EWR 16 (2017), Nr. 2 (März/April)

Karl Heinz Dammer / Thomas Vogel / Helmut Wehr (Hrsg.)
Zur Aktualität der Kritischen Theorie für die Pädagogik
Wiesbaden: Springer VS 2016
(297 S.; ISBN 978-3-658-09568-0; 49,99 EUR)
Zur Aktualität der Kritischen Theorie für die Pädagogik Der von Karl Heinz Dammer, Thomas Vogel und Helmut Wehr herausgegebene Sammelband dokumentiert die Vorträge einer Ringvorlesung, die im Sommersemester 2014 an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg abgehalten wurde. Das Buch gliedert sich in vier thematische Zugänge von unterschiedlicher Länge, die von der Frage, was Kritische Theorie (im Folgenden: KT) überhaupt sei (Dirk Lehmann), über die KT als paradigmatische Grundlage der Pädagogik (Andreas Gruschka, Karl-Heinz Dammer, Rolf Göppel) bis hin zu den ausführlichen Abschnitten bildungstheoretischer Kritiken und aktuellen Problemstellungen der Erziehung führen (Alfred Schäfer, Harald Bierbaum, Georg Zenkert, Thomas Vogel, Helmut Wehr, Rainer Funk, Ludwig A. Pongratz, Karin Kersting und Ralf Lankau).

Schon hier kann das Ergebnis der Rezension vorweggenommen werden: Mit dem Buch liegt seit langem wieder einmal eine gelungene Diskussion der KT in der Pädagogik vor. Gleichwohl muss die Reihenfolge der Artikel bemängelt werden: So werden durch die Trennung der Abschnitte III (Bildung) und IV (Erziehung), die kapitelübergreifenden Schnittmengen zwischen den einzelnen Beiträgen eingeebnet. Schließlich hätte sich auch hinsichtlich der Frage nach einer einführenden Zugänglichkeit der Beiträge eine andere Gliederung angeboten. Daher orientiere ich mich im Folgenden vor allem an der inhaltlichen Schwerpunktsetzung der einzelnen Beiträge.

In ihrer Einleitung machen Vogel und Dammer deutlich, inwiefern sie die Relevanz und, wie der Titel etwas neoliberal verspricht, die Aktualität der KT für pädagogische Denk- und Handlungsformen hervorheben wollen. Bereits nach ein paar Zeilen fällt auf, dass die Autoren mit der „alten Kritischen Theorie“ einen spezifischen Zugang präferieren. Denn der/die Leser_in wird früh mit Kernstücken aus der Dialektik der Aufklärung und nicht, wie so oft, mit dem pädagogische Praxisnähe versprechenden kommunikationstheoretischem Paradigma von Habermas konfrontiert. Und so geht es im Sinne Adornos und Horkheimers auch nicht um „die wissenschaftliche Unterstützung laufender Reformvorhaben“ (1), sondern um eine radikale Selbstkritik der Verwobenheit „sowohl der pädagogischen Praxis als auch der sie beschreibenden Theorien in gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse“ (1). In der Gegenüberstellung langer und komplexer Zitatstellen aus der Dialektik der Aufklärung mit aktuellen bildungsökonomischen Strategien, wie der Ausrufung der „Bildungsrepublik Deutschland“ (3) oder der Frage nach dem Zusammenhang der technischen Vermessung mit sozialen Entfremdungsphänomenen, wird einleitend versucht, Problemstellungen der KT mit der gegenwärtigen Pädagogik zu konfrontieren. Ein Unternehmen, das gewiss neugierig macht, aber als Einleitung doch recht voraussetzungsreich ist. Dieser Umstand ändert sich mit Lehmanns hervorragendem Überblick zur KT. Anhand einer Interviewpassage von Leo Löwenthal wird diese als unerbittliche Denk- und verweigernde Lebensform plausibel gemacht. Indem Lehmann, mit Rekurs auf die prominente Einführung von Türcke und Bolte [1], Marx und Engels als Gründungsväter der KT aufruft, problematisiert er völlig zu Recht eine die Ökonomie aussparende Eigendynamik, die auch die pädagogische Rezeption geprägt hat.

Weiterführend werden in den Beiträgen von Göppel und Wehr mit Sigfried Bernfeld und Erich Fromm eher randständige Figuren der KT, aber dafür pädagogisch und außerakademisch umso populärere Denker, vorgestellt. Beeindruckend ist hierbei nicht zuletzt Göppels Erinnerung an Bernfelds hellsichtige Analyse einer „Erziehung vor Auschwitz“ (99f). Interessant zu diskutieren wäre darüber hinaus, inwiefern Bernfelds Erziehungsvorstellungen noch einem traditionellen Marxismus verhaftet sind, wohingegen Adorno, Horkheimer oder Marcuse als klassische Vertreter eines weiter gedachten westlichen Marxismus gelten.

Genuin bildungstheoretisch prüfen Schäfer und Zenkert Adornos Theorie der Halbbildung vor der Folie des Kunstbegriffs Walter Benjamins (115ff) und der Begriffsdifferenz zwischen „Individuum“ und „Subjekt“ (146ff). Dabei kreisen beide Aufsätze implizit um die Frage, welchen Subjektraum Adorno, nach seiner diagnostizierten „Eliminierung des Subjekts um seiner Selbsterhaltung willen“ [2], überhaupt noch offen lässt. Schäfer sieht in der Chiffre der 68er-Generation die Möglichkeit der Eröffnung neuer Spielräume; Zenkert verweist u.a. auf Adornos philosophische Unterbelichtung des Entfremdungsbegriffs.

Gerade in Bezug auf die bildungstheoretische Perspektive markiert das Fehlen Heinz Joachim Heydorns, als ausdrücklich materialistischer Bildungsphilosoph, den man durchaus in einem weiten Sinne im theoretischen Umfeld der KT verorten kann, eine Leerstelle, die zu Füllen dem Band noch gut getan hätte.

Das Motiv der Dialektik der Aufklärung wird in den Beiträgen von Dammer und Vogel am Gegenstand der Identifikation von Mathematik und Natur mit (neoliberaler) Herrschaft fortgesetzt. Über Horkheimers Unterscheidung zwischen traditioneller und kritischer Theorie führt Dammer seine ökonomisch fundierte Kritik an PISA, von den Grundlagen moderner Wissenschaft bis hin zur antizipierten Selbstzerstörung ebenjener, aus – ein lesenswertes Unternehmen, das seinesgleichen auf dem Markt der PISA-Kritik sucht. Vogel und Bierbaum nähern sich dem Feld über den Naturbegriff bzw. dem Unterrichtsgegenstand der Naturwissenschaften. Während Bierbaum wiederum im positiven Rückgriff auf die Ergebnisse der PISA-Studie notwendige und damit ideologische Gründe für das intendierte Scheitern der didaktischen Vermittlungsversuche in den naturwissenschaftlichen Fächern aufdeckt, zeigt Vogel die herrschaftliche Verstrickung, aber auch Wege aus der gesellschaftlichen Naturkrise auf. Indem beide Aufsätze auf das „Genetische Prinzip“ Martin Wagenscheins zurückgreifen, wird mithin das didaktische Feld für eine Kritische Pädagogik sondiert (138ff; 172ff).

Eine inhaltliche Nähe weisen auch die Beiträge von Dammer und Pongratz auf. Denn beide rekurrieren in ihrer Kritik auf den postfordistischen Sozialcharakter des „unternehmerischen Selbst“ (Bröckling). Gewohnt pointiert positioniert Pongratz das Konzept des Trainingsraums in das pädagogische Kontrollregime des Zwangs zur Selbstoptimierung. Dabei setzt er sein Unternehmen einer Verknüpfung der KT mit den poststrukturalistischen Ansätzen Foucaults und Deleuzes fort. Dieser Beitrag sei, neben dem von Lehmann, besonders als Einführungslektüre empfohlen.

Neben dem Beitrag Bierbaums, stehen sich die Zugänge Gruschkas und Kerstings durch ihren positiven Bezug auf didaktische Bearbeitungsmodelle nahe. Während Gruschka nochmals seine Konzeption Negativer Pädagogik skizziert, führt Kersting diese empirisch am Gegenstand der Ausbildung von Pflegepersonal aus. Empirisch gehen die von Gruschka begründeten und an einen Begriff Adornos angelehnten „Kältestudien“ vom bürgerlichen Widerspruch zwischen Norm und Funktion aus: z.B. dem Ideal der allgemeinen Bildung und der Selektionsfunktion der Schule. Kersting analysiert die Reaktionsmuster des Pflegepersonals auf die explizit oder implizit wahrgenommenen Widersprüche, wie der Maßgabe einer patientenorientierten Pflege und dem Problem einer dauerhaften personellen Unterbesetzung. Dagegen hebt Gruschka auf das Potential der freizulegenden Logik von „Strukturbildungsgesetzmäßigkeiten“ als Resultat der widersprüchlichen Praxis zwischen Sein und Sollen ab. Darüber versucht er anzudeuten, „wie man aus der Reproduktion des Gegebenen heraustreten könnte“ (48), indem die Offenlegung von Strukturen auch Alternativen ermöglicht. Kersting indes weist, vor dem Hintergrund einer materialistischen Gesellschaftsanalyse, auf die praktische „Unauflösbarkeit“ (265) des Widerspruchs hin.

Hier könnte man, im Anschluss an die im Band versammelten didaktischen Konzepte stärker zwischen den strukturellen Notwendigkeiten der Widerspruchformen differenzieren. So klingt in einzelnen Beiträgen das Versprechen an, aktuelle kapitalistisch bestimmte Widersprüche, pädagogisch auflösen oder wenigstens bearbeiten zu können. Dagegen bleibt zunächst festzuhalten, dass etwa eine Schule ohne Selektionsfunktion ihren Auftrag in von Marktverhältnissen geprägten Formen der Vergesellschaftung geradewegs verfehlen würde. Dieser Widerspruch ließe sich mit Hinweis auf Adorno allein gesellschaftlich und nicht didaktisch verhandeln.

Eine kritische Einschätzung der Folgen der sogenannten Digitalisierung liefern die Beitrage von Funk und Lankau. Funk betrachtet die technischen und ökonomischen Auswirkungen der entgrenzten Digitalisierung auf die Psyche der Menschen. Darüber zeigt er auf, wie es zu einer Verschiebung der inneren Antriebskräfte, hin zur Außenfixierung kommt. Dies kann zu Formen der Entfremdung und Abhängigkeit führen, die mit Fromm als eine neue „Pathologie der Normalität“ (230) bezeichnet werden. Abschließend betreibt Lankau digitale Aufklärungsarbeit an einem von der kritischen Pädagogik unterbelichteten Gegenstand. Entlang der Frage von Mündigkeit wird die Digitalisierung der Lebenswelt als Vorhut einer neuen autoritären Erziehungsform gefasst. Auch wenn die am Ende gemachten Vorschläge gegen die digitale Entmündigung im Spektrum der Konsumkritik verbleiben (müssen), zeigt der Beitrag über die bekannte Kritik der Selbstoptimierung hinaus, wie aus digitaler „Freiwilligkeit“ soziale „Maßregeln“ und aus userfreundlichen „Vorschlägen“ ökonomische „Vorgaben“ werden (292). Pädagogisch hält Lankau nonchalant fest: „Kein Mensch lernt digital“ (290).

Im Sinne eines Fazit lässt sich festhalten, dass der Sammelband aus dem Dickicht des kaum mehr zu sondierenden pädagogischen Blätterwaldes zweifelsohne hervorsticht. Die heterogenen Beiträge kreisen allesamt um eine radikale Theorie der Gesellschaft, wie sie Adorno und Horkheimer im Anschluss an Marx und Freud einst begründeten. Sich dieses Gedankengebäude zu erschließen, ist beileibe kein einfaches Unterfangen, aber eines das nicht nur intellektuell lohnt. Zwar erspart keine Sekundärliteratur die Originallektüre, doch durch Bücher wie dieses werden Zugänge ermöglicht und an die gegenwartsdiagnostische Bedeutsamkeit der KT erinnert.

[1] Türcke, C. /Bolte, G.: Einführung in die kritische Theorie. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1994.

[2] Adorno, T. W.: Theorie der Halbbildung [1959]. In: Gesammelte Schriften Bd. 8. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997, 93-121 (hier: 96).
Daniel Burghardt (Köln)
Zur Zitierweise der Rezension:
Daniel Burghardt: Rezension von: Dammer, Karl Heinz / Vogel, Thomas / Wehr, Helmut (Hg.): Zur Aktualität der Kritischen Theorie für die Pädagogik. Wiesbaden: Springer VS 2016. In: EWR 16 (2017), Nr. 2 (Veröffentlicht am 28.03.2017), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978365809568.html