EWR 19 (2020), Nr. 4 (September / Oktober)

Gabriele Weiß / Jörg Zirfas (Hrsg.)
Handbuch Bildungs- und Erziehungsphilosophie
Wiesbaden: VS Verlag fĂĽr Sozialwissenschaften 2020
(710 S.; ISBN 978-3-658-19003-3; 129,99 EUR)
Handbuch Bildungs- und Erziehungsphilosophie Handbücher, auch solche zur Erziehungs- und Bildungsphilosophie, kommen nicht umhin, den Gegenstand, über den sie einen Überblick zu bieten anstreben, mit zu konstituieren und sich dabei zugleich selbst zu positionieren: Was ist Bildungs- und Erziehungsphilosophie, wo steht sie zwischen Philosophie und Erziehungswissenschaft und für wen ist das eigentlich von Belang? Das „Handbuch Bildungs- und Erziehungsphilosophie“ nähert sich diesen Fragen auf bemerkenswerte Weise an, ohne sie jedoch eindeutig beantworten zu müssen.

Die Herausgebenden haben sich vorgenommen, ein Nachschlagewerk vorzulegen, das zugleich eine aktuelle wie systematische Darstellung und Diskussion „wichtige[r] Aspekte der Erziehungs- und Bildungsphilosophie“ (V) anbieten kann. Im Zentrum steht die wechselseitige Anregung und Durchdringung philosophischen und pädagogischen Denkens: Von philosophischen Lemmata ausgehend soll das Pädagogische im Philosophischen und das Philosophische im Pädagogischen nachgezeichnet werden. Dazu wurden zehn für das pädagogische Denken und Handeln bedeutsame philosophische Teilgebiete, von der Anthropologie bis zur Wissenschaftstheorie, identifiziert, die zwischen vier und acht Einträge umfassen und sich jenseits gewohnter Sammlungen „erziehungswissenschaftlicher Grundbegriffe“ bewegen. Über 60 Autor*innen präsentieren die Lemmata hinsichtlich ihrer pädagogischen Relevanz in historischer wie systematischer Perspektive, teils einschließlich eines Blicks auf aktuelle Problemlagen, der auch pädagogische Praktiken und Institutionen streift.

Gerade im Hinblick auf die Erwartungen einer Ortsbestimmung, mit denen sich Publikationen dieses Formats konfrontiert sehen, ist dies eine vielversprechende Herangehensweise. Erstens stellt sie dem Problem der Vereindeutigung im Verhältnis von Erziehungsphilosophie und pädagogischer Praxis, mit dem z.B. das stärker an der philosophischen Reflexion praktischer Problemstellungen der Pädagogik ausgerichtete „Sage Handbook of Philosophy of Education“ [1] hadert, eine Öffnung pädagogischer Denkgewohnheiten für philosophische Rückfragen entgegen. Das „Handbuch Bildungs- und Erziehungsphilosophie“ will die Pädagogik sowohl als Reflexions- als auch als Handlungswissenschaft berücksichtigen (VIII). Während es in einigen Beiträgen gelingt, mit dem stichwortgebenden Begriff – z.B. „Kritik“ (Bünger), „Sprache“ (Koller) oder „Demokratie“ (Schwarz) – nicht nur einen pädagogischen Gegenstandsbereich, sondern auch Grundlegungen und Perspektivierungen der Praktiken des pädagogischen Forschens, Denkens und Handelns in den Blick zu rücken, bleibt an anderen Stellen die pädagogische Bedeutung im Philosophischen und gar schon deren mögliche Konsequenzen für praktisches pädagogisches Handeln fast vollständig implizit. Den Anspruch des Handbuchs, die wechselseitige Anregung von Philosophie und Pädagogik zu fokussieren, bedienen beispielsweise die Beiträge zu „Geltung“ (Frost) oder „Ökonomisierung/Ökonomie“ (Burghardt/ Zirfas) trotzdem. Denn sie erlauben es, vertraute pädagogische Figuren – sowohl in reflexions- als auch in handlungswissenschaftlicher Hinsicht – in ihrem philosophischen Kontext anders zu verstehen, und schließen zum Teil vergessene oder bisher wenig beachtete philosophische Gedanken (wieder) für die erziehungswissenschaftliche Diskussion auf.

Damit allerdings gewinnen sie, mit Reichenbach gesprochen, den Charakter einer Einführung für diejenigen, die eigentlich keiner Einführung mehr bedürfen [2]. Um ihre Denkanstöße und produktiven Irritationen erschließen zu können, wird ein Horizont bildungs- bzw. erziehungsphilosophischen Denkens und Fragens bereits vorausgesetzt. Bleibt das erziehungsphilosophische Selbstverständnis aber im Schatten, droht es zudem seine Kontur gegenüber den im Handbuch allgegenwärtigen Bezügen nicht nur zur Philosophie, sondern auch zur Kulturwissenschaft sowie zu Zweigen der Soziologie und der politischen Theorie zu verlieren. Der Band stellt durchaus einen hohen Anspruch an die Leser*innen und es bleibt offen, wer auf welche Weise Zugang zum Lektüregenuss finden kann.

Die Konstitution von Fragehorizonten, in denen die Lemmata des Bandes das Potential ihrer pädagogisch-philosophischen Dialogizität erst wirklich entfalten können, spielt zweitens auch für die Notwendigkeit des Ordnens eine Rolle. Im Anschluss an Reichenbachs [3] Auseinandersetzung mit der Aussagekraft von „Ismen“ bedingen und ermöglichen Ordnungsraster zur Einführung einerseits das Sehen und Erkennen, als Ausdruck einer selektiven und normierenden Tradition aber auch das systematische Denken. Andererseits ist die Orientierung, die solche Raster bieten, nur um den Preis einer Vereinfachung, einer vorschnellen Schließung zu haben, die immer einen Teil des anregenden und irritierenden Potentials der so eingeordneten Gedanken unterschlägt. Im Gegensatz dazu erscheint uns das „Handbuch Bildungs- und Erziehungsphilosophie“ auf mehreren Ebenen auf Heterogenität, Pluralität und Offenheit möglicher Bezüge angelegt zu sein. Dies spiegelt sich nicht zuletzt auch in der Tatsache wider, dass in einigen Beiträgen begrüßenswerter Weise dezidiert internationale Perspektiven und Debatten mit verhandelt werden, so zum Beispiel in den Beiträgen zu „Autonomie“ (Giesinger), „Utilitarismus“ (Seichter) oder „Poststrukturalismus“ (Ode). Insgesamt hätte die Vielfalt an weiteren möglichen (internationalen) Perspektiven jedoch deutlicher herausgestellt werden können.

Auf der Ebene des einzelnen Lemmas können die Autor*innen entlang historischer und systematischer Produktions-, Rezeptions- und Verwendungsbewegungen zwischen Philosophie und Pädagogik zeigen, dass philosophische Theorien und die darin implizierten pädagogischen Aspekte in verschiedenen Kontexten ganz unterschiedlich aufgeschlossen und zur Geltung gebracht werden können. Sowohl philosophische Re-Lektüren pädagogischer Rezeptionstraditionen als auch erziehungswissenschaftliche Perspektiven auf pädagogische Implikationen in philosophischer Begriffsgeschichte lassen sich im Handbuch finden und gehen mit jeweils eigenen Ansätzen einher, historische und systematische Hinsichten miteinander zu verbinden: kontinentalphilosophische Begriffsgeschichten von der Antike bis zur Gegenwart stehen neben solchen Herangehensweisen, die sich auf wenige historische und gegenwärtige Theorien in exemplarischer Weise beziehen. Insgesamt lässt sich die Entstehung eigener systematischer Linien erziehungsphilosophischen Denkens verfolgen, die wiederum auch die Philosophie vor neue Herausforderungen stellen könnten.

Die Kontingenz und Vielschichtigkeit möglicher Dialogfelder zwischen Philosophie und Pädagogik vermag auch das Ordnungsraster philosophischer Teilgebiete zu verdeutlichen; jedenfalls für diejenigen, die das Handbuch nicht allein als Nachschlagewerk nutzen. Die philosophischen Teilgebiete werden nicht eigens eingeführt, sondern ihre Bedeutungen und Perspektiven setzen sich in der Zusammenschau der versammelten Beiträge zusammen. So entsteht etwa im Themengebiet Anthropologie eine dialektische Dynamik zwischen dem, was sich in den Beiträgen als anthropologisches Denken zeigt, und den Entdeckungen, die eine anthropologische Lesart des Pädagogischen ermöglicht. An anderer Stelle bleiben die kulturphilosophischen Einsätze eher heterogen und schlaglichtartig, die Hinsichten von Sozialphilosophie und politischer Philosophie klären sich besonders in der Synopse miteinander auf.

Eine Stärke des Handbuchs liegt in der Offenheit und Vielschichtigkeit möglicher Lesarten der Lemmata, aber auch zwischen den Beiträgen eines philosophischen Teilgebiets sowie der Teilgebiete untereinander. Ein Sachregister hätte es erleichtern können, Themen, Ideen und Begriffe auch über mehrere Lemmata und Teilgebiete hinweg zu verfolgen. Vor allem aber wäre bisweilen eine moderierende Stimme wünschenswert, die die Lesenden dabei unterstützt, die Produktivität und Eigenlogik bildungs- und erziehungsphilosophischen Denkens im Dialog mit philosophischer Begriffstradition und Systematik zu reflektieren, und den Mehrwert hervorhebt, den die Kontextualisierung in den philosophischen Teilgebieten für ein philosophisches Gegenlesen pädagogischer Eigenlogiken bietet. Das spannungsvolle Verhältnis zwischen aufzuschließender philosophischer Tradition und pädagogischem Interesse wird im Handbuch nicht nivelliert, sondern es bietet Anstöße für vielfältige anschließende Fragen. Insofern besteht die besondere Leistung dieser Publikation darin, mittels der eigenen Ordnungs- und Positionierungsversuche fundierte Diskussionen über Aufgaben, Möglichkeiten und Grenzen der Bildungs- und Erziehungsphilosophie anzuzetteln, ohne selbst schon deren Ergebnisse vorzuschreiben.

[1] Bailey, Richard/Barrow, Robin/Carr, David/McCarthy, Christine (2010): The SAGE Handbook of Philosophy of Education. Los Angeles, California u.a.: Sage Publ.
[2] Reichenbach, Roland (2006): Alfred Schäfer: Einführung in die Erziehungsphilosophie(Besprechung). In: Zeitschrift für Pädagogik 52 (2006) 3, S. 439-442, hier S. 439.
[3] Reichenbach, Roland (2007): Philosophie der Erziehung und Bildung. Eine EinfĂĽhrung. Stuttgart: Kohlhammer, S. 14ff.
Anke Engemann und Estella Ferraro (Frankfurt am Main)
Zur Zitierweise der Rezension:
Anke Engemann und Estella Ferraro: Rezension von: WeiĂź, Gabriele / Zirfas, Jörg (Hg.): Handbuch Bildungs- und Erziehungsphilosophie. Wiesbaden: VS Verlag fĂĽr Sozialwissenschaften 2020. In: EWR 19 (2020), Nr. 4 (Veröffentlicht am 20.11.2020), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978365819003.html