EWR 17 (2018), Nr. 6 (November/Dezember)

Thomas Wenzl / Andreas Wernet / Imke Kollmer (Hrsg.)
Praxisparolen
Dekonstruktionen zum Praxiswunsch von Lehramtsstudierenden
Wiesbaden: Springer VS 2018
(90 S.; ISBN 978-3-658-19460-4; 39,99 EUR)
Praxisparolen In der seit einigen Jahren geführten Debatte über Praxisphasen in der Lehrerinnen- und Lehrerbildung kann der Begriff der „Parole“ wohlwollend als Zusammenfassung und kritisch als Provokation aufgefasst werden. Damit wird bereits im Titel des hier rezensierten Bandes eine Frage impliziert: Sind Praxisphasen nun ein Credo bzw. eine Maxime der Lehrerinnen- und Lehrerbildung oder sind sie Ausdruck einer Impulslösung im Kontext des deutlich vernehmbaren Rufs nach „mehr Praxis“ als Doktrin?

Bereits in der Einleitung wird deutlich, dass die Autorin und Autoren der Studie, Thomas Wenzl, Andreas Wernet und Imke Kollmer, am zweiten Interpretationsangebot des Begriffs ansetzen. Das Praxissemester als Ergebnis der „ausgemachten Sache“, dass ein Lehramtsstudium dann gut ist, wenn es „einen „fertigen“, auf die Praxis vorbereiteten Lehrer hervorbringt“ (1). Bisher scheint der Begriff des Mythos zu überwiegen, wenn es darum geht, dieses „Herzstück“ [1] der Lehrerinnen- und Lehrerbildung zu kennzeichnen, über das man relativ wenig weiß. Gleichwohl entstehen im Moment eine Vielzahl von Studien, die sich mit der Frage der Wirksamkeit von Praxisphasen empirisch auseinandersetzen oder das Verhältnis von Theorie und Praxis diskutieren. Die Autorin und Autoren der hier rezensierten Studie nehmen eine andere Stoßrichtung vor. Auch sie beschäftigen sich mit den Konsequenzen der Hinwendung zum Praxiswunsch Studierender, heben dabei aber viel deutlicher auf die Frage der Bedeutung von Praxisphasen für ein wissenschaftliches Lehramtsstudium an der Universität ab. Dabei wird der Frage nachgegangen, welche Motive sich hinter den Praxiswünschen Studierender finden lassen. Die Bestimmung des Lernortes der Universität ist dabei ein wichtiger Dreh- und Angelpunkt für die weiteren Überlegungen, die in der Studie vorgenommen werden. Natürlich liefert der als Werkstattbericht konzeptualisierte Band keine abschließende Antwort auf die damit verbundenen Fragen. Es wird aber an einem Punkt angesetzt, der bisher nur wenig in der Diskussion um Praxisphasen diskutiert wurde: Im Mittelpunkt der Untersuchung steht nicht die Praxis selbst, sondern der Praxiswunsch Lehramtsstudierender.

Basierend auf leitfadengestützten Interviews mit Studierenden arbeiten die Autorin und Autoren „Dekonstruktionen“ als Deutungsfolien des Praxiswunsches heraus. Dem zugrunde liegt eine Auffassung einer Lehrerinnen- und Lehrerausbildung, die sich vor allem um Praxis gliedert und dementsprechend inhaltlich aufgestellt sein sollte. Dieser Befund der Studie kennzeichnet das Studium für die Studierenden nicht als „intellektuelle Chance“, sondern als „intellektuellen Irrweg“. Damit bewegen sich die Autorin und Autoren mit ihren Interpretationen inmitten des Spannungsfeldes der Aneignungsmodi eines „wissenschaftlich-reflexiven Habitus“ und der Koppelung mit dem „Habitus des routinierten, praktischen Könners“ [2, 11]. Solche Überlegungen laden durchaus dazu ein, den mehr oder weniger explizit geäußerten Wunsch der Studierenden nach mehr Praxis zu kritisieren oder ins Lächerliche zu ziehen. Mit dem Begriff der „Dekonstruktion“ wird aber gerade darauf verwiesen, den Praxiswunsch der Studierenden ernst zu nehmen und zu verstehen, warum in ihm ein Unbehagen gegenüber der Universität verborgen liegt.

Die Grundlage des Werkstattberichts stellen intuitiv ausgewählte Interviewpassagen dar, die extensiv mit dem Verfahren der Objektiven Hermeneutik interpretiert wurden. Methodisch können die Autorin und Autoren hier auf eine lange Forschungs- bzw. Interpretationspraxis verweisen. Die daraus präsentierten acht Fallvignetten werden jeweils kurz eingeführt, gefolgt von einem Überblick über die wesentlichen Deutungsverläufe der Interpretation und einer Zusammenfassung.

Als ein wesentliches gemeinsames Strukturmerkmal der vorgestellten Fallvignetten arbeiten die Autorin und Autoren die „Imagerie des Praxiswunsches“ heraus. In diesem durchaus bemerkenswerten Befund der Studie zeichnen sich drei Merkmale ab. Das ist zum einen die Diffusität des Praxiswunsches als eine Art Überschrift für die fallstrukturell herausgearbeitete Imagerie. Zweitens wird auf eine Perspektive schulischer Praxis verwiesen, die mit dem Begriff der „Auratisierung“ (58) greifbar gemacht wird. Drittens zeigen die Beispiele, dass die Imagerie Platz lässt für einen Wunsch nach Praxis, in dem sich sowohl Vermeidungstendenzen der Praxis selbst, als auch Fluchtphantasien in eine (vermeintlich) bekannte schulische Praxis wiederfinden. Eine Gemeinsamkeit dieser Merkmale sind die latenten und diffusen Abgrenzungsmomente zur Universität, die rational nicht aufgefangen werden können, weil sich gerade deren Diffusität rationalen Argumentationen entzieht. Dabei zeichnet sich auch ab, dass es um eine viel grundsätzlichere Fragestellung geht: In den praxisbezogenen Erwartungshaltungen der Studierenden findet sich nicht der Wunsch oder der Entwurf einer „alternativen universitären Lehre“, sondern eher die Suche nach einer „Alternative zur Universität“ (2, Herv. i. Orig.). Den Interpretationen folgend kennzeichnen die Autorin und Autoren das Problem der „universitären Selbstbeheimatung im Sinne einer fehlenden Aneignung der Studierendenrolle“ (85). Mit Blick auf die Fallvignetten stellen die Autorin und Autoren fest, dass nicht nur der Wunsch nach mehr Praxis Ausdruck dieses Abgrenzungsmomentes ist, sondern dass bereits im Berufsmotiv der vertraute Handlungsraum der Schule erhalten bleibt.

In der weiteren Diskussion der Befunde wird keine Bevorzugung eines mit mehr oder weniger (oder keiner) Praxis ausgestatteten Lehrerinnen- und Lehrerbildungsmodells vorgenommen. Eine Schlussfolgerung daraus ist, dass die zunehmende Hinwendung zum Praxiswunsch Studierender von vornherein ins Leere zu führen droht. Zur Debatte steht damit die Frage, was die Universität als Ort der Wissenschaft Lehramtsstudierenden bieten kann und was sie ihnen vorenthält, wenn man den diffusen Wünschen weiter entgegenkommt. Nicht nur Praxisphasen können demzufolge als Hinwendung zu den (Ausbildungs-)Wünschen Studierender aufgefasst werden, vielmehr findet sich diese Tendenz als Legitimationsproblem der praktischen Bedeutsamkeit universitärer Lehre. Die zugrundeliegende Kritik an einer solchen Konzeption von Lehrerinnen- und Lehrerbildung verteidigt damit auch den Wissenschaftlichkeitsanspruch des Lehramtsstudiums.

Verliert das Studium seinen wissenschaftlichen universitären Charakter, würde dies den Lehramtsstudierenden darüber hinaus einen Prestige- und Imageverlust aufbürden, so die weitere Feststellung der Autorin und Autoren. Zumindest an dieser Stelle ist nicht klar, inwieweit sich dies auch am Material ablesen lässt. Dies würde zumindest einen deutlicheren Verweis auf einen solchen Wunsch notwendig machen. Provokant könnte man auch die Frage stellen, ob Lehramtsstudierende überhaupt Interesse an einer universitären Ausbildungslogik haben.

Die Studie von Wenzl, Wernet und Kollmer ist ein wichtiger Zwischenruf in der momentan geführten Debatte um Praxisphasen in der Lehrerinnen- und Lehrerbildung. Der lesenswerte und bisweilen in der Sprache der Objektiven Hermeneutik durchaus bissig wirkende Band macht deutlich, dass sich die vorherrschende Frage nach der Wirkung von Praxisphasen von ihrem Ausgangspunkt weit entfernt hat. Insofern ist der Blick auf den Praxiswunsch selbst eine notwendige Perspektive, der die Bedeutungsfrage der Universität als Ort der Lehrerinnen- und Lehrerbildung in den Mittelpunkt rückt.

[1] Hascher, T. (2006): Veränderungen im Praktikum – Veränderungen durch das Praktikum: Ein vergleichender Blick auf Praktika in der Ausbildung von SekundarlehrerInnen. In C. Allemann-Ghionda / E. Terhart (Hrsg.), Kompetenzen und Kompetenzentwicklung von Lehrerinnen und Lehrern: Ausbildung und Beruf (Zeitschrift für Pädagogik, Beiheft 51), Weinheim: Beltz, 130-149.
[2] Helsper, W. (2001): Praxis und Reflexion. Die Notwendigkeit einer „doppelten Professionalisierung“ des Lehrers. Journal für Lehrerinnen- und Lehrerbildung, 1(3), 7-15.
Benjamin Krasemann (Kassel)
Zur Zitierweise der Rezension:
Benjamin Krasemann: Rezension von: Wenzl, Thomas / Wernet, Andreas / Kollmer, Imke (Hg.): Praxisparolen, Dekonstruktionen zum Praxiswunsch von Lehramtsstudierenden. Wiesbaden: Springer VS . In: EWR 17 (2018), Nr. 6 (Veröffentlicht am 31.12.2018), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978365819460.html