädagogik, der die vorliegende Fallstudie von Helmut Fiedler gewidmet ist. Sie befasst sich mit den biographischen Voraussetzungen der Lehrerschaft an ostdeutschen Waldorfschulen und ist ein Beitrag zur Biographieforschung in der Erziehungswissenschaft. Zwei Fragestellungen werden bearbeitet: Was führt zu der Entscheidung, Waldorflehrer zu werden? Welche Handlungs- und Denkstrukturen kennzeichnen den Werdegang eines ostdeutschen Waldorflehrers?

Aktuell gibt es in Deutschland 234 Waldorfschulen, darunter jene 24 ostdeutschen Waldorfschulen, die seit 1990 in den neuen Bundesländern gegründet wurden und an denen die vorliegende berufsbiographische Untersuchung stattfand. Helmut Fiedler, ein westlich sozialisierter Waldorflehrer, verfügt einerseits über eine ausreichende Distanz zu den Befragten, andererseits aber über interne Kenntnisse der Waldorfpädagogik und Waldorfschulen, so dass er neben einer ausführlichen theoretischen Rahmung der Studie auch differenzierte Auswertungen der zum Teil sehr persönlichen Äußerungen zum Waldorfschulkontext vornehmen und mit den Ergebnissen anderer Studien vergleichen kann. Die Hauptfragestellung betrifft die politischen, sozialen und biographischen Bedingungen, unter denen Ostdeutsche den Beruf des Waldorflehrers ergriffen haben. Fiedler zeigt zunächst anhand von Fragebogenauswertungen wie die Waldorfpädagogik, „für die die Lehrer-Persönlichkeit sehr wichtig ist, auf den ostdeutschen Lehrer trifft“ (25 f). Er befragte ausschließlich Lehrer, die in der ehemaligen DDR aufgewachsen sind und jetzt an ostdeutschen Waldorfschulen arbeiten. Mittels des auch im Anhang abgedruckten Fragebogens wurden neben quantitativen Angaben vor allem qualitative Aussagen zur Berufsbiographie, darunter auch „die Wirkungen der eigenen Schulzeit“, der Zugang zur Anthroposophie sowie die persönliche Einstellung zur Waldorfschule ausgelotet. Schließlich wurde die Bereitschaft zu einem narrativen Interview über die Berufsbiographie abgefragt. Das Ergebnis der Kontaktaufnahme möglicher Interviewpartner ist eher ernüchternd, denn nur 38 Fragebögen wurden aus 24 Waldorfkollegien zurückgesandt, davon 23 von Frauen und 15 von Männern. Von diesen 38 Befragten beteiligten sich anschließend wiederum 20 an den „narrativen Interviews“.

Die Fragebogenauswertung ergibt, dass der durchschnittliche Befragte 20 Jahre in der DDR lebte, über 10 Jahre an einer Waldorfschule arbeitet, Fortbildungen besucht und in der Selbstverwaltung der eigenen Schule tätig ist. Die 20 narrativen, biographischen Interviews, die allesamt detailliert vorgestellt und ausgewertet werden, zeigen einerseits, wie das Bekanntwerden mit Waldorfpädagogik und Anthroposophie unter veränderten politischen Bedingungen nach 1990, nach dem Zusammenbruch der DDR, stattfinden konnte; andererseits macht die Befragung deutlich, dass die individuelle biographische Situation letztlich ausschlaggebend für die berufliche Neuorientierung war. Fiedler konstatiert ein „resilient coping“ – so genannte resiliente Bewältigungsstrategien – aller Befragten, da sie aktiv und reflektierend mit den sich „bietenden Möglichkeiten“ nach der „Friedlichen Revolution“ umgingen und noch jung genug für eine „Identitätsveränderung“ waren. Für ihre berufliche Neuorientierung spielen im Wesentlichen fünf Paradigmen eine Rolle: Orientierung auf Menschen, Idealismus/Religiosität/Transparenz, Offenheit, Biographie-Arbeit und Selbstvertrauen/Eigenverantwortung/Selbstorganisation. Fiedler schließt aus der Befragung, dass alle Teilnehmer über Veränderungskompetenz verfügen, keine Karriere anstreben, aber bereit sind, sich neuen Herausforderungen zu stellen. Er vergleicht diese Voraussetzungen mit jenen der „neuen Selbständigen“, die ihre biographischen Ressourcen nutzen, berufliche Brüche in Kauf nehmen und Qualifikationen nachholen, um „Freiräume für autonomes bzw. selbstbestimmtes Handeln“ (vgl. 376) zu gewinnen.

Interessant ist auch Fiedlers Gegenüberstellung der Befragungsergebnisse mit den Ergebnissen der Dissertation von Melanie Fabel-Lamla zum Thema „Professionalisierungspfade ostdeutscher Lehrer“ (2005). Während sich das berufliche Selbstverständnis der befragten ostdeutschen Regelschullehrer zwischen „staatlichen Vorgaben“ und den pädagogischen Anforderungen durch die Schüler bewegte, dann die Friedliche Revolution als Befreiung erlebt wurde, die eine neue berufliche und biographische Ausrichtung ermöglichte – um nur einen Aspekt aufzugreifen –, zeigt Fiedler, dass sich die ostdeutschen Waldorflehrer bereits vor der Wende anderen Sinnhorizonten (z.B. in der Christengemeinschaft) zuwandten, sich dann aber durch eine tiefgreifende biographische Auseinandersetzung neu orientierten und sich einen eigenen Zugang zu einem nicht-staatlichen Schulmodell erarbeiteten. Entsprechend zieht Fiedler das Resümee, dass sich fast alle von ihm Befragten bewusst für den Waldorflehrerberuf entschieden haben, nachdem sie durch persönliche Kontakte mit Anthroposophie und Waldorfpädagogik in Berührung kamen und an der Waldorfschule „eine weitgehende Übereinstimmung mit ihnen wichtigen Idealen feststellen“ (383) konnten. Allerdings – so fasst Fiedler einige Antworten der Befragten zusammen – müsse sich Anthroposophie in der Praxis bewähren, man lehne einen Personenkult um Steiner sowie eine Weltanschauungsschule ab, Waldorfschule solle flexibel, ohne Dogmen und finanziell abgesichert im Osten weiterentwickelt werden.

Obwohl die Studie auf nur 38 Fragebögen und 20 narrativen Interviews beruht, leistet sie eine differenzierte Auseinandersetzung mit den Auswirkungen der Friedlichen Revolution auf die Berufsbiographien ostdeutscher Waldorflehrer im Spannungsfeld von biographischer Sinnsuche und beruflicher Identifikation. Die 20 Biographie-Darstellungen sind lesenswerte kulturgeschichtliche Dokumente der Pädagogik.
Angelika Wiehl (Wolfsburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Angelika Wiehl: Rezension von: Fiedler, Helmut: Biographische Profile ostdeutscher Lehrkräfte, Das Beispiel der Freien Waldorfschulen. Heidelberg: Springer 2012. In: EWR 12 (2013), Nr. 6 (Veröffentlicht am 03.12.2013), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978353119616.html