EWR 16 (2017), Nr. 4 (Juli/August)

Egon SchĂŒtz
Existenzialkritische PĂ€dagogik
Hrsg. von Malte Brinkmann
Reihe: PhÀnomenologische Erziehungswissenschaft, Band 2
Wiesbaden: Springer VS 2017
(434 Seiten; ISBN 978-3-6581-4508-8; 59,99 EUR)
Existenzialkritische PĂ€dagogik In dem an der Abteilung Allgemeine Erziehungswissenschaft der UniversitĂ€t zu Berlin angesiedelten Egon-SchĂŒtz-Archiv [1] stehen die unveröffentlichten Schriften von Egon SchĂŒtz vollstĂ€ndig als PDF-Dateien zur VerfĂŒgung. Eine Auswahl der wichtigsten veröffentlichten Schriften liegt nun unter dem Sammeltitel „Existenzialkritische PĂ€dagogik“ in gedruckter Form und als E-Book vor. Die meisten der 29 Schriften stammen aus den Jahren seines Wirkens als Inhaber des Lehrstuhls fĂŒr Allgemeine PĂ€dagogik, Anthropologie und Ethik an der UniversitĂ€t zu Köln (1980-1997); zwei spĂ€te Schriften (aus 2000 und 2001) schließen den Band ab. Malte Brinkmann hat die Publikationen nach den Gesichtspunkten „Existenzialkritische PĂ€dagogik“ (12 BeitrĂ€ge), „PĂ€dagogische Klassiker – unter der Perspektive aktueller Fragen nach Staat, Moral, Schule, Glauben, Kritik und Subjekt( vgl. 17) – neu gelesen“ (8 BeitrĂ€ge), „Anthropologie-Kritik und Humanismus“ (3 BeitrĂ€ge), „Kunst und Ă€sthetische Erziehung“ (3 BeitrĂ€ge) und „Sprache und Existenz“ (3 BeitrĂ€ge) geordnet; die Ungleichgewichtigkeit der einzelnen Kapitel lĂ€sst vermuten, dass es nicht ganz leicht fĂ€llt, mit wenigen KapitelĂŒberschriften der thematischen Breite und den Besonderheiten des Ansatzes von SchĂŒtz gerecht zu werden. In einer Einleitung von knapp 40 Seiten skizziert er jeden einzelnen Beitrag, bemĂŒht sich um eine systematische WĂŒrdigung des Gesamtwerks, konfrontiert den „fundamental-kritischen Entwurf, der auf Dialog und Nach-Denken setzt“ (13) mit kritischen Anfragen und gibt Auskunft zur Biographie von Egon SchĂŒtz (eine Ă€hnliche ausfĂŒhrliche WĂŒrdigung des Werkes von Egon SchĂŒtz ist auch auf der Homepage des SchĂŒtz-Archivs zu finden). Die Textnachweise und ein Sach- und Personenregister am Ende des Bandes sind anerkennenswert; erstere sind leider nicht durchgehend vollstĂ€ndig zitiert, letzteres lĂ€sst leider manche Personen und Begriffe vermissen und ist auch nicht frei von FlĂŒchtigkeitsfehlern.

In lexikalischer KĂŒrze gesagt, versucht SchĂŒtz mit dem Entwurf einer existenzialkritischen PĂ€dagogik Heideggers Seins- und Metaphysikkritik mit Finks Sozialphilosophie unter pĂ€dagogischer und bildungstheoretischer Perspektive zusammenzubringen (vgl. 36), und er tut dies, indem er, zurĂŒckgehend auf die ontologische Frage nach dem „Sein“, abweichende Praxis- und Erfahrungsbereiche aufweist, deren Beachtung eine grundsĂ€tzliche Umorientierung des Selbst- und BildungsverstĂ€ndnisses impliziere. „Der Bruch mit der bildungstheoretischen, subjektphilosophischen, geisteswissenschaftlichen, sozialwissenschaftlichen und empirisch-analytischen Tradition ist unĂŒberbrĂŒckbar und irreversibel.“ (4) Diese kurze (negative) Charakteristik als „Bruch“ bewahrheitet sich beim Lesen jedes einzelnen Beitrages. Zutreffend identifiziert Brinkmann im Werk von Egon SchĂŒtz fĂŒnf Reflexionsfelder, die zugleich „fĂŒr den existenzialkritischen Ansatz prĂ€gend“ (7) seien: „ein deskriptiv-kritisches, ein grundlagentheoretisches, ein anthropologisches, ein bildungstheoretisches und schließlich ein ethisches Feld“ (ebd.). Er macht insbesondere die grundlagentheoretische und anthropologiekritische Seite von SchĂŒtz stark, was sich u.a. an bemerkenswerten Unterschieden zwischen der „Anthropologie“ von E. SchĂŒtz und jener von D. Benners „Allgemeine PĂ€dagogik“ zeigen lĂ€sst, die beide auf E. Finks „GrundphĂ€nomene des menschlichen Daseins“ rekurrieren: SchĂŒtz folgt nicht der Lesart „humanistischer Selbstgewissheit und aufklĂ€rerischer Autonomie“ (7) und wĂŒrde wohl auch nicht dessen Handlungstheorie teilen (vgl. 2.2. „Theorie, Technik, Praxis im Horizont der Metaphysik der SubjektivitĂ€t“ (1981), 2.10. „Handeln und die Transzendenz des Scheiterns (1982)).

Vor dem Hintergrund der ganz vorzĂŒglichen und kenntnisreichen EinfĂŒhrung Malte Brinkmanns, der Egon SchĂŒtz lange Jahre auch an der UniversitĂ€t zu Köln als UniversitĂ€tslehrer kennengelernt und seinerseits als profilierter Vertreter der phĂ€nomenologischen Erziehungswissenschaft gilt, innerhalb derer die existenzialkritische PĂ€dagogik zu verorten ist, stellt sich die Frage, was eine Rezension noch leisten kann. GrundsĂ€tzlich wĂŒrde sich anbieten, sich auf beide Ebenen getrennt einzulassen, die des Werkes von Egon SchĂŒtz wie die der Interpretation durch Malte Brinkmann. Damit könnte man die Abhandlungen von SchĂŒtz gleichsam unbeeinflusst von der vorgelegten Lesart wĂŒrdigen und zudem das Interpretationsangebot des Herausgebers noch einmal da und dort ergĂ€nzen, ggfs. auch beeinspruchen. Das kann auf knappem Raum nur angedeutet werden.

Die Schwierigkeit, mit knappen Charakterisierungen dem Denken eines Autors ĂŒber einen Zeitraum von mehr als zwanzig Jahren gerecht zu werden, ist evident. Dies kann z. B. an der Thematik der Skepsis gezeigt werden, die an verschiedenen Stellen auftritt. Brinkmann wĂŒrdigt an SchĂŒtz u. a. das Ethos der Achtsamkeit und der Skepsis: „Skepsis gegenĂŒber szientifischen Verallgemeinerungen und Universalisierungen, technischen Zurichtungen und Achtsamkeit gegenĂŒber den pĂ€dagogisch Anvertrauten.“ (12) Das trifft auf manche BeitrĂ€ge zu, so z. B. wenn SchĂŒtz in dem Aufsatz „Theorie, Technik, Praxis im Horizont der Metaphysik der SubjektivitĂ€t“ (1981) die Skepsis stĂŒtzt, mit der Heidegger aus dem Horizont vormetaphysischer Wahrheitserfahrung das VerhĂ€ltnis von Theorie und Praxis aufnimmt (vgl. 55), – zugleich aber die „vormetaphysische Wahrheitserfahrung“ selbst von jeglicher Skepsis ausspart. In dem 1994 erschienenen Beitrag „Anthropologie und Skepsis im Lichte Montaignes“ (3.6.) hingegen scheint das VerstĂ€ndnis von Skepsis nicht auf szientifische Verallgemeinerungen begrenzt und deutlich geschĂ€rft, wenn die Frage gestellt wird: „Was tun, wenn das theoretische Gebot der Skepsis das Wissenwollen zur FatalitĂ€t verdammt, wenn, wie Montaigne mehrfach ausfĂŒhrt, schon die Sprache sich wie ein Schleier ĂŒber alle Dinge legt und auch dem Skeptizismus noch die Gewissheit seiner These nimmt?“ (276). In diesem Zusammenhang ist auch klar, dass Skepsis „sich von sich selbst nicht ausnimmt“ (277), eingeschlossen die „skeptische Distanz gegenĂŒber den spekulativen Allgemeinheiten, die vorgeben, endgĂŒltig zu wissen, was ‚der Mensch im Allgemeinen‘ ist und sein kann“ (282) und die zahlreiche BeitrĂ€ge von SchĂŒtz durchziehende Überlegung, „dass es dem Menschen offenbar niemals möglich ist, hinter sich zu gelangen, indem er sich wissend vor sich bringt“ (276). Von dieser Form der Selbstkritik wiederum scheint der – titelgebende – Beitrag aus 1979 „Prolegomena zu einer ‚existenzialkritischen‘ PĂ€dagogik“ (2.1) noch nichts zu wissen. Dort geht er von zwei PrĂ€missen aus, nĂ€mlich von der daseinsanalytischen PrĂ€misse, „dass der Mensch dasjenige Wesen sei, das sich in seinem Sein ausdrĂŒcklich zum Sein verhalte“, und von der Annahme Finks, man könne das menschliche SeinsverhĂ€ltnis in existenziellen und koexistenziellen GrundphĂ€nomenen auslegen (vgl. 41). Die Analyse-Ergebnisse der Daseinsanalyse geben an, „wie Dasein ĂŒberhaupt konstituiert ist und konstituiert wird“ (42) und der „‚kritische Effekt‘“ (ebd.) zeige sich in dem Moment, in dem man „von der philosophischen Fundamentalanalyse hinĂŒberblendet auf die ‚konkrete Lebenswelt‘“ (ebd.). Dieser Anspruch ist nun insofern ĂŒberraschend, als alle Schriften vom Bewusstsein der historischen Kontingenz von Auslegungen und GĂŒltigkeitsansprĂŒchen durchzogen sind; nun sollte fĂŒr das zu einem bestimmten Zeitpunkt angesetzte BemĂŒhen um Auslegung des Daseins die transzendentale Differenz geschlossen und „das Dasein ĂŒberhaupt“ konstituiert werden?! Die Existenzialkritik erweist sich als ein Fall normativer Kritik unter Zugrundelegung der als zeitlos und fraglos anzunehmenden Befunde der Daseinsanalyse?!

Es wĂ€re nachgerade töricht, aus diesen kritischen Hinweisen die Konsequenz zu ziehen, dass sich die BeschĂ€ftigung mit SchĂŒtz demnach nicht lohne, – geht doch die Zunft der Empirischen Bildungsforscher völlig unreflektiert vom neuzeitlichen SelbstverstĂ€ndnis des Menschen und einem epistemologisch naiven WirklichkeitsverhĂ€ltnis aus! Wer sich auf SchĂŒtz einlĂ€sst, wird an allen Themen, zu denen er Stellung bezogen hat, sehen, wie viele Annahmen traditioneller PĂ€dagogik nicht unbesehen stehen bleiben können, er wird bemerken, dass es zum gedanklichen Aufweisen von (z. B. problematischen anthropologischen) PrĂ€missen keinen Apparat von Quellen braucht, weil man sich auch auf die eigene Herkunft (Heidegger, Fink) und eigenes Denken verlassen kann. Auf die (am Beispiel „Skepsis“) aufgezeigten Differenzen stĂ¶ĂŸt man nur, wenn man sich nicht mit dem Studium der Einleitung begnĂŒgt, sondern den ganzen Band studiert. Nur dann wird man die Konsequenz von Problemzugriffen und die Konstanz grundlegungstheoretischer BemĂŒhungen ĂŒber verschiedene Themenfelder hinweg entdecken. Egon SchĂŒtz zieht die Leserin ins Mit- und Nachdenken ĂŒber ZusammenhĂ€nge, besser: ĂŒber Voraussetzungen unseres pĂ€dagogischen Argumentierens, denen vielfach nicht mehr nachgespĂŒrt wird. Man muss sich auf das denkende Nachvollziehen der Argumentation von SchĂŒtz einlassen – und jeder Beitrag zieht ins Denken! –, um seine stilistischen und methodischen EigentĂŒmlichkeiten zu entdecken und sich an der Sorgfalt und Eleganz seiner Sprache erfreuen zu können. Dann wird man den unprĂ€tentiösen, aber konsequenten Einsatz der phĂ€nomenologischen Methode der Reduktion und Variation erkennen, man wird entdecken, wie mit immer neu einsetzenden Fragen verschiedenste Vormeinungen im Zuge einer skeptischen EpochĂ© eingeklammert werden. So z. B. hat SchĂŒtz in seiner dreiteiligen Vorlesung bei den Salzburger Hochschulwochen (1985) „Zukunft – Eine Herausforderung fĂŒr die PĂ€dagogik“ (2.12) seinen HörerInnen die unterschiedlichen Versuche, das Skandalon ungewisser Zukunft in den Griff bekommen zu wollen, madig gemacht, ehe er in Bitte, Versprechen und Beispiel Möglichkeiten aufzeigt, wie PĂ€dagogik „das SpannungsverhĂ€ltnis zwischen erfahrener ZukĂŒnftigkeit und vorgestellter Zukunft in ihre SelbstverstĂ€ndnis“ (179) aufnehmen könnte. Nur im Sich-Einlassen auf die Überlegungen von Egon SchĂŒtz wird man nicht nur auf die grundlagentheoretische Ebene stoßen, sondern seine Einladung zum Denken auch grundlegungskritisch vertiefen können.

Wer zudem den Entstehungszusammenhang der in diesem Band versammelten BeitrĂ€ge kennt, wird das hohe Niveau seiner Abhandlungen und die OriginalitĂ€t seines Problemzugangs im Umfeld seiner Kollegen wĂŒrdigen. Manchen mag auch auffallen, wie frĂŒh (bezogen auf die Rezeption bei jĂŒngeren KollegInnen) sich SchĂŒtz z. B. mit Foucault („Die These vom Ende des Menschen – oder: WER spricht bei Foucault“, 1992), spĂ€ter auch noch mit LĂ©vinas und Derrida beschĂ€ftigt hat. Die Weite seines Denkens zeigt sich auch in den Ă€sthetischen und sprachphilosophischen Schriften, die z. B. auf Paul Celan und Ingeborg Bachmann Bezug nehmen. Mag sein, dass Egon SchĂŒtz bei manchen jĂŒngeren KollegInnen gar nicht mehr bekannt ist. Diesen ist die LektĂŒre desto nachdrĂŒcklicher ans Herz zu legen, weil sie die Erfahrung machen können, auf welchem Niveau noch vor nicht allzu langer Zeit die Grundlegungsfragen der Disziplin abgehandelt wurden.

[1] Online unter: https://www.erziehungswissenschaften.hu-berlin.de/de/allgemeine/egon-schuetz-archiv
Ines Maria Breinbauer (Wien)
Zur Zitierweise der Rezension:
Ines Maria Breinbauer: Rezension von: SchĂŒtz, Egon: Existenzialkritische PĂ€dagogik, Reihe: PhĂ€nomenologische Erziehungswissenschaft, Band 2 Hrsg. von Malte Brinkmann. Wiesbaden: Springer VS 2017. In: EWR 16 (2017), Nr. 4 (Veröffentlicht am 02.08.2017), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978365814508.html