EWR 11 (2012), Nr. 5 (September/Oktober)

Iris Franziska Meister
Die Judenschule
Nationalsozialistische Bildungspolitik am Beispiel des BG Wien II, Zirkusgasse.
Frankfurt am Main: Peter Lang 2011
(216 S.; ISBN 978-3-631-61496-9; 42,80 EUR)
Die Judenschule In ihrer hier veröffentlichten Diplomarbeit untersucht die Autorin eine kurze Zeitspanne (März - September 1938) in der Geschichte des Gymnasiums Wien II, Zirkusgasse. Kurz nach dem Einmarsch der Wehrmacht am 12.3.1938 wurde dieses altsprachliche Gymnasium Ende April 1938 für einige Monate im Zuge der NS-Rassentrennungspolitik durch Zwangsversetzungen von anderen Gymnasien zu einer Schule mit ausschließlich jüdischer Schülerschaft umgestaltet; unter Beibehaltung des bisherigen Lehrplans, mit jüdischer Religionslehre.

Der Autorin geht es primär darum, „das Schicksal der wahren Opfer der nationalsozialistischen Bildungspolitik in Österreich zu rekonstruieren und wiederzugeben“ (11); das waren vor allem die jüdischen Schüler und Lehrer. Methodisch erreicht sie das überwiegend durch Auswertung von Interviews mit 21 überlebenden Schülern, die sie zu diesem Zweck weltweit aufgesucht hat. Diese ehemaligen Schüler haben die Möglichkeit, sich nach so langer Zeit über die diskriminierenden Verfolgungen äußern zu können, dankbar akzeptiert, was sie in Briefen zum Ausdruck bringen, von denen die Autorin einige in der Einleitung abdruckt.

Um zu zeigen, ob und inwieweit das österreichische Schulwesen für die Umgestaltung bereit war, beschreibt die Autorin das Bildungswesen im Ständestaat bzw. im Austrofaschismus (Kap. 1) und kommt zu dem Schluss, dass trotz gravierender Unterschiede in den „vaterländisch“-autoritären und antidemokratischen Einstellungen für die NS-Vorstellungen und Umgestaltungen durchaus Bereitschaft, zumindest kaum Widerstand vorhanden war. Im nachfolgenden Kap. 2 werden die NS-Pädagogik und die entsprechende Bildungspolitik, wie sie in Deutschland schon realisiert war, skizziert, um in Kap. 3 die Neustrukturierung des Schulsystems unter NS-Herrschaft – weitgehend nach deutschem Modell – darzustellen. Ein systematischer Vergleich der Erziehung und des Schulsystems im österreichischen Ständestaat und im NS-System beschließt den allgemeinen Teil der Arbeit und zeigt die antidemokratischen Elemente beider Systeme auf (Kap. 4).

Den Hauptteil der Arbeit bilden die Kap. 5 und 6; hier werden die Auswirkungen der antijüdischen nationalsozialistischen Bildungspolitik sofort nach dem „Anschluss“ Österreichs am Beispiel des Gymnasiums Zirkusgasse in Wien dargestellt und illustriert. Das Besondere am Gymnasium Zirkusgasse war, dass bis dahin etwa ein Viertel der Schüler jüdisch war, es aber ab dem 29.4.1938 bis zum Ende des Schuljahres eine öffentliche höhere Schule mit ausschließlich jüdischen Schülern wurde, bis diesen im Herbst 1938 (noch vor dem Novemberpogrom) der Besuch öffentlicher höherer Schulen verboten wurde. Die missliebige Schulleitung sowie jüdische und politisch unerwünschte Lehrer wurden gegen NS-Lehrer ausgetauscht. Alle Lehrer waren dann, bis auf den jüdischen Religionslehrer, „arisch“. Der Lehrplan blieb der eines altsprachlichen Gymnasiums. Die Erfahrungen, die die Schüler in dieser relativ kurzen Zeit machen mussten, sowie die weitreichenden Folgen von Terror, Flucht und Vertreibung der jüdischen Schüler und ihrer Familien werden anschaulich durch die Auswertung der erwähnten Interviews mit den 21 ehemaligen Schülern dargestellt. Hinzu kommen Listen der Schüler, die Holocaustopfer wurden, der Emigrierten (mit heutiger Nationalität) sowie die Kurzbiographien der meisten Interviewpartner (Kap. 6).

In den nachfolgenden Kapiteln wird die weitere Geschichte des Gymnasiums ab dem Schuljahr 1938/39 beschrieben (Kap. 7); ebenso der Schulalltag in den „arischen“ Schulen (Kap. 8), die Auswirkungen des Krieges auf die Schüler und die Schule (Kap. 9) sowie insgesamt die Auswirkungen der NS-Bildungspolitik auf die Schulbildung in Österreich (Kap. 10).

Während die Kap. 7-10 nicht unter das eigentliche Thema der Arbeit fallen (ebenso nicht die Kap. 2 und 3), da die jüdischen Schüler des Gymnasiums Zirkusgasse davon nicht direkt betroffen waren, enthält der Anhang (Kap. 11) eine Liste aller 322 jüdischen Schüler des Schuljahres 1937/38 mit Namen, Geburtsdaten, Geburtsort, Religion (auch nicht-jüdisch, da „jüdisch“ nach den NS-Rassegesetzen definiert wurde) sowie mit Bemerkungen, die Angaben über den weiteren Werdegang (etwa heutiger Wohnort) oder auch Sterbedatum und -ort enthalten. Hier wird die Schrift auch zu einem Erinnerungsdokument für die Opfer der NS-Politik.

Bei Oral-History-Arbeiten ist es wegen der Unsicherheit mancher Erinnerungen angebracht, verfügbare objektive Daten zu den damaligen politischen Ereignissen, administrativen Prozessen und Sachverhalten anzugeben. Das geschieht zwar, aber nicht immer zufriedenstellend. So fehlen z. B. exakte Daten über Dauer und Ende des Schul(halb)jahres bzw. des Unterrichts im Sommer/Herbst 1937/38, sowie die Zeitpunkte der Abiturprüfungen und der Entlassungen der jüdischen Schüler. Auch einige Abdrucke von Zeugnissen oder amtlichen Schriftstücken hätten sehr aufschlussreich sein können, nicht nur wegen der Inhalte, sondern auch durch die Datierungen, Briefköpfe etc. Letztere wären z. B. aufschlussreich in Bezug auf die eigentliche Bezeichnung der Schule, denn diese bleibt unklar. Die Autorin nennt die Schule im Titel ihrer Arbeit: Die Judenschule (ohne Anführungszeichen) und im Untertitel: BG Wien II, Zirkusgasse. In der Überschrift des Kap. 5 bezeichnet sie das BGII Zirkusgasse als „Judenschul“ (mit Anführungsstrichen) und merkt in einer Fußnote dazu an: „Dieser Terminus ist selbstverständlich in keiner Weise abwertend zu verstehen, er war aber die 1938 gängige Bezeichnung für das BGII Zirkusgasse, die auch teilweise in den von mir geführten Interviews Anwendung gefunden hat“ (67). Dennoch sind die auch im Text mehrfach vorkommenden Bezeichnungen „Judenschule“ und „Judenschul“ (mal mit, mal ohne Anführungszeichen) irritierend, waren sie doch Ausdruck der nationalsozialistischen Diskriminierung und herabwürdigenden Etikettierung jüdischer Menschen als „Minderwertige“ und „Volksschädlinge“. Die damit verbundene Ausgrenzung und Entwürdigung führte bekanntlich zum physischen Terror, zur Vertreibung und schließlich auch in die Vernichtung, wie die Autorin an den Schicksalen ehemaliger Schüler durchaus sensibel nachzeichnet. Es wird nicht geklärt, was „gängige Bezeichnung“ meint: eine amtliche Namensgebung, eine Bezeichnung von Nazi-Gesinnungsbeamten in der Schulverwaltung oder nur die trotzig-ironische Übernahme durch die Betroffenen nach dem (später bedauerten) zionistischen Motto: ‚Tragt ihn mit Stolz, den gelben Fleck‘? Oder war „Judenschul“ in Wien gar nur eine nostalgische Reminiszenz an die Synagoge (jiddisch: Schul) in Galizien?

Mit diesen Hinweisen soll keine kleinliche Haarspalterei betrieben werden, doch werden hier Fragen berührt, die tief das Problem der Selbstachtung jüdischer Menschen vor allem in der NS-Zeit berührten. Von daher hätten die Bezeichnungen „Judenschul“ und „Judenschule“ viel kritischer reflektiert und bedeutungsspezifisch erläutert werden müssen. Als Buchtitel ist Judenschule jedenfalls nicht geeignet.

Es geht in dieser Arbeit also nicht primär um die Analyse einer jüdischen Schule mit bewusst jüdischer Erziehung, sondern um das Schicksal einer Gruppe jüdischer Schüler, die durch eine schulische Ghettoisierung den ersten Schritt institutioneller Ausgrenzung und Stigmatisierung erfuhr, bevor Vertreibung und schließlich Vernichtung einsetzten. Das ist auch das eigentliche Thema der Autorin. Es geht ihr, wie sie eingangs schreibt, darum, das Schicksal der betroffenen jüdischen Schüler in Erinnerung zu rufen. Deshalb ist ihre namentliche Erfassung sowie die mögliche Klärung ihrer weiteren Schicksale und Biographien ein vorrangiges Anliegen. Die Erinnerung wird durch Abdruck der Namenslisten und Klassenfotos fixiert. Bei der inhaltlichen Auswertung der Interviews kann mit den Aussagen der ehemaligen Schüler veranschaulicht werden, wie stark die Zwangskonzentrierung die jüdischen Schüler damals verwirrt und geschockt hat. Hier liegt auch die Stärke der Arbeit. Sie hält die Erinnerung an Menschen wach, die sonst mit ihren Schicksalen zumindest in Wien in Vergessenheit geraten wären, und ist zugleich ein Lehrbuch über die Auswirkungen totalitärer Politik und Pädagogik. Trotz der o.a. kritischen Einwände, die für eine wissenschaftliche Publikation gelten, ist anzuerkennen, dass die Autorin für eine Diplomarbeit einen außergewöhnlich hohen Aufwand betrieben und Wichtiges vor dem Vergessen bewahrt hat.
Werner Fölling (Dresden)
Zur Zitierweise der Rezension:
Werner Fölling: Rezension von: Meister, Iris Franziska: Die Judenschule, Nationalsozialistische Bildungspolitik am Beispiel des BG Wien II, Zirkusgasse.. Frankfurt am Main: Peter Lang 2011. In: EWR 11 (2012), Nr. 5 (Veröffentlicht am 12.10.2012), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978363161496.html