EWR 13 (2014), Nr. 2 (März/April)

Klaus Himmelstein
Das Konzept Deutschheit
Studien ĂĽber Eduard Spranger
Frankfurt am Main / Berlin / Bern / Bruxelles / New York / Oxford / Wien: Peter Lang 2013
(302 S.; ISBN 978-3-631-62417-3; 44,95 EUR)
Das Konzept Deutschheit Das 50. Todesjahr Eduard Sprangers, 2013, hat deutlich weniger Erinnerungs-Bücher und Akte des Gedenkens inspiriert, als man angesichts der weltweiten Trauer zu seinem Tode 1963 vielleicht prophezeit hätte. Sprangers Philosophie und Erziehungstheorie bzw. Bildungsphilosophie wurden, eher gelegentlich, noch einmal in Erinnerung gerufen [1], dann eher rehabilitierend gegen eine aus der Perspektive von 1933 allmählich dominant werdende Spranger-Kritik [2], sonst gab es nicht viel.

Klaus Himmelsteins Sammlung von Aufsätzen, die zwischen 1990 und 2011 entstanden sind, jetzt angereichert um eine neue Einleitung und einen Beitrag über „Spranger als nationalkonservative[n] Intellektuelle[n] in der Weimarer Republik“ [3] sowie insgesamt überarbeitet vorliegen, unterscheidet sich allerdings von der üblichen pädagogischen Thematisierung Sprangers und lohnt schon deshalb einen intensiveren Blick. Himmelstein will die These systematisch plausibilisieren, dass die Einheit von Sprangers Werk nicht primär in der Philosophie zu suchen ist, auch nicht in der Bildungstheorie, sondern in einem nationalkonservativen Denken, zumal in einem expliziten Konzept von „Deutschheit“ gefunden werden kann, das auch die Funktionszuschreibung an seine soziale Rolle, und zwar als „Intellektueller“, und seine Interpretation seiner theoretischen Arbeit bestimmt habe. Der „politische Spranger“ rückt damit also ins Zentrum der Analyse.

Nach einer Einleitung – „Widersprüche im Sprangerbild“, die nicht nur die Diskrepanz von zeitgenössischer, historischer und historiographischer Aufmerksamkeit und einer inzwischen deutlich geschwundenen theoretischen Relevanz meint festhalten zu können, sondern auch an die unterschiedlichen Bewertungen des politischen Verhaltens erinnert – folgen zehn Texte, im Wechsel biographischer und systematischer Analysen angeordnet. Sie werden eröffnet mit einer Darstellung der „politischen Sozialisation Eduard Sprangers“ unter dem Titel „Kaiser, Kanzel und Paraden“, also im Blick auf „Thron und Altar“ als den offenbar als wesentlich eingeschätzten Sozialisationsinstanzen; aber im Text sind dann eher das Elternhaus, in den bezeichnenden Differenzen in der Beziehung zu Mutter und Vater, das engere soziale Umfeld in Berlin, auch die Aufstiegsambitionen und die Schule bedeutsamer, während die (klein-) bürgerliche Anhänglichkeit an Kirche und Hohenzollernverehrung bis 1914 wohl nicht nur für Spranger gilt.

Die nächste Etappe zeigt Spranger angesichts der neuen Zeit, mit der paradoxen Koppelung von Titel – „Es beginnt jetzt allmählich meine Zeit“, wie ein Spranger-Zitat vorangeht – und Untertitel, den der Autor wählt: „Wider den demokratischen Aufbruch“ (65), die anzeigen, dass es vielleicht doch nicht „seine Zeit“ war, sondern ein sich anbahnender Dauerkonflikt mit der neuen Zeit der demokratischen Republik, eingebettet in ein breites „konservatives Netzwerk“ (93). In Beitrag drei folgt wieder eine systematische Zwischenthese: Orientiert an einem Spranger-Zitat – „Die unentrinnbare Deutschheit aller Deutschen“ – soll „Sprangers Konzept nationaler Identität“ vorgestellt werden. Text vier zeigt die dabei implizite, aber eindeutige antisemitische Orientierung, aber dennoch gleichzeitig, in Beitrag fünf über Kate Silber, bei jüdischen Mitarbeitern eine Haltung, die nur als „[l]oyal über das Exil hinaus“ charakterisiert werden kann. Diese Haltung ist dann freilich wieder (6.) mit einer spezifischen Geschlechterphilosophie belastet („Der Mann lebt für das Werk, die Frau wirkt für das Leben“) und durchaus auch aus der Distanz (7.) gegenüber der Reformpädagogik in ihren zu emphatischen, kindzentrierten Vertretern. Dann folgt (8.) die Analyse der NS-Thematik: „Eduard Spranger sucht seinen Platz im NS-System“, der Aufenthalt in Japan (Beitrag 9 – mit einer sehr nützlichen Dokumentation der Themen und Orte der Vorträge Sprangers) und die Nachkriegszeit (10.) werden abschließend abgehandelt, eine Zeit, die Spranger als „[e]ine Epoche schrecklicher Verirrungen“ (273) bezeichnet, „auf den Trümmern von 1945“, wie Himmelstein titelt.

Was trägt die Analyse ein (jenseits einiger Wiederholungen, die bei solchen Text-sammlungen unvermeidlich sind)? Himmelstein stützt sich auf ein breites Material, bestrebt, auch die vorliegende Literatur zu berücksichtigen, meist erfolgreich, wobei man im Kapitel zum Frauenbild auch Karin Priems Arbeit erwartet hätte, die erst im Folgekapitel genutzt wird, und bei der Rezeption einleitend z.B. Andreas Gruschkas Deutung der Sprangerschen Hermeneutik als Vorform strukturtheoretischen Verste-hens modo Oevermann. Himmelstein kann auch eigene Archivstudien einarbeiten und stützt sich, erwartbar, intensiv auf den für die Forschung unentbehrlichen Spranger-Hadlich-Briefwechsels, der ja jetzt im Netz öffentlich zugänglich ist [4]. Im Zentrum von Präsentation und Diskussion steht natürlich das Konzept der „Deutschheit“, aber man muss auch fragen, ob die Zuschreibung von Sprangers Rolle als „Intellektueller“ wirklich glücklich ist. Hier wird die neuere und breite, auch internationale Forschung (von Christoph Charles oder Pierre Bourdieu, Dietz Bering oder Gangolf Hübinger [5]) nicht wirklich genutzt, so dass die kulturellen und nationalen Differenzen des Begriffs ausgespart werden. Auch die in der deutschen Historiographie eingeführten Attribuierungen – des „Mandarins“ oder des „Gelehrten“ und der für sie um und nach 1900 typischen, auf den Staat fixierten „gouvernementalen Interessenpolitik“ (R. vom Bruch) – werden ohne Not aufgegeben, so dass die etwas unglückliche Figur des beamteten professoralen Intellektuellen entsteht, eine Zuschreibung, die der besonderen deutschen Situation und der Sozialfigur des „freischwebenden“ Intellektuellen gerade nicht gerecht wird. Himmelstein selbst macht diese Besonderheit in seinen eigenen Ausführungen zu Sprangers Selbstverständnis ja auch bewusst, wenn er dessen besonderes, von Hegel geprägtes Staatsverständnis, die Distanz gegenüber dem Parlamentarismus, den Parteien und der Demokratie und die nationale Fixierung zu Recht als Konstanten herauspräpariert und stark macht, den „nationalen Konservatismus“ (30) als Formel für diese Position und ihre kontinuierliche Gestalt vorschlägt sowie schließlich auch die themengebende und formprägende Rolle des Bildungsdiskurses von dieser Referenz aus erläutert, als eine Reflexion, die Sprangers Bindung an Nation und Staat und eine über „Deutschheit“ definierte Kulturidee theoretisch artikuliert, in der Abgrenzung gegenüber dem „Judentum“ schärft und auch als politische Äußerung definiert. Dagegen wird man wenig einwenden, zumal Himmelstein von diesem ideologischen Syndrom aus auch Sprangers Verhältnis zum Nationalsozialismus präzisiert und gegen manche Gleichsetzung, die in der bisherigen Diskussion nicht immer vermieden wurde, in ihrer „Ambivalenz“ (200) charakterisieren kann, in „Opposition und Kooperation“ (231), „kritisch und positiv“ zugleich (222), letztlich aber „desillusioniert“ (234), auch gegenüber eigenen Erwartungen, wie bei vielen Konservativen seit 1933, aber immer ohne Widerständigkeit und ganz ohne aktive Opposition. Entsprechend fällt auch die nachgehende Analyse der deutschen „moralischen Schuld“ aus, noch in der Verurteilung des Nationalsozialismus nicht frei von apologetischen Intentionen, immer in der Versuchung, statt konkreter, auch selbstkritischer historischer Analyse den Ausflug in metaphysische Argumente zu suchen und neben der Schuld der Deutschen auch die „Menschheit“ in Haftung zu nehmen.

Hier und da versucht Himmelstein sogar, dann auch aktualisierend, die Frage aufzunehmen, ob es überhaupt so etwas wie nationale Identität sinnvoll geben kann. Er sieht die besonderen Schwierigkeiten angesichts der Belastungen der deutschen Geschichte, so dass Konstrukte wie „Deutschheit“ sich verbieten, um nationale Identität zu konstruieren, und wahrscheinlich ein „Nationalcharakter“ ebenfalls (obwohl es so etwas wie „Schwedischheit“ oder „Dänischheit“ z.B. im skandinavischen Identitätsdiskurs durchaus anerkannt gibt [6]). Sein Angebot für eine „vernünftige Identität“ findet er bei Jürgen Habermas; aber das verdiente auch eine eigene Debatte, die den Spranger-Kontext übersteigt. Für den bildungshistorischen Zusammenhang und für die Reflexion über den Status und die Funktion von Bildungstheorie aber macht Himmelstein schon jetzt ein Angebot, das man ernst nehmen muss. Vielleicht rührt ja die schwindende Aufmerksamkeit für Spranger genau daher, das er in einer heute ungewohnten Sprache über Bildung und Nation geredet hat, aber im Grunde doch eher konservative nationale Idiosynkrasien liefert als einen Text, den man heute auch noch theoretisch diskutieren kann.

[1] Dafür steht z.B. Hinrichs, W. / Porsche-Ludwig, M. / Bellers, J. (Hrsg.): Eduard Spranger. Verstehende Kulturphilosophie der Politik – Ökonomie – Pädagogik. Originaltexte & Interpretationen. Nordhausen: Bautz 2013.

[2] Beachtlich scheint mir dafür der von einem Ideenhistoriker und damit von außer-halb der Pädagogik kommende Versuch von Reinhard Mehring: Das pädagogische Gewissen. Grundlinien der Bildungsphilosophie Eduard Sprangers (1882-1963). In: Pädagogische Rundschau 67 (2013), S. 405-420.

[3] Himmelstein nennt diesen Beitrag in seiner Vorrede, im Band fehlt unter den 10 gezählten Abhandlungen aber ein Beitrag mit diesem Titel, ja Himmelstein hat die Überschriften gegenüber den – dort jetzt 11 gezählten – Erstveröffentlichungen auch sonst modifiziert, z.B. schon in der Reihung nicht mehr nach dem Zeitpunkt der Erstveröffentlichung angeordnet, und auch die Texte bearbeitet. Ich verzichte im Folgenden aber auf den Versuch, in philologischer Kleinarbeit solche Modifikationen zu notieren. Himmelstein will die Texte neu und als thematische Einheit präsentieren und verstanden wissen, so will ich ihn auch diskutieren.

[4] Vgl. http://bbf.dipf.de/digitale-bbf/editionen/spranger-hadlich/spranger-hadlich.

[5] Sehr informativ fĂĽr dieses Thema die in den Literaturverweisen reichhaltig be-stĂĽckte Sammelrezension von Joseph Jurt: Zur Geschichte des Intellektuellen in Frankreich. In: IASL Diskussionsforum-online 1999, auch: Dietz Bering: Die Epoche des Intellektuellen, 1898-2001. Geburt, Begriff, Grabmal. Berlin: BUP 2010 und dazu die weiterfĂĽhrend-kritische Rezension von Gangolf HĂĽbinger in: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2011-2-125, eingesehen am 16.05.2011.

[6] Bernd Henningsen vor allem hat das an zahlreichen Stellen immer wieder bis hinein in die politischen Selbstverständigungsdiskurse der Gegenwart zeigen können, vgl. für die Analysen dieser politischen Kultur des „Nordens“ insgesamt Götz, N. / Hecker-Stampehl, J. / Schröder, S. M. (Hrsg): Vom alten Norden zum neuen Europa. Politische Kultur im Ostseeraum. Festschrift für Bernd Henningsen. Berlin: BWV 2010.
Heinz-Elmar Tenorth (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Heinz-Elmar Tenorth: Rezension von: Himmelstein, Klaus: Das Konzept Deutschheit, Studien ĂĽber Eduard Spranger. Frankfurt am Main / Berlin / Bern / Bruxelles / New York / Oxford / Wien: Peter Lang 2013. In: EWR 13 (2014), Nr. 2 (Veröffentlicht am 26.03.2014), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978363162417.html