EWR 18 (2019), Nr. 2 (März/April)

Werner Helsper/ Lena Dreier/ Anja Gibson/ Katrin Kotzyba/ Mareke Niemann
Exklusive Gymnasien und ihre Schüler
Passungsverhältnisse zwischen institutionellem und individuellem Schülerhabitus
Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2017
(537 S.; ISBN 978-3-658-17079-0; 69,99 EUR)
Exklusive Gymnasien und ihre Schüler In der – auch für Experten nur schwerlich zu überblickenden – Vielfalt an weiterführenden Schulformen im deutschen Sekundarschulsystem stellt das Gymnasium die einzige Schulform dar, die in allen Bundesländern anzutreffen ist. Eltern, Schüler/innen und Lehrkräfte verbinden mit dem Besuch des Gymnasiums üblicherweise besondere Leistungsanforderungen und – über den Erwerb des Abiturs – bessere Chancen für die Einmündung in attraktive und angesehene Studien- und Berufslaufbahnen. In der öffentlichen Wahrnehmung wird mit dem Gymnasium oftmals eine Art Qualitätssiegel assoziiert und eine gewisse Homogenität in der schulischen Angebotsqualität der Gymnasien unterstellt. Dabei bleibt häufig unberücksichtigt, dass das Gymnasium in den vergangenen Jahrzehnten enorme Wandlungsprozesse durchlaufen hat. Die sozial hoch selektive Eliteschule von einst, die noch in den 1950er Jahren von lediglich rund 5 bis 10 Prozent der Heranwachsenden eines Altersjahrgangs (darunter vorwiegend Jungen) besucht wurde, ist inzwischen zur neuen „Volksschule“ avanciert, die im Anschluss an die Grundschule in vielen, insbesondere städtisch geprägten, Regionen mehr als die Hälfte der Schülerschaft an sich bindet.

Die Öffnung des Gymnasiums für immer breitere Schülerkreise und der damit einhergehende Rückgang der distinkten Kraft des Gymnasialbesuchs vollziehen sich jedoch in einem parallelen Diskurs um Elite, Exzellenz und Leistungsspitze, aus dem gleichzeitig Fragen von Ausdifferenzierung, Wettbewerb, Distinktion und Segregation innerhalb des gymnasialen Feldes erwachsen. Vor diesem Hintergrund geht der vorgelegte Band der übergreifenden Frage nach, „ob es im Zuge der weiteren Ausdifferenzierung des Gymnasialen zu deutlichen Distinktions- und Segregationslinien innerhalb der gymnasialen Schullandschaft, also zwischen den einzelnen Gymnasien gekommen ist“ (2). Die übergreifende Fragestellung wird in drei Schwerpunktbereiche untergliedert. In einem ersten Schritt werden Fragen bezüglich der Ausdifferenzierung und Distinktion aus der institutionellen Perspektive der Schule heraus adressiert: Ist Gymnasium wirklich gleich Gymnasium? Wie sehen die institutionellen Selbstentwürfe exklusiver Gymnasien im Vergleich zu „normalen“ Gymnasien aus? Welche Differenzierungen zeigen sich diesbezüglich innerhalb der Gruppe der exklusiven Gymnasien? Im zweiten Schritt wird anschließend der schul- und bildungsbezogene Habitus der Schülerinnen und Schüler an exklusiven und nicht-exklusiven Gymnasien rekonstruiert. Welche Rolle spielen Schule, Leistung und Exzellenz für die Schülerinnen und Schüler? Wie stark sind Wettbewerbs- und Besonderungsaspekte in ihrem Denken und Handeln verankert? Im dritten Schritt werden Schul- und Schülerperspektive zusammengeführt, indem nach den Passungsverhältnissen zwischen institutionell gefordertem und individuellem Habitus gefragt wird.

Die methodische Umsetzung der Untersuchung erfolgt in Form einer qualitativen Längsschnittstudie im Mehrebenendesign, wobei als analytische Ebenen die Region, die Institution, das Individuum sowie deren Interaktion (etwa in schulischen Auswahlprozessen) betrachtet werden. In zwei städtisch geprägten Bildungsregionen werden insgesamt fünf als „exklusiv“ eingestufte Gymnasien untersucht, die in den Auswertungen mit Verfahren der Objektiven Hermeneutik und der Dokumentarischen Methode sowohl untereinander als auch mit zwei nicht-exklusiven Gymnasien kontrastiert werden. Die Datenbasis der Auswertungen bilden Schulleiter- und Schülerinterviews, Lehrergruppendiskussionen sowie schulbezogene Dokumente. Als bislang kaum zugängliche Datenquelle ist die beobachtende Teilnahme an schulischen Auswahlgesprächen hervorzuheben. Der Untersuchungszeitraum erstreckt sich über sechs Jahre, wobei im Schülerlängsschnitt ein Schülerjahrgang von der achten Jahrgangsstufe bis ein Jahr nach dem Erwerb des Abiturs begleitet wird. Mit der längsschnittlichen Komponente sollen Entwicklungs- und Veränderungsprozesse im Passungsverhältnis von institutionellem und individuellem Habitus in den Blick genommen werden. Der vorgelegte Band enthält die Untersuchungsergebnisse für die querschnittliche Ausgangsuntersuchung, die längsschnittlichen Befunde sollen in einem weiteren Band veröffentlicht werden.

Der Band gliedert sich in sieben Kapitel. Nach einer kurzen Einleitung (Kapitel 1) erfolgt in Kapitel 2 zunächst die Darstellung der theoretischen Bezüge und des Forschungstandes, wobei unter anderem auf die Theorie der Schulkultur (mit den drei Ebenen der imaginären, symbolischen und realen Schulkultur), Fragen von Konkurrenz und Wettbewerb in regionalen Bildungsmärkten sowie habituelle Schul- und Bildungsorientierungen von Schülerinnen und Schülern eingegangen wird. Die Ausführungen leiten zielgerichtet zu den Fragestellungen der Untersuchung hin, die Darstellung des Forschungsstandes zeugt von hoher Kenntnis des Forschungsfeldes und Sorgfalt bei der Quellenrecherche. In Kapitel 3 werden die Fragestellungen und das methodische Vorgehen dargelegt. Besonders beeindruckend sind hier die hohe Transparenz und Nachvollziehbar des methodischen Vorgehens, insbesondere auch in Hinblick auf die zum Teil vorhandenen Restriktionen in der Studienumsetzung (etwa bei der Auswahl der teilnehmenden Schulen).

Die Ergebnisdarstellungen erfolgen in den Kapiteln 4 bis 6. In Kapitel 4 werden zunächst die institutionellen Selbstentwürfe (Wie sehen sich die Schulen selber?) der einzelnen Schulen unter ihren jeweiligen regionalen und schulkontextuellen Rahmenbedingungen in Form rekonstruktiver Fallstudien ausführlich dargestellt und anschließend miteinander kontrastiert. Die Darlegungen offenbaren sowohl Gemeinsamkeiten (etwa mit Blick auf die Betonung des Leistungsaspekts) als auch Unterschiede zwischen den exklusiven Schulen, z.B. bezüglich der Zurschaustellung des exklusiven Charakters und der Betonung sekundärer Tugenden. Klare Grenzen werden zwischen den exklusiven und nicht-exklusiven Schulen sichtbar, die sich in Fremd- und Selbstschreibungen in einer Bandbreite von „Bonzenschule“ bis „Gymnasium für Arme“ bewegen. Die in Kapitel 5 beschriebenen Schülerfallstudien zeigen ebenso eine deutliche Varianz in den schul- und bildungsbezogenen Denk- und Handlungsmustern der Schülerinnen und Schüler, die in Kapitel 6 einer Typenbildung unterzogen werden. Die insgesamt sieben identifizierten individuellen Habitustypen reichen vom „Schülerhabitus der lässigen und souveränen Leistungsexzellenz“ über den Typ des „Hochangestrengtem Strebens bei leidvollem Scheitern“ bis zum „Schülerhabitus der Spannung zwischen schulischer Notwendigkeit und Schulfremdheit“. Die verschiedenen Habitustypen werden in den Darstellungen eingehend kontrastiert und in einem abschließenden Schritt auf ihre Passung mit den jeweiligen institutionellen idealen Schülerhabitusentwürfen der Schulen hin untersucht. Der Grad der Passung weist ebenfalls eine nicht unerhebliche Schwankungsbreite auf, wenngleich ein Mindestmaß an Passung in allen Fällen gegeben scheint. In der Tendenz deutet sich für die exklusiven Gymnasien eine höhere Passungshomogenität an als für die nicht-exklusiven Gymnasien. So fanden sich die exzellenzbezogenen individuellen Habitusformen ausschließlich an den exklusiven Gymnasien, während der Typ des Schülerhabitus der Spannung zwischen schulischer Notwendigkeit und Schulfremdheit nur an den nicht-exklusiven Gymnasien anzutreffen war.

Im abschließenden Kapitel 7 erfolgt die Zusammenfassung, Diskussion und Theoretisierung der Ergebnisse. Für die Autoren ergibt sich in der Gesamtbetrachtung „das Bild einer höheren, weit gespreizten Schulregion mit Gewinnergymnasien, die sich die gymnasialaffine Schülerschaft entsprechend ihrer Profile aufteilen, und Verlierergymnasien, die von Anfang an auf verlorenem Posten im Wettbewerb um ‚gute Schüler‘ stehen.“ (452). Gymnasium ist also keineswegs gleich Gymnasium, das gymnasiale Feld ist durch deutliche Segregationslinien geprägt, die mit großen Unterschieden in der Schülerzusammensetzung einhergehen können.

In der Gesamtschau lässt sich die vorgelegte Untersuchung als äußerst gelungene und informative qualitative Tiefenbohrung charakterisieren, die bislang in dieser Form nicht vorhandene Einblicke in die gymnasiale Schullandschaft gewährt. Einige Darstellungen hätten womöglich etwas knapper gehalten werden können. Hilfreich für das Verständnis der einzelnen Teilschritte sind die zahlreichen gut verständlichen Abbildungen und Zwischenfazits. Dem Band ist eine breite Leserschaft, insbesondere auch aus dem Bereich der quantitativen Bildungsforschung, zu wünschen.
Marko Neumann (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Marko Neumann: Rezension von: Helsper, Werner / Dreier, Lena / Gibson, Anja / Kotzyba, Katrin / Niemann, Mareke: Exklusive Gymnasien und ihre Schüler, Passungsverhältnisse zwischen institutionellem und individuellem Schülerhabitus. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2017. In: EWR 18 (2019), Nr. 2 (Veröffentlicht am 10.05.2019), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978365817079.html