EWR 16 (2017), Nr. 6 (November/Dezember)

Barbara Muslic
Kopplungen und Entscheidungen in der Organisation Schule
Organisationsbezogenes Schulleitungshandeln im Kontext von Lernstandserhebungen
Wiesbaden: VS Verlag fĂĽr Sozialwissenschaften 2017
(532 Seiten; ISBN 978-3-658-17267-1; 69,99 EUR)
Kopplungen und Entscheidungen in der Organisation Schule Die Dissertationsschrift von Barbara Muslic widmet sich Lernstandserhebungen und organisationalen Verarbeitungs- und (Ent-)Kopplungsprozessen an Schulen. Mit Blick auf die dargestellten aktuellen Forschungsstände zu Lernstandserhebungen und zur Schulleitungsforschung charakterisiert sie das Anliegen ihrer Studie als Desiderat. Konkret fragt sie v. a. danach, wie Schulleitungen Lernstandserhebungen konzeptionell und strategisch bewältigen. Dabei konstruiert sie Schulleitung nicht als individuell-personale, sondern als organisationale Größe, die auch in Bezug auf Lernstandserhebungen für Entscheidungen innerhalb bestimmter Regelungskontexte, die Handlungskoordination zwischen verschiedenen Akteurinnen und Akteuren und die allgemeine Schulentwicklung zuständig ist. Ergänzende Forschungsfragen beziehen sich auf die Rolle bundeslandspezifischer Regelungskontexte, auf Veränderungen der Organisationsstruktur und der Konstellation zwischen Schulaufsicht und Schulleitung.

In den ersten Kapiteln ordnet die Autorin das Instrument der Lernstandserhebungen in organisationstheoretische Ansätze des Neo-Institutionalismus und der Systemtheorie ein. Anschließend folgt die durch Tabellen und Abbildungen anschaulich gestaltete Darstellung ihrer empirischen Studie. Das empirische Material für die nach eigenem Verständnis explorative Studie stammt aus einer Teilstudie des BMBF-geförderten Forschungsprojekts zur „Realisierung testbasierter Schulreform in der Mehrebenenstruktur des Schulsystems“. Muslic führte an neun Gymnasien in Baden-Württemberg und Berlin insgesamt 121 problemzentrierte Interviews mit Schul- und Fachbereichsleitungen, Lehrkräften und Personen der Schulaufsicht und wertete diese mit der Qualitativen Inhaltsanalyse aus. Aus umfangreichen Fall- und Vergleichsanalysen, sowohl innerhalb des jeweiligen Bundeslandes als auch übergreifend, extrahierte sie bundeslandübergreifende Handlungsmuster, in denen das organisationale Führungshandeln von Schulleitungen in Bezug auf zentrale Lernstandserhebungen abgebildet wird. Im letzten Teil der Arbeit leitet Muslic Erträge ihrer Arbeit für die Schulleitungsforschung, die Organisationstheorie und die Neue Steuerung ab.

Muslic geht davon aus, dass Lernstandserhebungen ein Innovationspotential inhärent sei, durch das schulische Ergebnisse und die Organisation Schule (positiv) beeinflusst werden können. Ebenso könne durch sie die (Weiter-)Entwicklung professioneller Kompetenzen bei schulischen Akteuren bewirkt werden, da diese sich mit den rückgemeldeten Daten auseinandersetzen müssen. Dabei werden Schulleitungen in besonderer Art und Weise responsibilisiert. Von ihnen wird gefordert, die Verarbeitung der Daten an der Schule zu koordinieren und zu kontrollieren, Kooperationen im Kollegium zu initiieren, das Instrument im schulinternen Qualitätsmanagement zu verankern, sowie Rechenschaft gegenüber den übergeordneten Institutionen abzulegen. Der Umgang mit Lernstandserhebungen befördere damit managementorientierte Leitungskompetenzen und könne auch dazu dienen, die traditionell eher losen Kopplungen zwischen den organisationsinternen (bezogen auf Unterricht) und -externen Ebenen (bezogen auf die Schulaufsicht) des Schulsystems in festere Kopplungsverhältnisse zu transformieren.

Die Autorin nimmt damit einen affirmativ-bildungspolitischen Ausgangspunkt ein, zu dem sich die Orientierung an Organisationstheorien als passungsfähig erweist. Da das Ziel der bildungspolitischen Steuerungsreformen darin besteht, die Schule zu einer lernenden Organisation zu entwickeln, die ihre Qualitätsentwicklung selbst managt, liegt es nahe, in der Erforschung der Reforminstrumente auch organisationstheoretische Perspektiven einzunehmen. Die Autorin übernimmt jedoch nicht nur den bildungspolitischen Steuerungsimperativ relativ unkritisch, sondern erhebt auch dessen programmatische Vorgaben – in Kombination mit organisationstheoretischen Annahmen – zur Bezugsnorm des Forschungsdesigns. Im Sinne systemtheoretischer Annahmen versteht sie Lernstandserhebungen als Irritation für die Schule und stellt mithilfe des Luhmannschen Begriffs der Entscheidungsprämisse dar, auf welchen Ebenen – der Kommunikation, der Person, des Programms – die Irritation Veränderungen erwirken könnte. Aus dem neo-institutionalistischen Ansatz überträgt sie das Konzept der Kopplung auf schulische Zusammenhänge, listet entlang der Pole Kopplung – Entkopplung idealtypische Verhaltensweisen schulischer Akteure bzw. strukturelle Bedingungen auf und ordnet diese der organisationsinternen oder -externen Ebene zu. Die Merkmale, die sie auch in der empirischen Analyse verwendet, bleiben allerdings definitorisch unscharf. So stellen beispielsweise „aktive Schulleitung“ als Merkmal von Kopplung, „passive Schulleitung“ dagegen als Merkmal von loser bzw. (Ent-)Kopplung (72) Allgemeinplätze dar, deren Validität in dieser vagen Operationalisierung zur Disposition steht.

Bei der Datenauswertung geht Muslic deduktiv vor und verwendet u. a. die aus Systemtheorie und Neo-Institutionalismus abgeleiteten Kategorien. Wenig überzeugend gelingt die Ableitung von Handlungsmustern der Schulleitungen aus den Vergleichsanalysen. Zum einen wird der Handlungsbegriff ohne soziologische und methodologische Reflexion genutzt. Zum anderen wird kaum deutlich, wie die theoretische Vorstellung von Schulleitung als organisationaler Größe empirisch transferiert wird. Die Relationierung der Interviewaussagen aller Befragten bzw. die Zusammenführung aller Daten – einschließlich der soziodemografischen und statistischen sowie der Regelungskontexte für Lernstandserhebungen – und die Rückbindung an das Schulleitungshandeln, bleiben methodologisch unklar.

Als Ergebnisse ihrer akribischen Vergleichsarbeit präsentiert die Autorin drei Handlungsmuster organisationalen Führungshandelns. Lediglich zwei Schulleitungen des Samples erfüllen in Ansätzen die Merkmale einer gemanagten professionellen – und damit bildungspolitisch avisierten – Organisation. Weitere Ergebnisse, von denen einige exemplarisch genannt seien, sind wenig überraschend. Sie zeigen einmal mehr, dass die Programmatik neuer Steuerung und die schulische Praxis auseinanderklaffen: Vergleichsarbeiten werden kaum zur Schulentwicklung genutzt; oft fehlt noch die Akzeptanz des Instruments; es werden keine neuen Organisationsstrukturen aufgebaut; Schulleitungen und Lehrkräfte nutzen die Daten individuell, verstehen sich eher als autonom professionell denn professionell managementorientiert; feste externe Kopplungen fehlen; die Schulaufsicht wird ihrer neuen Rolle nicht gerecht. Am Ende der Arbeit werden der Bildungsadministration Vorschläge zur „Entwicklung akteursspezifischer Weiterbildungskonzepte“ (467), zur Verbesserung der Testformate und zur Ressourcenbereitstellung unterbreitet.

Die Studie setzt an einer unhinterfragten Zustimmung zu bildungspolitischen Steuerungsabsichten an und kann damit den explorativen Anspruch kaum einlösen. Dass sowohl idealtypischen organisationstheoretischen Konzepten als auch bildungspolitischen Prämissen bei der Datenerhebung und bei der Datenauswertung Indikatorenstatus zugestanden wurde, hat zur Folge, dass Logiken der Praxis, die nicht zum bildungspolitischen Steuerungsimpuls passen – beispielsweise individuelle Nutzungsstrategien von Lehrkräften, eine auf Wahrung der Autonomie ihrer Lehrkräfte bedachte Schulleitung, Skepsis gegenüber Aufwand und Nutzen des Instruments – in der Ergebnisinterpretation eher als deviant diskutiert werden. Suggerierten die Forschungsfragen noch eine offene Herangehensweise, offenbart die weitere Lektüre, dass die Bezugstheorien nicht diskursiv verstanden wurden, sondern in allen Vorgehensschritten die Bezugsnorm bildeten. Aus Rezensentinnensicht handelt es sich damit eher um eine Evaluationsstudie, die der Frage nachgeht, ob Lernstandserhebungen im Sinne der Programmatik umgesetzt werden und ob es sich bei den Schulen (schon) um professionelle, also sich selbst managende Organisationen handelt.

Bezogen auf die Logik bildungspolitischer Argumentation legt Barbara Muslic eine in sich zumeist stimmige Studie vor, in der Forschungsfragen, theoretische Bezüge, Forschungsdesign und empirisches Vorgehen sowie die Ableitung von Ergebnissen insgesamt logisch ineinandergreifen. Ein Ertrag der Arbeit kann in der Beschreibung der Fallanalysen gesehen werden, in denen deutlich wird, dass sich die Akteurinnen und Akteure festeren Kopplungen zumeist entziehen. Sie vermögen interessante Einblicke in individuelle Verarbeitungsstrategien schulischer Akteurinnen und Akteure zu geben, bspw. dass und welche Freiräume Schulleitungen ihren Lehrkräften lassen, wie Lernstandserhebungen als Evaluationsinstrument und als Diagnosehilfe benutzt werden, um den eigenen Unterricht zu verändern und einzelne Schülerinnen und Schüler zu fördern, oder wie sich die informelle Selbstorganisation auf Fachbereichsebene nach der Datenrückmeldung gestaltet. Kritische Anfragen zum Ausgangspunkt der Studie, zur Adaption der theoretischen Perspektiven auf die empirischen Analysen, zum Verständnis qualitativ-explorativer Forschung und zur Bedeutung der Ergebnisse bleiben indes bestehen.
Juliane Keitel (Leipzig)
Zur Zitierweise der Rezension:
Juliane Keitel: Rezension von: Muslic, Barbara: Kopplungen und Entscheidungen in der Organisation Schule, Organisationsbezogenes Schulleitungshandeln im Kontext von Lernstandserhebungen. Wiesbaden: VS Verlag fĂĽr Sozialwissenschaften 2017. In: EWR 16 (2017), Nr. 6 (Veröffentlicht am 07.12.2017), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978365817267.html