EWR 18 (2019), Nr. 2 (März/April)

Martin Heinrich / Andreas Wernet (Hrsg.)
Rekonstruktive Bildungsforschung
Zugänge und Methoden
Wiesbaden: Springer VS 2018
(302 S.; ISBN 978-3-658-18006-5; 59,99 EUR)
Rekonstruktive Bildungsforschung Die Buchreihe „Rekonstruktive Bildungsforschung“ von Martin Heinrich und Andreas Wernet widmet sich dem „Feld der rekonstruktiven Bildungsforschung“ (3). Ihr Ziel ist die Publikation qualitativ-rekonstruktiver Forschungsarbeiten und die Veröffentlichung von Beiträgen zur methodischen und methodologischen Weiterentwicklung der rekonstruktiven Bildungsforschung. Weiter heißt es, die Reihe ziele darauf ab, einen Raum für methodisch fundierte Explikationen rekonstruktiver Forschungsansätze in ihrer Breite zu geben, ohne diese einer Systematisierung zu unterwerfen: „Die Offenheit des Programms ist im Sinne der Gegenstandsorientierung rekonstruktiver Bildungsforschung selbst Programm!“ (5).

Der Herausgeberband „Zugänge und Methoden“ ist in drei Kapitel unterteilt und umfasst insgesamt 16 Beiträge, die in ihrer Spannbreite nicht nur verschiedene rekonstruktive Forschungsmethoden und deren Weiterentwicklung thematisieren, sondern diese darüber hinaus auch in Bezug zum Gegenstand erziehungswissenschaftlicher Fragestellungen setzen. Systematisch wird so nicht nur die Komplexität dessen, was im Feld der Bildungsforschung in den Blick der forschenden Auseinandersetzung gerät, sondern ebenso deren Dependenz zu erkenntnistheoretischen und methodologischen Zugängen. Insofern bietet der Band eine (un)systematische Betrachtung der erkenntnistheoretischen Positionen rekonstruktiver Forschungsansätze im Vergleich und in Abgrenzung zu anderen wissenschaftlichen Positionen.

Die Annäherung an das Feld rekonstruktiver Forschungslogik erfolgt in drei perspektivischen Zugängen. Ausgehend vom Gegenstand werden im Teil I: Unterricht – Profession – Institution methodische Weiterentwicklungen und Reflexionen thematisch. So stellt der Beitrag von Matthias Martens und Barbara Asbrand ausgehend von der Frage, wie die Komplexität und Simultanstruktur von Unterricht erforscht werden kann, die Weiterentwicklung der dokumentarischen Methode für die Analyse von Unterrichtsvideographien zur Diskussion. Marion Pollmanns fokussiert die Reichweite von Protokollsorten als Spezifika der Objektiven Hermeneutik in Bezug auf die Frage, wie sich Aneignungsprozesse als Teil der unterrichtlichen Vermittlung in den Blick nehmen lassen. Till-Sebastian Idel und Kerstin Rabenstein fragen, im Anschluss an neuere Praxistheorien, wie schulisches Geschehen als pädagogisches rekonstruiert werden kann, indem schulisches Lernen mit Subjektivierungsprozessen in einen Zusammenhang gebracht wird. Thomas Wenzl rekonstruiert objektiv hermeneutisch unterschiedliche Strukturlogiken der Sprechakte „ich finde“ und „ich denke“ und setzt diese in ein entwicklungslogisches Verhältnis. Fabian Dietrich nimmt Transformationsprozesse im Schulsystem in den Blick. Er diskutiert eine rekonstruktionslogische Perspektive des „Educational Governance“ Ansatzes in Abgrenzung zu intentionalen Zugangslogiken. Vera King und Hans-Christoph Koller gehen der Frage nach, wie die intergenerationale Weitergabe von Bildungschancen und damit spezifisch familiäre Bildungsorientierungen und deren Verstrickung mit gesellschaftlichen und institutionellen Anforderungen auf der Basis biographischer Interviews rekonstruiert werden können. Den ersten Teil des Bandes abschließend heben Anna Rauschenberg und Uwe Hericks die Relevanz der metatheoretischen Kategorien des Orientierungsrahmens und Orientierungsschemata heraus, um Professionalisierungsprozesse von Lehrer*innen in den Blick nehmen zu können.

Die Beiträge im Teil II des Herausgeberbandes „Ausdifferenzierungen und Theoreme“ fokussieren die unterschiedlichen erkenntnistheoretischen, methodologischen und methodischen Zugänge sowie deren Bedeutung für die rekonstruktive Bildungsforschung. Andreas Wernet reflektiert das spezifische Erkenntnisinteresse und Forschungsverständnis, das mit dem für die Objektive Hermeneutik grundlegenden Konzept der latenten Sinnstruktur einhergeht, und setzt dieses ins Verhältnis zum Anspruch der Nützlichkeit erziehungswissenschaftlicher Forschungsergebnisse. Der Beitrag von Jörg Dinkelaker hebt auf den Möglichkeitsraum videogestützter Interaktionsanalysen in Bezug auf Fragen der Selektivität von Beobachtungen auf der Seite der Forschenden ebenso wie in Bezug auf die der Beobachteten ab. Anders präsentieren Nadine Rose und Norbert Ricken in ihrem Beitrag einen spezifischen Fokus der Interaktionsanalyse auf (unterrichtliche) Adressierungsprozesse. Kontrastiv zum Beitrag von Jörg Dinkelaker problematisieren Christine Demmer und Martin Heinrich die Offenheit rekonstruktiver Forschungsperspektiven und deren Möglichkeit, Wirklichkeit rekonstruktiv zu erfassen ohne dabei selbst wiederum in die Fallstricke machtdiskursiver Sprachspiele zu verfallen.

Teil III des Herausgeberbandes „Methodologische Positionierungen“ steigt ein mit dem Beitrag von Merle Hummrich, der eine systematische Betrachtung der Diskurse um Bildungsforschung und der darin enthaltenen Positionierungen rekonstruktiver Bildungsforschung zur Disposition stellt. Ausgehend von den erkenntnistheoretischen Positionen praxeologischer Wissenssoziologie systematisiert Ralf Bohnsack die heterarchische Struktur rekonstruktiver Forschungslogik in Abgrenzung zur Theoriebildung des Common Sense. Dagegen heben Jeanette Böhme und Viktoria Flasche kontrastiv zum objektiv-hermeneutischen Strukturmodell von Lebenspraxis auf die Formenlogiken des sozialen Sinns morphologischer Hermeneutik als neuen Ansatz rekonstruktiver Bildungsforschung ab. Rolf-Torsten Kramer setzt sich mit methodologisch-methodischen Zugängen einer empirischen Erschließung des Habitus auseinander und plädiert in Anlehnung an grundlegende Annahmen der Objektiven Hermeneutik für eine strukturtheoretische Konzeption von Habitusrekonstruktionen. Inka Bormann und Inga Truschkat beleuchten den Beitrag der wissenssoziologischen Diskursanalyse für eine weiterführende Auseinandersetzung erziehungswissenschaftlicher Bildungsforschung. Den dritten Teil abschließend, plädiert Fabian Kessl für eine gesellschaftstheoretische Neupositionierung praxistheoretischer Ansätze.

Der Herausgeberband vereint eine Vielzahl verschiedener Beiträge, die das Feld der rekonstruktiven Bildungsforschung aufspannen. Darüber hinaus weist er auch diejenigen Beiträge aus, die weiterführende Ansätze und deren Anschlussfähigkeit an den Gegenstand der Bildungsforschung zur Diskussion stellen. Die Stärke des Bandes liegt m.E. darin, die Spezifika der Gegenstandskonstitution des Feldes auch in Abgrenzung zu anderen Forschungslogiken systematisch zu beleuchten. Insofern ermöglicht die „Offenheit des Programms“ einen Perspektivwechsel in der Auseinandersetzung um Bildungsstandards und Bildungsforschung ebenso wie eine differenzierte Auseinandersetzung um die verschiedenen rekonstruktiven Zugänge.

In der Einführung der Herausgeber heißt es, dass der vorliegende Band nicht nur keine Systematisierung des Forschungsfeldes anstrebe, sondern ebenso nicht in Anspruch nehme, eine Einführung in die rekonstruktive Bildungsforschung zu leisten: Doch gerade die Offenheit und (un)systematische Bezugnahme auf das Feld rekonstruktiver Bildungsforschung schärft den Blick für die Spezifika rekonstruktiver Forschungsansätze. Für einführende Auseinandersetzungen wird die In-Verhältnissetzung von Gegenstand, Forschungsinteresse, erkenntnistheoretischen, methodologischen und methodischen Zugängen genauso erfahrbar, wie die Frage nach der Notwendigkeit eines spezifisch erziehungswissenschaftlichen Zugangs zum Feld.
Christine Schlickum (Mainz)
Zur Zitierweise der Rezension:
Christine Schlickum: Rezension von: Heinrich, Martin / Wernet, Andreas (Hg.): Rekonstruktive Bildungsforschung, Zugänge und Methoden. Wiesbaden: Springer VS 2018. In: EWR 18 (2019), Nr. 2 (Veröffentlicht am 10.05.2019), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978365818006.html