EWR 20 (2021), Nr. 1 (Januar/Februar)

Marcelo Caruso / Daniel Maul (Hrsg.)
Decolonization(s) and Education
New Polities and New Men
Studies in the History of Education Vol. 5
Berlin: Peter Lang 2020
(238 S.; ISBN 978-3-631-67415-4; 64,95 EUR)
Decolonization(s) and Education Dekolonisierungen können nicht nur als politische Umbrüche gewertet, sondern müssen als Prozesse verstanden werden, mit denen auch tiefgreifende soziale, ökonomische und kulturelle Transformationen einhergehen. Daher müssen Dekolonisierungen im Plural gedacht werden.

Dieser Aufgabe stellt sich der vorliegende Sammelband, der einer Tagung im Jahr 2015 folgt. Über eine Vielzahl zeitlich, ideologisch und örtlich differenzierter Schauplätze stehen die mit den Dekolonisierungen verbundenen Transformationen und Neuausrichtungen von Bildung im Fokus. In der vorangestellten Einleitung des Bandes beschreiben die Herausgeber in der Notwendigkeit neuer Bildungs- und Erziehungspolitiken und -systeme die beitragsübergreifende Gemeinsamkeit der betrachteten Dekolonisierungsbestrebungen. Bildung – so wird in diesem Kontext deutlich – ist eng gekoppelt an Vorstellungen der Hervorbringung bzw. Gestaltung „neuer“ Politiken und Gesellschaft(en): „New Polities and New Men“. Der Sammelband schließt dabei theoretisch an transnationale Perspektiven an, die lokale und globale Ebenen miteinander verbinden sowie die Aufhebung der Dichotomisierung Kolonisierter und Kolonisierender anstreben [1].

Die neun Beiträge, die sich mit einem Zeitraum zweier Jahrhunderte befassen, sind nicht systematisch angeordnet. Es zeigt sich jedoch, dass sich ein Teil der Beiträge dem Wandel des jeweiligen Bildungssystems, der andere der Veränderung von konkreten Bildungsteilbereichen widmet.

In den Beiträgen zum Wandel der Bildungssysteme geht es vor allem darum, welche Erwartungen, Erfahrungen und Legitimationen mit der Transformation von Bildung verbunden wurden. So zeigt Michael J. Seth in den Debatten um ein neues Bildungsgesetz in Südkorea 1951 nicht nur, wie versucht wurde, ein neues Bildungssystem in Abgrenzung von japanischen Traditionen zu erschaffen, sondern auch, dass die Debatten stark durch eine Anlehnung an das US-amerikanische System geprägt waren. Dies werde sichtbar in Debatten zur Ein- oder Mehrgliedrigkeit des Schulsystems. Dabei schien es für Südkorea als Bestandteil eines geteilten Landes keine Alternativen außerhalb des amerikanischen Weges zu geben. Wie die Rivalität mit Nordkorea die Bildungsdebatten konkret beeinflusste, wird jedoch nicht weiter vertieft.

Das tragende Moment des Bruchs vs. Kontinuität von kolonialen Systemen zeigt sich weiterhin in zwei Beiträgen, die sich mit dem (post-)kolonialen Indien beschäftigen. Parimala V. Rao gelingt es auf beeindruckende Weise, durch einen Vergleich des britischen und indischen präkolonialen Bildungssystems darzustellen, wie sich Bal Gangadhar Tilak und Mohandas Karamchand Gandhi imperialistische Ideen durch Modellierungen im Sinne von Nationalisierung bzw. Spiritualisierung zu eigen machten und dabei nicht an indische präkoloniale Verhältnisse anknüpften, sondern Interessen der Oberschicht vertraten und sich damit eher an das britische System anlehnten. Auch wenn es aufschlussreich gewesen wäre, die britische Reaktion auf diese Bemühungen zu sehen, zeigt sich eindrücklich die historische Besonderheit dieser kolonialen Interessenübernahme.

Erweitert wird der Beitrag durch die Betrachtungen konkreter Erfahrungen mit dem kolonialen Bildungssystem in Indien von Catriona Ellis. Über die Analyse dreier Autobiografien werden dabei zum einen konkrete Erinnerungen an die Schulzeit und Bereiche informeller Bildung beleuchtet. Zum anderen stellt Ellis heraus, wie die Autor*innen Legitimation für ihren Aktivismus über ihre Erfahrungen mit dem kolonialen System gewannen. Ellis erweitert damit die Untersuchungen um im Diskurs marginalisierte Stimmen: Kinder als Akteur*innen und Empfänger*innen von Bildung.

Während sich die vorhergehenden Beiträge vor allem auf das 20. Jahrhundert beziehen, werden durch einen Aufsatz von Marcelo Caruso, der auf den lateinamerikanischen Raum Bezug nimmt, Perspektiven auf Dekolonisierungsprozesse im 19. Jahrhundert hinzugefügt. Durch die Analyse verschiedener Werke lateinamerikanischer Intellektueller zeigt Caruso auf, wie koloniale Bildung einerseits als Opposition zu Demokratie, aber auch mit Unruhen seit der Unabhängigkeit in Verbindung gebracht wurde. Andererseits wird vor allem deutlich, wie der Bezug auf das koloniale System immer wieder systematisch als Legitimation für Unabhängigkeiten, neue Bildungssysteme und Staatsformen genutzt wurde.

Neben diesen Beiträgen widmet sich der andere Teil des Bandes konkreten Teilbereichen des Bildungssystems – zumeist wird dabei der Wandel von Institutionen beleuchtet.
Zwei Beiträge beschäftigen sich mit Veränderungen in Staaten unter britischer Kolonialherrschaft. Während Hakeem Ibikunle Tijani mit Blick auf Nigeria die Transformation und Dekolonisierung (sogenannte „Nigerianization“) des öffentlichen Dienstes in den Blick nimmt und dabei Dekolonisierung auf eindrucksvolle Weise auch im Zusammenhang britischer „Modernisierungen“ im Sinne der Bildung von Humankapital sichtbar werden lässt, widmet sich Ting-Hong Wong den Debatten rund um die Gründung eines Polytechnikums in Hong Kong. Der zentralen Frage der Autonomie der Institution nachgehend, schlüsselt Wong dabei die Standpunkte verschiedener involvierter Akteur*innen und Institutionen auf, wobei sicher auch die Position der Industrie und ihrer Vertreter*innen stärker fokussiert hätte werden können.

Nichtsdestotrotz zeigt der Aufsatz vor allem den Einfluss von ehemaligen Kolonialbeamt*innen und deren Erfahrungen in anderen Kolonien auf die Entscheidungsprozesse des Polytechnikums.
Drei der Beiträge, mit denen der Sammelband schließt, beschäftigen sich mit der Dekolonisierung unterschiedlicher Bildungsteilbereiche vor sozialistischem Hintergrund. Tim Kaiser, Ingrid Miethe und Alexandra Piepiorka fokussieren die postkoloniale Gründung von Arbeiter- und Bauernfakultäten in Vietnam und Mosambik. Dabei beleuchten die Autor*innen, wie die Institutionen durch Bildungstransfers der Sowjetunion, der Volksrepublik China und der DDR inspiriert wurden, aber gleichzeitig auch auf lokale Interessen und Problemlagen reagierten. Eindrücklich wird aufgezeigt, wie in den Staaten einzigartige Institutionen entstanden, vor deren Hintergrund die Sowjetisierung nicht als neokolonialer Mechanismus verstanden werden kann, der neue Abhängigkeiten oder Unterdrückungen produzierte.

Ebenfalls im sozialistischen Kontext bewegt sich der Beitrag von Sónia Vaz Borges, welche den Einfluss von Medien anhand der Jugendzeitschrift Blufo zwischen 1966-1973 in Guinea-Bissau rekonstruiert. Der Beitrag lässt durch eindrucksvolle Recherchen die Rolle der Zeitschrift als Instrument von Dekolonisierung und politischer Bildung und gleichzeitig die Debatten um Jugend als altersgebundenes Konzept sichtbar werden. Interessant wäre es gewesen, zusätzlich Einblicke in die Sicht von Rezipient*innen der Zeitschrift zu erhalten.

Schließlich wird mit dem Beitrag von Jane Weiß, die sich mit der Ausbildung von Auslands- bzw. Reisekadern in der DDR beschäftigt, erstmals kein konkreter Bezug auf ehemals kolonisierte Staaten genommen, wodurch der Artikel aus dem Kontext des Sammelbandes herauszufallen scheint. Auch wenn hier nach Ansicht der Rezensentin durchaus ein Bezug auf FDJ-Brigaden hätte hergestellt werden können, stellt sich besonders die Herausarbeitung der Konstruktion des Eigenen und Fremden im Kontext sozialistischer Solidarität als anregende Perspektive dar.

Der Band – das zeigt die Zusammenstellung der Artikel – zeichnet sich vor allem durch seine Heterogenität aus. Der breit gefächerte Zugang erweitert nicht nur den Begriff der Dekolonisierung und lässt ihn als komplexen Transformationsbegriff sichtbar werden, auch wird die aktive und produktive Rolle von Bildung in den Prozessen deutlich. Gleichzeitig scheint das verbindende Element der Bildungstransformation vor dem Hintergrund diverser Schauplätze zu Schwierigkeiten in der Kohärenz zu führen. So ist aus Sicht der Rezensentin bedauerlich, dass auf das Leitmotiv der „New Polities and New Men“ in den einzelnen Kapiteln nur vereinzelt explizit Bezug genommen wird. Die Beiträge bilden so eher für sich stehende Artikel und die Beantwortung der Ausgangsthese bleibt in vagen Andeutungen verhaftet.

Möglicherweise hätte dem mit einem resümierenden Beitrag, der leitende Thesen herausarbeitet und weiterführende Forschungsperspektiven eröffnet, entgangen werden können.
Dennoch gelingt es insgesamt, vor dem Hintergrund der Themenvielfalt, relevante und interessante Diskurse herauszufiltern und einen umfassenden – wenn auch anspruchsvollen – Einblick in die Rolle von Bildung in Dekolonisierungsprozessen zu geben. Der Sammelband lädt gerade durch die heterogenen Beiträge zum Aushalten der Komplexität und zur weiteren bildungshistorischen Beschäftigung ein.

[1] Siehe dazu u. a.: H. K. Bhabha (1994): The Location of Culture. London: Routledge; S. Conrad/S. Randeria/R. Römhild (Hg.) (2013): Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften. 2. erweiterte Auflage. Frankfurt a.M.: Campus.
Jessica Dalljo (Halle-Wittenberg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Jessica Dalljo: Rezension von: Caruso, Marcelo / Maul, Daniel (Hg.): Decolonization(s) and Education, New Polities and New Men Studies in the History of Education Vol. 5. Berlin: Peter Lang 2020. In: EWR 20 (2021), Nr. 1 (Veröffentlicht am 23.02.2021), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978363167415.html