EWR 17 (2018), Nr. 6 (November/Dezember)

Isabel Neto Carvalho
Gymnasium und Ganztagsschule
Videographische Fallstudie zur Konstitution pädagogischer Ordnung
Wiesbaden: VS-Springer 2017
(329 S.; ISBN 978-3-658-18358-5; 54,99 EUR)
Gymnasium und Ganztagsschule Das Gymnasium ist in der spannungsvollen Situation, einerseits seinem exklusiven Anspruch gerecht zu werden und andererseits eine Schule für viele zu sein. Damit gehen eine heterogene Schülerschaft und eine interne Ausdifferenzierung einher. Im Zuge bildungspolitischer Entwicklungen wurde auch an Gymnasien das Ganztagsschulangebot ausgeweitet. Isabel Neto Carvalho analysiert in ihrer Studie zwei aktuelle und bisher erst im Ansatz erforschte Entwicklungsprozesse am Gymnasium aus der Perspektive einer praxistheoretischen Schul- und Unterrichtsforschung. Sie fragt danach, inwieweit mit der heterogenen Schülerschaft und der Reform zur Ganztagsschule Transformationen in der gymnasialen Lernkultur beobachtet werden können. In den Blick nimmt sie hierfür ein kleinstädtisches Gymnasium in Westdeutschland mit einer heterogenen Schülerschaft. Entstanden ist ihre Arbeit im Rahmen des Projektes „Lernkultur- und Unterrichtsentwicklung in Ganztagsschulen“ (LUGS), das die Transformation der Lernkultur im Kontext der Einführung von Ganztagsschulangeboten erforscht.

Der Band gliedert sich in neun Teile. Nach einer ausführlichen Einleitung erfolgt im zweiten Teil eine umfassende Rezeption der historischen Entstehungsbedingungen, Entwicklungen und Problemlagen dieser Schulform mit der Carvalho nachzeichnet, dass die gymnasiale Schulkultur stetig Veränderungen unterlag. Darüber hinaus befasst sie sich mit der Entstehung der Ganztagsschule und ihrer Rolle in der BRD und DDR. So kommt die Autorin zu ihrer Ausgangsthese, dass sich das Gymnasium in seiner Entwicklung zur Ganztagsschule reformpädagogische Elemente aneignet, die in Spannung zu seiner tendenziell strukturkonservativen Form des Lehrens und Lernens stehen.

Im dritten Teil legt die Autorin ihre komplexe theoretische Heuristik einer Verbindung von Schulkultur- und Lernkulturtheorie da. Mit der Schulkulturtheorie kommen die Verwobenheit von schulischem Handeln mit gesellschaftlichen Strukturen und mit der Lernkulturtheorie die Subjektivierungsprozesse in den pädagogischen Praktiken in den Blick. Rekonstruiert werden dementsprechend drei Ebenen: Erstens bildungspolitische und fachwissenschaftliche Debatten, zweitens die Vorstellungen der schulischen Akteure verstanden als „symbolische Konstruktionen“ und drittens die schulische Praxis. Hierfür rekonstruiert Carvalho Experteninterviews und Gruppendiskussionen mit den Professionellen des untersuchten Gymnasiums objektiv hermeneutisch. Das Hauptaugenmerkt ihrer ethnographischen Auswertungsstrategie liegt auf der Rekonstruktion der Videographie und deren dichten Beschreibung von Unterricht und ganztagesschulspezifischen Angeboten an diesem Gymnasium.

Die folgenden vier Kapitel präsentieren die Rekonstruktionsergebnisse. Für das untersuchte Gymnasium wird die Strukturhypothese erarbeitet, dass die Reform zur Ganztagsschule als Chance zur finanziellen Rettung der Schule eingeführt wurde. Für die symbolischen Konstruktionen der professionellen Akteurinnen und Akteure arbeitet Carvalho heraus, dass die Heterogenität der Schülerinnen und Schüler als Problem wahrgenommen wird und Ganztagsschule als Förderprogramm zur „Gymnasialisierung“ der Schülerschaft verstanden wird. Die professionellen Akteurinnen und Akteure orientieren sich auf Ganztag „als Unterricht über den ganzen Tag“ (153).

Die Rekonstruktion der schulischen Praxis erfolgt anhand von strukturell unterschiedlichen Formaten (eines regulären naturwissenschaftlichen Unterrichts, ein projektartiger naturwissenschaftlicher Unterricht am Nachmittag, Fremdsprachenunterricht mit projektartiger Ergänzung, die Hausaugabenbetreuung und das AG-Angebot des Schulradios). Präsentiert werden die Rekonstruktionen in „Lerngeschichten“, in denen zentrale Praktiken anhand von Fotos aus den Videos und Auszügen aus der dichten Beschreibung herausgearbeitet werden. Vorweg spannt die Autorin jeweils die theoretische und normative Diskussion zum jeweiligen Untersuchungsgegenstand auf und formuliert daraus eine leitende Frage. Im Ergebnis wird ein gymnasialer Unterricht vorgestellt, der lehrerzentriert funktioniert, indem Kooperation unerwünscht ist und eine Formalisierung der Sache sowie eine Sprach- und Sachökonomisierung vorherrscht. Die Schülerinnen und Schüler müssen sich auf die Sache hin disziplinieren und sich diese als Einzelleister reproduktiv aneignen. Sie werden dabei aber als noch nicht gymnasial angesprochen. Die Autorin findet nur graduelle Öffnungstendenzen von mehr Schüleraktivität. Die Interpretation der Hausaufgabenbetreuung zeigt auf, dass Hausaufgaben von den pädagogischen Akteurinnen und Akteuren als unhinterfragbare Selbstverständlichkeit der Pflichterfüllung angesehen werden, die dazu dient den Mangel an Gymnasialität der Schülerinnen und Schüler zu kompensieren. Ebenfalls wird das AG-Angebot als ein Ort der individualisierten Leistungserbringung deutlich, in dem eine gymnasiale Haltung der Pflichterfüllung und Selbstdisziplinierung hervorgebracht werden soll.

Im neunten Teil erfolgt die Kontrastierung und Theoretisierung der Ergebnisse. Die Auswahl maximal kontrastierender Vermittlungsformen macht die Beharrungskraft der gymnasialen Lernkultur offensichtlich. Die Autorin arbeitet zwei Spannungsfelder heraus, zum einem, dass sich der Sachumgang als Gymnasialisierung im Spannungsfeld von Individualisierung, Homogenisierung und Formalisierung zeigt, zum anderen rekonstruiert sie die Subjektadressierung als Gymnasialiserung im Spannungsfeld von Selbstständigkeit und Disziplinierung. In allen beobachteten Angeboten treten Formen der indirekten Disziplinierung und Selbstständigkeitsadressierung auf. Die Schülerinnen und Schüler werden in einer ambivalenten Überlagerung als Selbständige und als Unterstützungsbedürftige angesprochen. Widerständige Haltungen auf Seiten der Schülerschaft kann die Autorin kaum beobachten.

Abschließend werden die Ausgangslage des Gymnasiums zusammengefasst und die Ergebnisse dahingehend abstrahiert, welche institutionalisierten Problemlösungsmuster sich zeigen und welche Konsequenzen sich für die Subjektkonstitution in der Schule ergeben. Ganztagsschule erscheint als Ort einer stark strukturierend orientierten Lernkultur angesichts einer als leistungs- bzw. bildungsdefizitären wahrgenommenen Schülerschaft. Die Praktiken der Professionellen dienen vornehmlich der Förderung von Gymnasialität im Sinne von Selbstständigkeit und einer selbstdisziplinierten Haltung. Die abschließende These der Autorin lautet das „Gymnasialisierung“ durch ganztagsschulspezifische Angebote zu einer möglichen Programmvariante des Gymnasiums wird, das die Eignung seiner Schülerschaft nicht mehr einfach voraussetzen kann. Dies bedeutet für die Gymnasiallehrkräfte „Übersetzungsarbeit“ leisten zu müssen, um die Adaption einer reformpädagogisch-motivierten Lernkultur in die eigene Schulformspezifik vollziehen zu können. Damit werden hohe Anforderungen an sie gestellt.

Die detaillierte, sehr lesenswerte Fallstudie von Carvalho nimmt ein hoch aktuelles und gesellschaftlich relevantes Thema auf, das bisher noch kaum erforscht wurde. Ihre Studie besticht durch eine hochkomplexe methodische Rahmung der Verbindung von Schul- und Lernkulturtheorie, ein anspruchsvolles innovatives mehrebenenanalytisches Forschungsdesign, dessen Ergebnisse in differenzierten Rekonstruktionen präsentiert werden. Vor allem durch die abstrahierenden Kontrastierungen kann die Autorin sehr anschaulich und überzeugend deutlich machen, dass sich trotz der Öffnungstendenzen das gymnasiale Lehr-Lern-Format beharrlich fortsetzt und somit die Ambivalenzen und Widersprüche der Implementierung von Ganztagsangeboten und der Öffnung des Gymnasiums aufzeigen. Dies stellt ein sehr relevantes Ergebnis dar, um Entwicklungsprozesse im gymnasialen Segment beschreiben und verorten zu können. Die Fülle an Informationen, ausführlichen Darstellungen und Rekonstruktionen hätte für die Veröffentlichung an einigen Stellen ergebnisorientierter zusammengefasst werden können. Auf diese Weise hätten Redundanzen im Schlussteil vermieden und die Ergebnisse leserfreundlicher dargelegt werden können und somit die aufgezeigten Anschlussstellen zu weiteren Studien intensiver ausgeführt werden können. Ein Hinweis auf die Anonymisierung der Daten und den Umgang damit wäre wünschenswert gewesen.
Mareke Niemann (Halle)
Zur Zitierweise der Rezension:
Mareke Niemann: Rezension von: Carvalho, Isabel Neto: Gymnasium und Ganztagsschule, Videographische Fallstudie zur Konstitution pädagogischer Ordnung. Wiesbaden: VS-Springer 2017. In: EWR 17 (2018), Nr. 6 (Veröffentlicht am 31.12.2018), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978365818358.html