EWR 16 (2017), Nr. 5 (September/Oktober)

Albert Scherr / Caroline Janz / Stefan Müller (Hrsg.)
Diskriminierung in der beruflichen Bildung
Wie migrantische Jugendliche bei der Lehrstellenvergabe benachteiligt werden
Wiesbaden: Springer VS 2015
(201 Seiten; ISBN 978-3-658-09778-3; 25,00 EUR)
Diskriminierung in der beruflichen Bildung Dass sich Jugendliche mit Migrationshintergrund bei der Einmündung in die Berufsausbildung in Deutschland mit teilweise gravierenden Benachteiligungen konfrontiert sehen, gilt inzwischen als unbestritten. Ein Schluss auf diskriminierende Praktiken von Ausbildungsbetrieben als Ursache dieses Sachverhalts war bisher jedoch nur beschränkt zulässig. Albert Scherr, Caroline Janz und Stefan Müller legen mit ihrer Untersuchung ‚Auswahlprozesse bei der Lehrstellenvergabe’ zur Diskriminierung in der beruflichen Bildung nun erstmals für Deutschland eine qualitative, interviewbasierte Studie vor zur Frage, unter welchen Bedingungen „Auswahlprozesse bei der Lehrstellenvergabe zur Diskriminierung oder aber zur Gleichbehandlung migrantischer Jugendlicher führen“ (11). Die Autor/innen vertreten dabei einen sozialwissenschaftlichen Forschungszugang, der sowohl über betriebswirtschaftliche Kosten-Nutzen-Kalküle als auch über die Annahme sozialpsychologischer Vorurteile hinausgeht, um betriebliche Diskriminierung bei der Einstellung von Auszubildenden verstehbar zu machen. Normativer Rahmen der Studie bildet das im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) spezifizierte Diskriminierungsverbot, das u.a. auch darauf abzielt, rassistische und ethnisierende Diskriminierung im Zugang zur Berufsausbildung zu beseitigen.

Im Anschluss an die informativ als Studienüberblick gehaltene Einleitung präsentieren die Autor/innen in Kapitel 2 ihre untersuchungsleitenden Annahmen sowie eine Arbeitsdefinition von betrieblicher Diskriminierung. Letztere besteht demnach „in der organisationellen Verwendung gesellschaftlich verfügbarerer Unterscheidungen von Personenkategorien und sozialen Gruppen zur Bewerkstelligung, Begründung und Rechtfertigung von Personalentscheidungen im Hinblick auf den Zugang zu betrieblicher Ausbildung (...)“ (28). Damit wird betriebliche Diskriminierung als Organisationspraxis in den Blick genommen. Betriebe werden als Leistungs-Gemeinschaften konzipiert, das heißt wirtschaftliche Produktivität setzt immer auch wechselseitige Akzeptanz zwischen den Mitarbeiter/innen voraus. Persönlichkeitsmerkmale und soziale Beziehungen stellen für Personalverantwortliche entsprechend produktiv nutzbare Ressourcen dar. Im Sinne eines empirisch gestützten, theoriebildenden Ertrags der Studie präsentieren die Autor/innen sodann eine Serie von 15 Thesen (37-46) zu den Kriterien betrieblicher Auswahlentscheidungen, die in den Folgekapiteln differenziert diskutiert werden.

Kapitel 3 gibt einen kurzen Überblick zu unterschiedlichen Methoden der Diskriminierungsforschung. Angesichts der wissenschaftlichen Herausforderung, dass betriebliche Auswahlverfahren und Personalentscheidungen gegen externe Beobachtungen weitestgehend abgeschottet sind, haben die Autor/innen einen offenen, thesengenerierenden Forschungsansatz gewählt. Empirische Grundlage bilden neben Medienberichten, Internetseiten und verbandlichen Materialien primär 30 Interviews mit Personalverantwortlichen von Klein-, Mittel- und Großbetrieben aus den Jahren 2013 und 2014. Das untersuchte betriebliche Sample deckt ein breites Spektrum von Berufen in Industrie, Handwerk und Dienstleistung ab. Geografisch wurden sowohl städtische als auch ländliche Regionen in Baden-Württemberg berücksichtigt.

Den Autor/innen ist es ein wichtiges Anliegen, Ausbildungsbetriebe nicht unter Generalverdacht der Diskriminierung zu stellen. In Kapitel 4 wird in diesem Sinne die betriebliche Varianz von (Nicht-)Diskriminierung mittels fünf Fallportraits veranschaulicht. Zum einen werden ein international ausgerichtetes Hotel mit migrationserfahrenem Manager sowie ein Betrieb eines international agierenden Konzerns der Automobilindustrie portraitiert, in denen migrantische Auszubildende inzwischen als unproblematische Normalfälle gelten. Kontrastiert werden diese zwei Fälle mit einer Bank und zwei kleineren Handwerksbetrieben an jeweils ländlich-kleinstädtischen Standorten, die bei der Rekrutierung Gewicht auf Ortsansässigkeit, soziale Reputation der Familie und Passung in eine christliche geprägte Region legen, sowie in einem Fall migrantischen Jugendlichen Defizite entlang ethno-nationalen und ethno-rassistischen Differenzenlinien zuschreiben. In jedem dieser Fälle reduzieren sich die Ausbildungschancen für Jugendliche mit Migrationshintergrund mehr oder weniger stark. Die Fallportraits lassen darauf schließen, dass eine Diskriminierung migrantischer Jugendlicher dann am wahrscheinlichsten ist, wenn ein Betrieb über keine eigenen Erfahrungen mit migrantischen Mitarbeiter/innen verfügt, wenn seine Markt- und Kundenbeziehungen regional ausgerichtet sind, wenn der migrantische Bevölkerungsanteil in der Region gering ist, und wenn nationalistische, ethnisierende oder anti-islamische Haltungen im betrieblichen Umfeld einflussreich sind.

In Kapitel 5 analysieren Albert Scherr und sein Team differenziert, wie Betriebe Unterscheidungen und Zuschreibungen aufgrund eines Migrationshintergrunds oder von ethno-nationalen Kategorien treffen. Mit der von Gomolla / Radtke (2009) für die Untersuchung institutioneller Diskriminierung in der Schule vorgeschlagene Argumentationsanalyse [1] wird untersucht, mit welchen expliziten und impliziten Hintergrundannahmen die Verwendung ethno-nationaler Kategorien begründet und Auswahlentscheidungen gerechtfertigt werden. Die herausgearbeiteten Verwendungsmodi von Differenzkategorien reichen dabei von der Neutralisierung oder Infragestellung der Unterscheidung Einheimische/Migranten über eine Unterscheidung ohne negative Eigenschaftszuschreibungen bis hin zur Annahme von innerbetrieblichen und kundenseitigen Akzeptanzproblemen sowie einer Problematisierung von ethno-national gefassten Teilgruppen (u.a. Türken, Muslime, Afrikaner). Im letzteren Fall werden ethnisch-nationale Abschottung im Betrieb antizipiert, Defizitzuschreibungen bzgl. Sprache, Erziehung, Geschlechterverhältnisse, Arbeitstugenden etc. vorgenommen, oder Bewerber/innen als Angehörige einer gesellschaftlich problematischen Gruppe (u.a. fehlender Integrationswillen) dargestellt.

Anschließend werden zwei Spezialfälle von kategorialer Diskriminierung bei der Ausbildungsstellenvergabe aufgezeigt. In Kapitel 6 wird das muslimische Kopftuch als zweifach folgenreiches diskriminierungsrelevantes Merkmal untersucht: Zum einen macht es islamische Religiosität sichtbar, wobei Betriebe negative Kundenreaktionen befürchten; zum anderen schürt es den Verdacht, dass kopftuchtragende Muslimas einer religiösen Strömung angehören, die modernen Selbstbestimmungs- und Gleichberechtigungsidealen der Geschlechter widerspricht. Desweitern finden die Autor/innen in ihren Daten deutliche Hinweise auf eine diskriminierungsanfällige Wahrnehmung von Hauptschüler/innen, die über Annahmen schulischer Kompetenzen hinausgeht und Sozialstereotype miteinschließt (Kapitel 7). Hauptschüler/innen haben in der Folge oft keine Chance, zu den betrieblichen Auswahlverfahren zugelassen zu werden. Da Schüler/innen aus Drittstaaten außerhalb der EU in Baden-Württemberg (und darüber hinaus) an Werkreal- und Hauptschulen deutlich überrepräsentiert sind, sind sie im Zugang zum dualen Ausbildungssystem doppelt benachteiligt.

Zum Schluss fragen die Autor/innen danach, wie betriebliche Diskriminierung verringert werden kann (Kapitel 8). In Anbetracht der analysierten betrieblichen Ausschlussmechanismen wird einsichtig, dass sich die Ausbildungschancen von migrantischen Bewerber/innen durch eine Steigerung ihrer schulischen Kompetenzen nicht entscheidend beeinflussen lassen, dass anonymisierte Bewerbungsverfahren kaum durchsetzbar sind, und dass ein besonderer Handlungsbedarf im Hinblick auf kleine Ausbildungsbetriebe besteht. Es werden Anti-Diskriminierungskonzepte für Kleinbetriebe empfohlen, die anstatt auf Anonymisierung auf eine „radikale Deanonymisierung“ (190) setzen: Zum einen durch die Schaffung niedrigschwelliger Möglichkeiten, positive Erfahrungen mit migrantischen Jugendlichen machen zu können (u.a. Kooperationen mit Schulen, die betriebliche Praktika vermitteln sowie ‚Azubi-Speed-Dateings’); zum anderen werden Unterstützungs- und Beratungsangebote durch intermediäre Institutionen (u.a. Kammern) empfohlen.

Die Lektüre der Studie von Albert Scherr, Caroline Janz und Stefan Müller kann sowohl für die universitäre Lehre als auch für Akteure des Ausbildungssystems (Personalverantwortliche, Betriebsräte, Lehrkräfte) und der Anti-Diskriminierungspolitik sehr empfohlen werden. Den Autor/innen gelingt es ausgezeichnet, auf dem aktuellen Stand der internationalen Forschung eine theoretisch komplexe Thematik gut verständlich und anschaulich zu vermitteln. Die Studie zeichnet sich dabei durch einen wissenschaftlich reflektierten Umgang mit Ungleichheits- und Differenzkategorien aus. Darüber hinaus bietet die Studie wertvolle Ansatzpunkte für die Theorieentwicklung im Hinblick auf betriebliche Merkmale und betriebliche Situationen der Personalauswahl, die potentiell Diskriminierung oder aber Nicht-Diskriminierung zur Folge haben.

[1] Gomolla, M. / Radtke, F.-O. Institutionelle Diskriminierung. Die Herstellung ethnischer Differenz in der Schule. Wiesbaden: VS für Sozialwissenschaften 2.009.
Christian Imdorf (Basel)
Zur Zitierweise der Rezension:
Christian Imdorf: Rezension von: Scherr, Albert / Janz, Caroline / Müller, Stefan (Hg.): Diskriminierung in der beruflichen Bildung, Wie migrantische Jugendliche bei der Lehrstellenvergabe benachteiligt werden. Wiesbaden: Springer VS 2015. In: EWR 16 (2017), Nr. 5 (Veröffentlicht am 26.09.2017), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978365809778.html