EWR 17 (2018), Nr. 5 (September/Oktober)

Tunç, Michael
Väterforschung und Väterarbeit in der Migrationsgesellschaft Rassismuskritische und intersektionale Perspektiven
Wiesbaden: Springer VS 2018
(453 S.; ISBN 978-3-658-21189-9; 59,99 EUR)
Väterforschung und Väterarbeit in der Migrationsgesellschaft Rassismuskritische und intersektionale Perspektiven In der Väterforschung finden Männer mit Migrationshintergrund mit ihren Vaterschaftskonzepten und ihrem väterlichen Engagement kaum Beachtung. Michael Tunç geht diese Forschungslücke umfassend an, indem er das komplexe Verhältnis von Väterlichkeit, Männlichkeit und Migration sowohl theoretisch als auch empirisch in den Blick nimmt. Insbesondere widmet er sich dabei der Beantwortung der Frage, „inwiefern sich Prozesse des Zusammenwirkens der Differenzlinien Geschlecht, Ethnizität (inklusive Religiosität) und Klasse in emanzipatorischer Perspektive auf ethnisch minorisierte Gruppen von Vätern rekonstruieren lassen“ (19f). Er erforscht mit diesem Zuschnitt erstmals die intersektionalen Schnittstellen von Vaterschaft. Die empirische Grundlage hierfür bildet sowohl eine quantitative als auch eine qualitative Untersuchung mit Fachkräften der Väterarbeit und mit Vätern selbst. Der Autor zielt zudem darauf ab, die Praxis der Väterarbeit aus einer rassismuskritischen, migrationsgesellschaftlichen Perspektive zu betrachten.

Neben Einleitung und Fazit gliedert sich die Arbeit in drei größere Teile: Forschungsstand der Sozial- und Erziehungswissenschaften zum Themenfeld Väterlichkeit, Männlichkeit und Migration (Kapitel 2), Darlegungen und Reflexionen zum Handlungsfeld Väterarbeit/-bildung (Kapitel 3), Präsentation der eigenen Untersuchungsergebnisse im Rahmen einer Evaluationsstudie zu interkultureller Väterarbeit in Nordrhein-Westfalen (Kapitel 4).

Der Forschungsstand wird im ersten Teil entlang der These der Konstruktionen von Männlichkeit und Väterlichkeit diskutiert. Im Fokus stehen die intersektionalen Beziehungen zwischen den Konzepten Väterlichkeit und Männlichkeit mit Bezug auf Migration. Zunächst werden Leitbilder und Typen von Väterlichkeit betrachtet, bevor im nächsten Schritt vertiefend das Feld migrationsbezogener Studien dargestellt wird. Sowohl Väter in der Migrationsforschung als auch Migranten in der Väterforschung, übergreifende Ansätze und dazugehörige Forschungsergebnisse finden Beachtung. Hierbei wird die bisher oft einseitig und defizitäre Betrachtung von Vätern mit Migrationshintergrund kritisiert, denn längst zeigen Forschungsergebnisse auf, dass Väter mit Migrationshintergrund aktiv engagiert sind und sich eher auch die soziale Schicht auswirkt. Formen der familiären Arbeitsteilung wie auch biographische Einflüsse als die ethnisch-kulturelle Herkunft zeigen sich als ausschlaggebend für Differenzen im väterlichen Engagement. Tunç macht hier das Fehlen von männlichkeitstheoretischen Aspekte in der (Väter)Forschung aus, die er dann im Folgenden entfaltet. Zuerst wird das Konzept hegemonialer Männlichkeit (Connell 1995) vorgestellt, dann Bourdieus (2005) Konzept der männlichen Herrschaft sowie die Konstruktion des männlichen Habitus im Geschlechterverhältnis. Dies wird ergänzt um männlichkeitssoziologische Zugänge von Scholz und Meuser (2005, 2011), die weitere Differenzkategorien einbeziehen und Männlichkeit als Konstruktionsmodus beschreiben. Aufbauend auf diesen theoretischen Zugängen entwickelt Tunç den Begriff und die Theorie der progressiven Männlichkeit, mit deren Hilfe eine emanzipatorische, intersektionale Betrachtung ermöglicht wird. Er entwirft so einen Konstruktionsmodus im Prozess der Herausbildung von Männlichkeiten, mit dem Potentiale zur Überwindung hegemonialer Männlichkeiten analytisch zugänglich gemacht werden können. Dieser innovative Ansatz ermöglicht es dann, die Spannungsverhältnisse aus hegemonialen sowie progressiven Deutungsmustern von Männlichkeiten/Väterlichkeiten theoretisch wie empirisch differenzierter als bisher zu verstehen. Mit Hilfe dieser theoretischen Einsichten geht er seine intersektionale Analyseperspektive an, wozu ihm das migrationspädagogische Konzept der Mehrfachzugehörigkeit als Grundlage dient. Insgesamt sensibilisiert der ausdifferenzierte theoretische Beitrag für das komplexe Verhältnis von Väterlichkeit und Männlichkeit in der Migrationsgesellschaft und schließt eine wichtige theoretische Lücke.
Der zweite Teil der Arbeit wendet sich den Strukturen und Konzepten im (sozial-)pädagogischen Handlungsfeld der Väterarbeit/-bildung im Allgemeinen und im Besonderen in migrationsgesellschaftlicher Perspektive zu. Diskutiert werden Stand und Entwicklung der interkulturellen bzw. migrationsgesellschaftlichen Öffnung des Handlungsfeldes Väterarbeit/-bildung sowie väterspezifische Konzepte der Migrationssozialarbeit. Weiter setzt sich Tunç mit verschiedenen Zugängen zur Professionalisierung in dem Handlungsfeld Väterarbeit/-bildung auseinander. Hier fokussiert er auf theoretische und methodische Anschlüsse zur Bestimmung von progressiver Männlichkeit aus der emanzipatorischen Männerarbeit/-bildung, der rassismuskritischen Migrationssozialarbeit wie auch der diversitätsbewussten Sozialen Arbeit.

Es folgt im dritten Teil die Darlegung der empirischen Ergebnisse über interkulturelle Väterarbeit, die im Rahmen seiner wissenschaftlichen Tätigkeit im Projekt „Praxisforschung für nachhaltige Entwicklung interkultureller Väterarbeit in NRW” des Zentrums für Türkeistudien und Integrationsforschung in Essen (ZfTI), im Auftrag des Ministeriums für Arbeit, Integration und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen (MAIS), erhoben und auswertet wurden. Datengrundlage bilden verschiedene qualitative und quantitative Experten- und Väterbefragungen zum Gelingen von interkultureller Väterarbeit. Gelingensbedingungen wie auch Entwicklungspotentiale werden dabei vielfältig ermittelt. Neben Erreichbarkeit, Nutzung, Zufriedenheit und Lernerfolg durch die Väter werden Fragen nach Kooperation, Kompetenzen und fachlicher Orientierung der Experten −d.h. Fachkräfte aus der Sozialen Arbeit erhoben. In der quantitativen Expertenbefragung werden bspw. Rahmenbedingungen wie Anstellungsverhältnisse, Erfahrung und Einbindung der Väterarbeit in den Vereinen und Organisationen betrachtet. Die quantitative Väterbefragung erfasst Selbsteinschätzungen zu Vaterschaft, Elternzeit und Erziehungsverhalten wie auch die Bewertung von Angebotsformaten. Insgesamt zeigt die Studie in Bezug auf Familien- und Erziehungssituation als auch im Hinblick auf die Angebote bei den Vätern (n=60) eine hohe Zufriedenheit sowie vorwiegend Väter mit Migrationshintergrund, die als engagiert und sehr engagiert typisiert werden. Der Autor erkennt anhand der erzielten Ergebnisse eher väterliche Ressourcen denn Defizite. Auch anhand der Ergebnisse aus den Experteninterviews lässt sich eine hohe Zufriedenheit mit den Angeboten der interkulturellen Väterarbeit/-bildung ablesen. Die Ergebnisse aus den qualitativen Väterinterviews (n=13) werden primär anhand von Kurzskizzen über die Lernerfolge aus der Teilnahme an den Angeboten vorgestellt. Weiter illustrieren Zitate aus den Interviews väterliche Selbstbilder und Lernerfolge. Es wird auch an dieser Stelle deutlich, dass die Männer mit ihrer Vaterrolle eine hohe Verantwortung und Bildungserwartungen verknüpfen und bemüht sind, ihre Erziehungskompetenzen zu reflektieren. Dementsprechend bewerten sie die Angebote sehr positiv und den Lernerfolg als hoch und betonen den Erwerb neuer Lösungen und Ressourcen für ihren Familien- und Erziehungsalltag.

Anschließend an die teilweise etwas zu kleinteilige Darstellung der Ergebnisse folgt ein Fazit, welches deutlich macht, dass emanzipatorische Perspektiven in der Praxis fruchtbar sind und die Differenzdimension der sozialen Ungleichheit in den Angeboten von allen Seiten wahrgenommen werden. Wünschenswert wäre eine Diskussion der Forschungsergebnisse in ihrer Gesamtheit sowie der Rückbezug auf und die Einordnung in vorherige theoretische und empirische Erkenntnisse. Eine eigene empirische Betrachtung, die einbezieht, wie die Väter ihre Mehrfachzugehörigkeiten wahrnehmen, wäre außerdem interessant gewesen.

Gleichwohl schafft es der Autor, auf Basis einer sehr komplexen intersektionalen Perspektive eine präzise und längst überfällige Theorie zur Väterlichkeit und zur Professionalisierung der Väterarbeit/-bildung in der Migrationsgesellschaft vorzulegen. Die Arbeit vermag es darüber hinaus, die Notwendigkeit und Potentiale von professionalisierter Väterarbeit/-bildung und die Lebenswelten und Ressourcen der teilnehmenden Väter differenziert aufzuzeigen. Zugleich sensibilisiert die Veröffentlichung für eine ressourcenorientierte und rassismuskritische Betrachtung von Vätern und Männern mit Migrationshintergrund. Michael Tunç gelingt damit überzeugend die eingangs genannte Zielstellung, Väterlichkeit und Männlichkeit in der Migrationsgesellschaft in ihrer Komplexität zu erfassen und einseitige Perspektiven zu überwinden. Das Buch kann daher einerseits für Dozierende wie Studierende der Erziehungswissenschaften, Sozialwissenschaften und Sozialen Arbeit, andererseits für Praktiker und Praktikerinnen in der Sozialen Arbeit und Pädagogik empfohlen werden.
Manuela Westphal (Kassel)
Zur Zitierweise der Rezension:
Manuela Westphal: Rezension von: Michael, Tunç,: Väterforschung und Väterarbeit in der Migrationsgesellschaft Rassismuskritische und intersektionale Perspektiven. Wiesbaden: Springer VS 2018. In: EWR 17 (2018), Nr. 5 (Veröffentlicht am 31.10.2018), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978365821189.html