EWR 15 (2016), Nr. 6 (November/Dezember)

Paul Mecheril / Susanne Arens / Susann Fegter / Britta Hoffarth / Birte Klingler / Claudia Machold / Margarete Menz / Melanie Plößer / Nadine Rose
Differenz unter Bedingungen von Differenz
Zu Spannungsverhältnissen universitärer Lehre
Wiesbaden: Springer VS 2013
(118 S.; ISBN 978-3-658-01339-4; 24,99 EUR)
Differenz unter Bedingungen von Differenz Die mit der Bologna-Reform einhergehende Beschleunigung des Studiums hat die Hochschullehre vor große Herausforderungen gestellt. Das Interesse, die Hochschullehre zu professionalisieren zeigt sich an der steigenden Anzahl von hochschuldidaktischen Weiterbildungsangeboten, sowie an der wachsenden Anzahl von didaktischen Lehrbüchern für die Hochschullehre. Damit wächst auch der Druck sich als Hochschullehrende/r durch Weiterqualifikation und Zertifizierung zu professionalisieren. So willkommen die hochschuldidaktisch gesteuerte Professionalisierung auch sein mag, stellt sich jedoch die Frage, wie und in welcher Form diese Qualifizierung stattfindet und in welchem Verhältnis diese zu dem universitären Bildungsideal des selbstständigen kritischen Denkens steht.

Das von dem Autor_innenkollektiv Paul Mecheril, Susanne Arens, Susann Fegter, Britta Hoffarth, Birte Klingler, Claudia Machold, Britta Hoffarth, Birte Klingler, Margarete Menz, Melanie Plößer und Nadine Rose vorgelegte Buch „Differenz unter Bedingungen von Differenz. Zu Spannungsverhältnissen universitärer Lehre“ zeigt, dass es noch Platz für die Entwicklung von experimentellen Lehr- und Lernformen geben muss und stellt einen willkommenen Beitrag zur Diskussion über die Hochschullehre dar. Anstatt fertige didaktische Rezepte einer guten Lehre zu vermitteln, gehen die Autor_innen problem- und prozessorientiert vor und widmen sich einer analytischen Diskussion eines Beispiels aus der Lehrpraxis. Hierbei entsteht nicht nur eine differenzierte und kritisch-reflexive Auseinandersetzung mit einem Einzelfall, sondern es leitet zu grundlegenden Überlegungen des Zusammenhangs von Hochschullehre, Bildung, Wissenschaft und Differenzkonstruktionen in der Migrationsgesellschaft und verlangt dabei die Entwicklung einer reflexiven Lehrpraxis in der Hochschullehre.

Anlass dieser kritisch-reflexiven Auseinandersetzung war eine von einer Hochschuldozentin nacherzählte und protokollierte Interaktionsepisode aus einer erziehungswissenschaftlichen Lehrveranstaltung zu migrationsgesellschaftlichen Unterscheidungspraxen. Die Episode dient im vorgelegten Buch als Ausgangspunkt für die, aus vier unterschiedlichen thematischen Analyseperspektiven geführte Diskussion zur Hochschullehre. Diese analytischen Diskussionen reflektieren die konstitutiven Grundlagen der Hochschullehre und zeigen aus einer machtkritischen Perspektive, welche Herausforderungen hieraus für die Lehre zu Differenzverhältnissen entstehen.

Der erste Artikel „Wenn Differenz in der Hochschullehre thematisch wird. Einführung in die Reflexion eines Handlungszusammenhangs“ von Susanne Arens, Susann Fegter, Britta Hoffarth, Birte Klingler, Claudia Machold, Paul Mecheril, Margarete Menz, Melanie Plößer und Nadine Rose führt in das Thema des Buches ein. Der Artikel beginnt mit der Darstellung einer Unterrichtsepisode, in welcher die wissenschaftlichen, theoretischen Perspektiven der Lehrperson mit den erfahrungsbezogenen, stereotypisierend-essentialisierenden Darstellungen eines Studenten kollidieren. Die Lehrperson reagiert mit dem Hinweis, dass es im Seminar darum gehe, „diese Erfahrungen aus einer theoretischen, wissenschaftlichen Perspektive mit gewissem Abstand neu betrachten zu lernen“ (7). Der Perspektivenwechsel, der von der Lehrperson beabsichtigt wird, richtet sich auf die machtkritische Berücksichtigung gesellschaftlicher Differenzverhältnisse, Subjektivierungsordnungen, Handlungspraxen und Denkweisen. Da pädagogische Verhältnisse auf Differenzpraxen gründen und Differenzen demnach in diesen Verhältnissen immer wieder (re-)produziert werden, stellt sich hier eine besondere Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit der Differenz und den Differenzverhältnissen dar; zum einen als Gegenstand und zum anderen als Analyseperspektive. Die Autor_innen vertreten eine dekonstruktive Perspektive, die Differenzen als Ergebnisse eines dichotomisierenden Differenzdenkens, das eine Unterscheidungspraxis hervorruft, versteht. Demnach werden Differenzverhältnisse, -ordnungen und -vorstellungen produziert, wobei der analytische Fokus auf die Prozesse, die Differenzen herstellen und Subjekte in spezifischer Art und Weise anrufen, gerichtet wird. Während eine machtkritische Lehre zu Differenzen die Möglichkeit eröffnet, sich mit der Frage der gesellschaftlichen Normierungs- und Differenzherstellung auseinander zu setzen, werden diese nicht selten von Einwänden und Widersprüchen seitens einiger Studierender, die auf lebensweltliche Erfahrungen oder alltagsweltliche Diskurse Bezug nehmen, konfrontiert. Diese Diskrepanz und die daraus entstehenden Spannungen markieren die Autor_innen als Ausgangspunkt einer kritisch-reflektierten Lehre zu Differenzen, die Gewissheiten in Frage stellt und dementsprechend versucht ein Unbehagen bei Studierenden gegenüber gesellschaftlichen Differenz-, Ungleichheits- und Machtverhältnisse auszulösen. Dies unterstreicht zugleich die Notwendigkeit der Entwicklung einer pädagogischen Professionalität, die durch eine reflexive, forschende Haltung auch in Bezug auf die eigene Position als Lehrende, gekennzeichnet ist. Dazu gehört, wie die Autor_innen des Sammelbandes zeigen, die Aufgabe, sich mit den Spannungen, Unbehagen und Herausforderungen der universitären Lehre zu Differenz als „strukturelle Kennzeichen universitärer Lehre“ (25) reflexiv auseinanderzusetzen.

In ihrem Beitrag „Wahres Wissen? Der Widerspruch von Wirkung und Anspruch universitären Wissens“ nehmen Claudia Machold und Paul Mecheril die Gegenüberstellung des wissenschaftlichen und erfahrungsbezogenen Wissens in der protokollierten Lehrepisode zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen und setzen sich mit den Konstitutionsbedingungen des wissenschaftlichen Wissens auseinander. Sie stellen fest, dass der Vorrangigkeitsanspruch, der wissenschaftlichem Wissen und der Konzeption der Universalität innewohnt, vom Dilemma der Machtförmigkeit geprägt ist. Denn „das Streben nach Wahrheit in Verbindung mit dem Wirklichkeit konstituierenden Sprechen über Andere [stellt] immer auch die Legitimation von Macht und Herrschaft“ dar (39). Dementsprechend stellt sich für die universitäre Lehre im Allgemeinen, aber auch für die Lehre zu Differenzen im Besonderen, die Notwendigkeit dar, das strukturelle Spannungsverhältnis zwischen der Infragestellung und dem Vorrangigkeitsanspruch von wissenschaftlichem Wissen immer wieder in Bezug auf den Gegenstand sowie auf die Lehrpraxis neu zu thematisieren und zu reflektieren.

Der Beitrag „Reizende Ereignisse. Irritation als Beunruhigung und als Verschiebung von Ordnungen“ von Britta Hoffarth, Birte Klingler und Melanie Plößer setzt sich analytisch mit den aus der protokollierten Seminarszene rekonstruierbaren Irritationen und Verunsicherungen auseinander. Die Autor_innen gehen davon aus, dass Lehrsituationen im Allgemein durch das Unvorhersehbare oder Nicht-Stimmige, was den reibungslosen Ablauf von Lehrsituationen unterbricht, zu charakterisieren sind und eine grundlegende Bedeutung für Lern- und Bildungsprozesse haben. Welches Potential und welche Gefahr hierbei für die Bildungsermöglichung und -verhinderung bestehen, zeigt sich in der produktiven Auseinandersetzung mit den Irritationen auf der Ebene des Brüchig-Werdens von Differenzordnungen, sowie den affektiven Reaktionen der Subjekte. Eine Lehrpraxis, welche gesellschaftliche Differenzordnungen und Normalisierungspraxen offengelegt, ist gleichzeitig herausgefordert, diese Verunsicherung als konstitutives, erkenntnis- und handlungsrelevantes Element der Hochschullehre zu verstehen.

Der Beitrag von Susann Fegter und Nadine Rose „Herstellung von Legitimität. Zum Rekurs auf Erfahrungen in der Lehre“ fragt nach der Bedeutung der Thematisierung von alltagsweltlichen Erfahrungen in der Lehre. Die Autor_innen weisen zu Recht darauf hin, dass der Erfahrungsbezug nicht an sich das Problem darstellt, sondern eher die Art und Weise des erfahrungsbezogenen Sprechens. Auf die Seminarepisode aus der Einleitung bezugnehmend, weisen die Autor_innen darauf hin, wie dort die alltagsweltlichen Erfahrungen als Beglaubigungspraktik zur Legitimation des „wahren“ Wissens angewandt werden. Die Problematik des „wahren“ Wissens zeigt sich, aus einer poststrukturalistischen Perspektive betrachtet, gerade darin, dass bestimmtes Wissen und Erfahrungen zum „Wahren“ gemacht werden. Dies verschleiert die soziale und diskursive Überformung von subjektiven Wahrnehmungs- und Erfahrungsmustern und stabilisiert dadurch den Glauben an die Wahrhaftigkeit der eigenen Erfahrungen ohne den Einfluss gesellschaftlicher Macht- und Differenzverhältnisse zu berücksichtigen. Hieraus entsteht für eine machtkritische Hochschullehre die besondere Herausforderung, Bildungsprozesse so zu gestalten, dass eine kritisch-reflexive Auseinandersetzung und Revidierung solcher Positionierungen erfolgen kann.

Im letzten Beitrag „Bildungsräume und Positionsverhandlungen. „Universität“ als Ort von Erkenntnistransformation“ setzen sich Margarete Menz und Susanne Arens mit der Frage nach der in den universitären Bildungspraxen innewohnenden Aufforderung zur Erkenntnistransformation auseinander. Den Autor_innen zufolge zeigt sich diese Aufforderung insbesondere in der Praxis des Befragens, die aus der „Gleichzeitigkeit von Momenten des Fraglich-Werdens von Einsichten und solchen des Antwortens“ (90) besteht. Eine solche unterrichtsbezogene infrage stellende Befragungspraxis könne als eine wissens- und erfahrungsbezogene Positionsverhandlung verstanden werden, die zu einer Verschiebung, Re-Artikulation oder auch zu einer Transformation von Einsichten und Erkenntnissen führen kann. Auf die protokollierte Seminarszene bezugnehmend zeigen Menz und Arens wie die Positionen „Lehrende“ und „Studierende“ im Kontext universitärer Lehr-Lernzusammenhänge hierarchische Wissens-Verhältnisse hervorruft und diese wiederum bestimmte Positionierungen mit unterschiedlichen Legitimationsgrundlagen hervorbringt. Um die Erkenntnisprozesse „neu“ zu gestalten sprechen sich die Autor_innen für eine De-Zentrierung der autoritären Position der Lehrenden und die Verschiebung des pädagogischen Verhältnisses hin zur Einübung von einer gemeinsamen Befragungspraxis, die „bestimmt-unbestimmtes Wissen hervorbringt“ (109) aus.

Insgesamt bleibt festzustellen, dass die Autor_innen eine anregende Auseinandersetzung mit den Herausforderungen der universitären Lehre aus einer poststrukturalistischen Perspektive geliefert haben. Trotz des hohen Theoretisierungsanspruchs gelingt es den Autor_innen ihre Aussagen anhand der Lehrepisode mit der Lehrpraxis zu verbinden und ihre Argumentation empirisch nachvollziehbar darzustellen. Ich wünsche mir, dass die Lektüre dieses Buches bei den Leser_innen einen Anstoß zur (Selbst-)Reflexion, die zu einer kritisch-reflexiven Auseinandersetzung mit der eigenen Lehre und insbesondere zur produktiven Auseinandersetzung mit Irritationen gibt. Denn das Buch zeigt exemplarisch, die Notwendigkeit einer machtkritischen Reflexion von Lehrsituationen auf, welche z.B. im Rahmen einer kollegialen Beratung und durch deren analytische Weiterbearbeitung zur Professionalität der Lehrenden beiträgt. Obwohl die Autor_innen den Schwerpunkt auf die analytisch-theoretischen Auslotung der universitären Lehre zu Differenz gestellt haben, stellt sich nun im Weiteren die Frage, in welcher Form eine (de)konstruktive Lehrpraxis erfolgen sollte. Vielleicht lohnt es sich, wie die Autor_innen des Buchs vorbildlich gezeigt haben, mit der analytischen Reflexion der Irritationen in der eigenen Lehre zu beginnen.
Minna-Kristiina Ruokonen-Engler (Frankfurt am Main)
Zur Zitierweise der Rezension:
Minna-Kristiina Ruokonen-Engler: Rezension von: Mecheril, Paul / Arens, Susanne / Fegter, Susann / Hoffarth, Britta / Klingler, Birte / Machold, Claudia / Menz, Margarete / Plößer, Melanie / Rose, Nadine: Differenz unter Bedingungen von Differenz, Zu Spannungsverhältnissen universitärer Lehre. Wiesbaden: Springer VS 2013. In: EWR 15 (2016), Nr. 6 (Veröffentlicht am 29.11.2016), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978365801339.html