EWR 14 (2015), Nr. 3 (Mai/Juni)

Holger Schmidt
‚Das Gesetz bin ich‘
Verhandlungen von Normalität in der Sozialen Arbeit
Wiesbaden: Springer VS 2014
(504 S.; ISBN 978-3-6580-3826-7; 69,99 EUR)
‚Das Gesetz bin ich‘ Die Auseinandersetzung der Sozialen Arbeit um die Normativität des Handlungsfeldes ist spätestens seit Anfang der 1990er unter Referenz auf gesellschaftliche Diagnosen der zunehmenden Individualisierung von Lebensentwürfen normkritisch ausgerichtet. Seit einigen Jahren hat sich dabei ein, man ist fast geneigt zu sagen, ernüchterter Blick auf die Normativität Sozialer Arbeit etabliert. Wenn auch eine Skepsis in Bezug auf normative Begründungen und Legitimationen der Angebote und Praxis Sozialer Arbeit unter dem Eindruck gesellschafts- und machttheoretischer Arbeiten weiterhin vorherrscht, wird ein Bezug der Sozialen Arbeit auf Normen im Hinblick auf die gesellschaftliche Aufgabe und Funktion des Handlungsfeldes als unausweichlich erkannt [1]. Normkritische Bezüge stehen nicht im Vordergrund der Arbeit von Holger Schmidt. Dennoch lässt sich dessen Studie in diesen Diskurs um die Normativität Sozialer Arbeit einordnen. Entgegen der Ankündigung im Untertitel befasst sich die Arbeit zwar nicht mit „Verhandlungen von Normalität“, wohl aber mit den „konstitutiven Bedingungen der Konstruktion, Durchsetzung und Reproduktion sozialer Normen innerhalb der Institutionen Sozialer Arbeit“ (12). Im Forschungsblick ist die offene Kinder- und Jugendarbeit, die, so Schmidts Begründung für diesen Forschungsfokus, ähnlich der Schule als gesellschaftlich organisiertes Sozialisationsfeld und damit als Feld der Reproduktion von Normen fungiert (11). Untermauert wird der Fokus auf den genannten pädagogischen Kontext mit der Beobachtung, dass Jugendliche in der offenen Kinder- und Jugendarbeit im Kontrast zu anderen Handlungsfeldern, etwa der Schule, normkonformer handeln, dieser pädagogische Bereich demnach „Bedingungen [vorweist; F.S.], die förderlich für soziale Normen sind“ (13). Theoretischer Rahmen seiner Analyse der Reproduktion sozialer Normen stellen Arbeiten des symbolischen Interaktionismus [2] wie auch normtheoretische Überlegungen [3] dar.

Die Arbeit folgt dem klassischen Aufbau einer Qualifikationsarbeit: Nach einer ersten Formulierung des Untersuchungsinteresses im ersten Kapitel schließen in den darauf folgenden drei Kapiteln die theoretische Grundlegung des Erkenntnisinteresses, eine Übersicht des Forschungsstandes und schließlich methodische Erörterungen an. In den anschließenden beiden Kapiteln werden die empirischen Befunde dargestellt, die im siebten Kapitel zusammengefasst und in Richtung eines Ausblickes diskutiert werden. Durch die Anschlüsse, die der Autor zwischen den einzelnen Buchkapiteln herstellt, lassen sich die einzelnen Kapitel wie auch einzelne Unterkapitel problemlos losgelöst von der vorgegebenen Reihenfolge lesen. Insgesamt ist die Arbeit gut lesbar geschrieben. Eine Verdichtung der Argumentation hätte dem Buch insgesamt allerdings gut getan. Der Text verliert sich, insbesondere bei der Auswertung des empirischen Materials, in Einzelheiten, selbstreflexiven Begründungen der eigenen Interpretationen und Redundanzen.

Im Hinblick auf die von Schmidt untersuchte Forschungsfrage nach den konstitutiven Bedingungen der Reproduktion sozialer Normen im Kontext der offenen Kinder- und Jugendarbeit ist der empirische Teil der Arbeit von Bedeutung. Die Studie versteht sich als fokussierte Ethnographie, die dem Untersuchungsinteresse mittels verschiedener Forschungsmethoden nachgeht.

Als Anfangspunkt seiner Analyse fungiert eine quantitative Studie, die den erwähnten Befund der Normkonformität von Kindern und Jugendlichen in den Einrichtungen der offenen Kinder- und Jugendarbeit überprüft. Auf Basis von Interviews mit Besucher_innen wie auch mit den Leitungskräften der dreizehn erfassten Einrichtungen kann diese These für den Bereich der physischen Gewalt mit einer Ausnahme bestätigt werden (147).

Den Hauptteil seiner empirischen Studie und den umfassendsten Teil der Arbeit stellt eine qualitative Untersuchung dar. Mittels verschiedener Verfahren richtet Schmidt den Blick auf die „mikrosozialen Prozesse der Interaktionen“ (14) in zwei sich hinsichtlich der Normkonformität der Besucher_innen kontrastierenden Institutionen, auf deren Basis er die Bedingungen der Reproduktion sozialer Normen untersucht. Zum Einsatz kommen teilnehmende Beobachtungen, die von Audiomitschnitten ergänzt werden, wie auch leitfadengestützte Interviews mit den Fachkräften. Systematisiert ist die Analyse des Materials durch fünf Kategorien. Auch nach Lesen der Studie ist der Rezensentin nicht ganz einsichtig, nach welchen Kriterien der Autor diese Analysekategorien gebildet hat. Bedingt durch die Darstellung des Materials kommt jedoch der Eindruck eines deduktiven Vorgehens auf. Im Rahmen der ersten Kategorie geht Schmidt auf die „Positionierungen der Mitarbeiter_innen“ (152) ein, bei der sich im institutionellen Vergleich eklatante Unterschiede offenbaren. Begründet wird dieser Fokus mit der Annahme, dass „erst durch dieses Einfordern von Handlungserwartungen durch Sanktionen (...) Soziale (sic!) Normen in der Interaktion konstruiert“ (152) werden, was wiederum, so Schmidt weiter, mit einer Sanktionsmacht verbunden ist (153). Ausgehend von der Annahme, dass „Handlungserwartungen im Rahmen sozialer Normen“ (213) v. a. in Situationen, in denen normabweichendes Verhalten vorliegt, bearbeitet werden, wird der Fokus im Rahmen der zweiten Kategorie auf Formen sozialer Kontrolle gelegt, worunter Schmidt, wie er selbst einräumt, „sehr verkürzt Formen der Beobachtung und Überwachung mit dem Ziel, Normabweichungen wahrzunehmen“ (214), versteht. Hinsichtlich der Durchsetzung von Normen scheint dabei das von ihm beobachtete „Handlungsmuster der sukzessiven sozialen Kontrolle“ (261; Herv. i. O.) erfolgreich zu sein. Im Rahmen der dritten Beobachtungskategorie stellt Schmidt die These voran, dass Normbrüche in Interaktionen zutage treten, wenn Sanktionen thematisiert oder durchgesetzt werden (264). Entsprechend interessiert er sich für ähnlich gelagerte Situationen. Es zeigt sich, dass in den von ihm untersuchten Einrichtungen „interaktionistisch eine Institution konstruiert [wird; F.S.], in der bestimmte soziale Normen eine Geltung haben, die außerhalb der Institution nicht gelten oder weitestgehend nicht kontrolliert werden“ (377). Es kommt, so Schmidt weiter, zu keiner „Habitualisierung [der Normen; F.S.] über diese räumlich-institutionellen Grenzen hinweg“ (377). Aufschlussreich sind an dieser Stelle die unterschiedliche Gewichtung, die Fachkräfte und Besucher_innen in Bezug auf psychische und physische Normbrüche vornehmen, sowie die in Anspruch genommene Deutungshoheit der Fachkräfte hinsichtlich der in den Institutionen relevanten Normen. Ausgehend von der Annahme, dass die Internalisierung von Normen einer lebensweltlichen Bezugnahme bedarf (382), analysiert Schmidt im Rahmen der vierten Beobachtungskategorie schließlich die von ihm beobachteten „Gespräche über Normen“ (382). Unter anderem zeigt sich, dass diese Möglichkeit der Vermittlung von Normen nur in geringem Maße genutzt wird.
Reflexionsgespräche über Normen finden in Ausnahmefällen statt, die dabei durch Normbrüche der Kinder und Jugendlichen initiiert sind. Im Rahmen der fünften Beobachtungskategorie widmet sich Schmidt wiederum den Zugangsmöglichkeiten der Besucher_innen zu den in den Einrichtungen bereitgestellten Freizeitangeboten und den hier zu findenden Formen der Reproduktion sozialer Normen.

Mit seiner Arbeit greift Schmidt eine relevante Frage auf, die sowohl für die Praxis als auch den wissenschaftlichen Diskurs der Sozialen Arbeit von Interesse sein dürfte. Ihm ist eine interessante, dicht angelegte Studie gelungen. Sein Vorgehen ist durchdacht, die Analysen und Interpretationen begründet, auch wenn manche Schlussfolgerungen und / oder deren Herleitung nicht überzeugen. Beispielsweise bleibt zu fragen, inwieweit Schmidt auf Basis seiner Analysen Aussagen zur Habitualisierung sozialer Normen treffen kann. Auch stellen sich mit Blick auf sein Untersuchungsinteresse methodologische und erkenntnistheoretische Fragen hinsichtlich seiner Überlegungen zu den Intentionen der von ihm beforschten Pädagog_innen, Kinder und Jugendlichen. Für die Praxis wird das Buch vor allem im Hinblick auf die rekonstruierten handlungspraktischen Bedingungen der Vermittlung und Durchsetzung sozialer Normen von Interesse sein, bei der sich Transparenz und Konsequenz als zentrale Schlüssel pädagogischen Handelns hinsichtlich der Normenvermittlung und -etablierung herausstellen. Fachwissenschaftlich bedeutsam erscheint der Befund, dass sich das von Schmidt rekonstruierte pädagogische Handeln primär als erzieherisches Handeln bestimmen lässt. Im Hinblick auf die Frage nach der Funktion und dem Selbstverständnis der offenen Kinder- und Jugendarbeit ist dies ein interessanter Befund, dessen Relevanz auch im Hinblick auf die vom Autor eruierte kontextspezifische Normkonformität der Kinder und Jugendlichen bedeutsam erscheint. An dieser Stelle lassen sich weitere ertragreiche Forschungen anschließen.

[1] Mecheril, P. / Melter, C.: Differenz und Soziale Arbeit. Historische Schlaglichter und systematische Zusammenhänge. In: Kessl, F./Plößer, M. (Hrsg.): Differenzierung, Normalisierung, Andersheit. Soziale Arbeit als Arbeit mit den Anderen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2010, 117–31.
[2] Mead, G.: Geist, Identität und Gesellschaft. Frankfurt / Main: Suhrkamp 2005.
[3] Popitz, H.: Soziale Normen. Frankfurt / Main: Suhrkamp 2006.
Friederike Schmidt (Bielefeld)
Zur Zitierweise der Rezension:
Friederike Schmidt: Rezension von: Schmidt, Holger: ‚Das Gesetz bin ich‘, Verhandlungen von Normalität in der Sozialen Arbeit. Wiesbaden: Springer VS 2014. In: EWR 14 (2015), Nr. 3 (Veröffentlicht am 11.06.2015), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978365803826.html