EWR 14 (2015), Nr. 6 (November/Dezember)

Martin Fischer (Hrsg.)
Qualität in der Berufsausbildung
Anspruch und Wirklichkeit
Schriftenreihe des Bundesinstituts fĂĽr Berufsbildung
Bielefeld: W. Bertelsmann 2014
(322 S.; ISBN 978-3-7639-1162-2; 32,90 EUR)
Qualität in der Berufsausbildung Die öffentliche Qualitätsdebatte ist vielgestaltig und sie variiert die Qualitätssemantik kontextabhängig. Qualität wird als Ausnahme, als Perfektion, als Zweckmäßigkeit oder als adäquater Gegenwert thematisiert. „Qualität“ ist darüber hinaus ein terminus technicus und bezeichnet die Gesamtheit von Merkmalen einer Einheit bezüglich ihrer Eignung, festgelegte und vorausgesetzte Erfordernisse zu erfüllen. Diese 1972 in der bekannten ISO-Norm hinterlegte Definition bezieht sich auf die Güte eines Gegenstands oder Produkts, welche durch kategoriale Beobachtungen und Messungen erfasst wird. Qualitätsaussagen setzen voraus, dass der Bezugsrahmen expliziert wird, auf den sich die Beurteilung richtet. Was aber ist dann berufspädagogische Qualität oder, um den Titel des Bandes aufzugreifen, was ist „Qualität in der Berufsausbildung“? Welche Ansprüche werden mit Qualitätssicherung und Qualitätsentwicklung in den gegenwärtigen, umfassenden Modernisierungsprozessen im Berufsbildungswesen verbunden? Welche Anforderungen werden im Bildungsbereich unter Bedingungen von Komplexitätssteigerungen und zunehmender Handlungsunsicherheit der im Bildungswesen Tätigen formuliert? Welche Dimensionen umfasst der Qualitätsdiskurs im Bildungswesen als europäische Modernisierungsstrategie?

Auf diese Kontexte des Qualitätsdiskurses verweist der Herausgeber des Sammelbandes, Martin Fischer, in seiner Einleitung „Qualität (in) der deutschen Berufsbildung – Etikett oder Wahrheit, Eigenschaft oder Interesse“. Die europäischen Initiativen, wie bspw. der Europäische Qualifikationsrahmen für Lebenslanges Lernen, hätten auch eine Qualitätsdebatte um das deutsche Berufsbildungssystem ausgelöst. In einer Reihe von zehn Modellversuchen haben das Bundesinstitut für Berufsbildung (BiBB) und das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) das Programm „Qualitätsentwicklung und -sicherung in der betrieblichen Berufsausbildung“ aufgelegt. Der Band zeichnet die wissenschaftliche Bestandaufnahme einer Ergebnistagung aus dem Juni 2013 nach, die vom Institut für Berufspädagogik und Allgemeine Pädagogik des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) in Kooperation mit dem BiBB und dem Forschungsinstitut für betriebliche Bildung (f-bb), dem Seminar beruflicher Schulen in Karlsruhe sowie dem House of Competence des KIT organisiert wurde. Die hier zusammengestellten Beiträge lassen sich als Antworten lesen auf die übergeordnete Frage, wie Qualität in Wissenschaft und Praxis adressiert wird. Der Einleitung folgen 15 Beiträge, die in ihrer Ausrichtung so facettenreich wie der Qualitätsbegriff selbst sind.

Im ersten Abschnitt „Qualität in der Berufsausbildung gestern und heute“ entwickelt A. Lipsmeier seine zentrale These von der krisenevozierten Qualitätsdiskussion und begründet sie aus historischer Perspektive. Auch vor der ISO-Euphorie habe es pädagogische Standards und Positionen gegeben, wie er anhand der Lehrlingsproteste der 1970er Jahre, anhand der Gesellschaftskrise Ende des 19. Jahrhunderts, anhand der Qualitätsgarantie der mittelalterlichen Zünfte, anhand des Kunsthandwerks der Renaissance und anhand der mittelalterlichen Dombauhütte nachzeichnet. Im Beitrag von M. Baethge bilden die Parameter des nationalen Bildungsberichts das Maß zur Beurteilung der Güte des deutschen Ausbildungssystems. Diese sind die individuelle Regulationsfähigkeit, die Sicherung und Weiterentwicklung der Humanressourcen sowie die gesellschaftliche Teilhabe und Chancengleichheit. Für diese Parameter, so der Autor, weise das traditionelle korporatistische Steuerungsmodell erhebliche Schwächen auf. Das Berufsprinzip büße seine Verbindlichkeit für die betriebliche Arbeitsorganisation ein. C. Gaylor / M. Kohl / S. Kretschmer ordnen verschiedene Gestaltungsansätze der Qualitätssicherung auf nationaler und europäischer Ebene. Der Lissabon-Strategie nachfolgend sei in der Strategie „Europa 2020“ der Grundstein zum Übergang in ein wissensbasiertes Europa gelegt worden. Der europäische Qualitätsdiskurs steht demnach im Kontext von Transparenz, Vergleichbarkeit und Anrechnung. Lernergebnis- und Outcomeorientierung würden eine europäische Qualitätsstrategie erfordern, die auch über den Rahmen der Freiwilligkeit der Mitgliedstaaten in der Entwicklung entsprechender Instrumente hinausgehe. Mit diesen einführenden Beiträgen ist der Bogen des Qualitätsdiskurses in der Berufspädagogik und um die Berufsausbildung gespannt. Im expliziten oder impliziten Qualitätsdiskurs, so wird es deutlich, sind Berufsbildungspraxis, Berufsbildungspolitik und Berufsbildungswissenschaft kontinuierlich verflochten.

Der zweite Abschnitt betrachtet Ausbildungsqualität aus empirischer Sicht. Hier stellen M. Ebbinghaus / A. Krewerth sowie B. E. Stalder / T. C.Reinhard Studien zur Ausbildungsqualität aus der Sicht von Lernenden und Betrieben in Deutschland bzw. in der Schweiz vor. In beiden Studien wird jenseits einer relativistischen Haltung die Perspektivgebundenheit von Qualitätsurteilen verdeutlicht.

Neben empirischen und analytischen Zugängen finden sich in der Berufspädagogik auch normative, konzeptionelle oder präskriptive Ansätze. Der dritte Abschnitt versammelt berufspädagogische Perspektiven auf die betriebliche Ausbildungsqualität einerseits (W. Wittwer) und die Qualitätsentwicklung in beruflichen Schulen andererseits (K.-O. Döbber). Ein Rahmenkonzept zur Erfassung und Entwicklung von Berufsbildungsqualität wird durch ein Autorenkollektiv um M. Fischer formuliert. Es bildet die Mitte des Buches und das Essential der Modellversuchsreihe. Die Dimensionen Input-, Prozess-, Output- und Outcomequalität werden zu einer Matrix der Mikro-, Meso- und Makroebene arrangiert. Das Rahmenkonzept möchte offen sein für Betrachtungs- und Handlungsperspektiven. „Den Akteuren der Berufsbildung wird so aufgezeigt, an welchen Orten der Qualitätsentwicklung sie jeweils ansetzen können und mit welchen Qualitätsdimensionen entlang des Ausbildungsprozesses sie dabei befasst sind“ (145).

Im vierten Abschnitt fasst einführend D. Schemme die seit 2010 entwickelten, erprobten und evaluierten Modellprojekte sowie das Modellversuchsprogramm aus der Perspektive des Gesamtprogramms, der Begleitforschung und der Arbeit der Modellversuche zusammen. Ein zentrales Ergebnis ist, „dass der Prozessqualität und damit der pädagogisch-didaktischen Gestaltung von Ausbildung neben der Weiterentwicklung der Organisation und der Lernortkooperation ein hoher Stellenwert zukommt“ (187). Es rückt demzufolge der pädagogische „Kernprozess“ (ebd.) in den Mittelpunkt der Qualitätsbeurteilung. M. Eckert bezieht sich auf die Akteure dieses Kernprozesses und betrachtet die Kompetenz und Professionalität von Ausbildern und Ausbilderinnen. Neue betriebspädagogische Anforderungen müssten, so Eckert, mit konzeptioneller Entwicklungsarbeit sowie deren Sichtbarkeit durch die Ausbilder/innen beantwortet werden. Eine ähnliche Antwort auf die Qualitätsherausforderung findet sich im Beitrag von K. Büchter. Die Qualitätsdiskussion sei im Kontext von Ordnungsfragen zu führen. Wie Ordnungsmittel zu prozessgestaltenden Qualitätsentwicklungsinstrumenten werden können, zeigt sie anhand eines Modellversuchs im Maler- und Lackiererhandwerk auf. M. Brater argumentiert in seinem Beitrag, dass die Qualität des Lernens eine Frage der Qualität der Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden sei. In dem dazugehörigen Modellversuch wurde in diesem Sinne Qualitätsentwicklung „bottom up“ erprobt.

Im fünften und letzten Abschnitt werden Reformperspektiven aufgezeigt. M. Allespach stellt gewerkschaftliche Ansprüche an eine emanzipatorische und partizipatorische Berufsbildung in den Mittelpunkt. Berufsbildung, so der Autor, lasse sich nicht als Berufswissenschaft betreiben, da ihre Bedingungen und Anforderungen nicht verobjektivierbar seien. So sei das partizipatorische Instrument betrieblicher Mitbestimmung wie die Berufsbildung selbst hochpolitisch. E. Severing betont die Notwendigkeit von Reformen auf der Makroebene. Er begründet seine zentrale These, dass Qualität der Ausbildung mehr sei als Qualität in der Ausbildung, indem er auf Strukturprobleme des dualen Systems am oberen und unteren Rand verweist. Ordnungspolitische Konsequenz sei die Notwendigkeit einer Neustrukturierung eines akademisch-betrieblichen und berufsschulisch-betrieblichen Bildungstypus. Am Ende des Bandes findet sich noch ein Beitrag von L. Windelband, G. Spöttl und M. Becker zur Kompetenzorientierung und Output / Outcome-Orientierung und der Frage nach der Objektivierbarkeit beruflichen Wissens.

In der Zusammenschau zeigt sich der Ertrag des Bandes in mehrfacher Hinsicht. Zum einen verdeutlichen die Beiträge, dass „Qualität“ stets eine zugeschriebene Eigenschaft oder ein Eigenschaftsbündel umfasst und dass Qualitätsaussagen abhängig vom Standpunkt der Beobachtung sind. Zu den Stärken zählt, dass Kontinuitäten und Diskontinuitäten der Qualitätsfrage von Berufsbildung sichtbar gemacht werden. Zum anderen deutet sich in mehreren Beiträgen an, dass die Attribuierung von Qualität als pädagogische Qualität problematisch ist. Wenn Lernen und Bildung dem pädagogischen Anspruch nach zur Autonomie der Subjekte gehören bzw. gehören sollen, dann resultiert aus der äußeren Nichtverfügbarkeit der Bildung eine dilemmatische Struktur pädagogischer Qualitätsentwicklung. In der Konsequenz könnte die effiziente funktionale Aufgabenerfüllung beruflicher Bildung zum dominanten Maßstab der Qualitätsbeurteilung werden. Diese Aporie pädagogischer Qualitätsentwicklung in der Berufsausbildung nochmals systematisch herauszuarbeiten, wäre ein wichtiger Erkenntnis- und Diskursgewinn gewesen, den der Band leider nicht vollzieht. Der Ertrag der hier beschriebenen Modellversuche und der wissenschaftlichen Reflexion ihrer Kontextbedingungen und Voraussetzungen ist dadurch jedoch keinesfalls geschmälert. Vielmehr bringt der Band den Qualitätsdiskurs insgesamt auf eine bessere Reflexionsstufe, die sinnvoller Ausgangspunkt der Weiterentwicklung von Berufsbildung in der Wissenschaft, Politik und Praxis sein sollte.
Gabriele Molzberger (Wuppertal)
Zur Zitierweise der Rezension:
Gabriele Molzberger: Rezension von: Fischer, Martin (Hg.): Qualität in der Berufsausbildung, Anspruch und Wirklichkeit Schriftenreihe des Bundesinstituts fĂĽr Berufsbildung. Bielefeld: W. Bertelsmann 2014. In: EWR 14 (2015), Nr. 6 (Veröffentlicht am 02.12.2015), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978376391162.html