EWR 13 (2014), Nr. 5 (September/Oktober)

Kerrin Klinger
Zwischen Gelehrtenwissen und handwerklicher Praxis
Zum mathematischen Unterricht in Weimar um 1800
Paderborn: Fink 2014
(324 S.; ISBN 978-3-7705-5655-7; 44,90 EUR)
Zwischen Gelehrtenwissen und handwerklicher Praxis Bei dem 2013 an der Philosophischen Fakultät der Friedrich Schiller-Universität Jena als Dissertation angenommenen Werk handelt es sich um eine Studie zum Teilprojekt „Empirie versus Spekulation? Begriffene und erfahrene Natur“ im Rahmen des DFG-geförderten Sonderforschungsbereichs 482 „Ereignis Weimar-Jena, Kultur um 1800“. In der Forschungsliteratur zu verwandten Themen ist eine Tendenz zu regional eng begrenzten Studien oder Untersuchungen zu nur einzelnen Schulformen feststellbar. Demgegenüber beschäftigt sich die hier vorliegende Untersuchung zum Mathematikunterricht umfassender mit den Ausprägungen des gesamten Weimarer Schulwesens mit seinen personellen, institutionellen und inhaltlichen Verflechtungen. Die Konzentrierung auf die in vielerlei Hinsicht eng miteinander verflochtenen Städte Weimar und Jena hat aufgrund der Leitbildfunktion der sächsisch-weimarischen Residenzstadt Bedeutung für das gesamte Herzogtum und erweitert auf diese Weise den Wirkungshorizont der Arbeit. Es wird zudem deutlich, dass es sich beim Gegenstand der Arbeit nicht um eine lokal isolierte Entwicklung handelt, sondern sich hierin auch überregionale, europäische Einflüsse niederschlagen. Der zeitliche Untersuchungsraum von 1770 bis in die 1830er Jahre liegt mit der Epochenschwelle in einer historischen Umbruchsituation, die schulisch gekennzeichnet ist von einer weitreichenden Reorganisation und Umstrukturierung des Weimarer bzw. Jena-Weimarer Schulsystems. Nur beiläufig werden trotz der multiperspektivischen Anlage in diesem Zusammenhang auch utilitaristische Motive der Aufklärung angesprochen.

Klinger gelingt eine übersichtliche Gliederung, indem sie für den Aufbau ein dreiteiliges Grundraster wählt, das sich an Grundtypen von Schulen orientiert, die sich in der Untersuchungszeit gerade institutionalisieren. Dabei richtet sie den Fokus besonders auf die sich abbildende ständische Differenzierung des Schulwesens, die sich als bestimmend für die Bildungsbiografien der einzelnen Bevölkerungsgruppen erweist. Dadurch ergibt sich eine gewisse Engführung und diskussionswürdige Überschneidung von inhaltlicher Auswahl, thematischer Strukturierung und Vorwegnahme von Forschungsergebnissen (52).

Die Autorin nutzt vorzugsweise die reichhaltigen Quellenbestände der Weimarer Archive, wenn sie die Verwaltungsakten der verschiedenen Schultypen vom Gymnasium über die Bürgerschule in ihrer Genese bis zu Schulen für ständische Berufsqualifikation heranzieht und themenbezogen neu auswertet. Die unterschiedliche Gewichtung der Hauptkapitel mit deutlichem Überhang der gymnasialen Schulform ist teils wohl auf die Ergiebigkeit der Quellen zurückzuführen, teils sicher auch inhaltlich begründet, wenn der Weg des Gymnasiums zur Gelehrtenschule auch in Abgrenzung zur universitären (mathematisch-naturwissenschaftlichen) Lehre thematisiert wird.

Der eher verwaltungstechnische, organisatorische Untersuchungsstrang nimmt relativ viel Platz ein. Er ist eng gekoppelt mit der fachlichen Auswertung damals gebräuchlicher Mathematiklehrwerke im Sinn einer „induktiven Pragmatik“. Diese richtet sich im Unterschied zu einer vergleichend quantitativen oder klassisch mathematikdidaktischen Analyse auf das Anforderungsprofil und die Zwecksetzung des Materials für den jeweiligen schulischen Einsatz. In den Blick genommen wird ein weiter Begriff von Lehr- und Lernmitteln vom (seltenen) Schülerbuch bis zum Leitfaden für die Ausbildung und die Unterrichtsvorbereitung des Lehrers. Ihre Ergebnisse gewinnt Klinger durch klassisch hermeneutisches Vorgehen, vergleichend qualitatives Arbeiten und produkt- und ansatzweise wirkungsorientierte Lehr- und Lernmittelforschung. Die Wahl der jeweiligen Forschungsmethode bzw. ein neu entwickeltes gemischtes Verfahren ist nicht immer klar ersichtlich. Ihr in der Einführung vorgestelltes Kriterienraster findet leider keine durchgängige Anwendung für die Analyse. Trotzdem gelingt es, biografiegestützt pädagogische Hintergründe aufzuzeigen, Entwicklungslinien des Fachs nachzuzeichnen und multiperspektivisch die Breite der damaligen Anwendung mathematischen Fachwissens in Unterricht und Ausbildung zu verdeutlichen. Ein informativer Anhang mit einem Schaubild, Lehrwerkstextausschnitten und -illustrationen veranschaulicht die detaillierte Darstellung. Die komfortable Zitationsweise in Form von Fußnoten und ausführlichen Anmerkungen auf der jeweiligen Fließtextseite erhöht die Lesbarkeit.

Jedes Hauptkapitel schließt die Verfasserin mit einer Zusammenfassung zum schulspezifischen Schwerpunkt, um dann im abschließenden Fazit den übergreifenden Erkenntnisgewinn zu betonen: Mathematische Bildungsinhalte können historisch betrachtet als Indikator für soziale Differenzierung gelten und sind gleichzeitig selbst Instrumente sozialer Distinktion. Damit sind die pädagogischen Grundantipoden des Titels „Gelehrtenwissen“ und „handwerkliche Praxis“ in der Tradition Schleiermachers dialektisch in neuen Zusammenhang gestellt. Vorzüge und Nachteile der multiperspektivischen Herangehensweise liegen nahe beieinander, wenn kleinschrittig verschiedenste Teilaspekte bis hin zum Einfluss der Klassiker in den Blick genommen werden und interdisziplinär aus der Geschichte der Pädagogik, Biografieforschung, Fachdidaktik in Abgrenzung zur fachwissenschaftlichen universitären Bildung, Soziologie, Lehrerprofessionalisierung und Schulbuchforschung fächerübergreifende Erkenntnisse gewonnen werden. Besondere Aktualität gewinnt das Werk mit seiner Betonung der formalen und materialen Vorzüge des historischen Mathematikunterrichts auch im Hinblick auf die vieldiskutierte „neue“ Kompetenzorientierung.
Andrea Richter (Augsburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Andrea Richter: Rezension von: Klinger, Kerrin: Zwischen Gelehrtenwissen und handwerklicher Praxis, Zum mathematischen Unterricht in Weimar um 1800. Paderborn: Fink 2014. In: EWR 13 (2014), Nr. 5 (Veröffentlicht am 10.10.2014), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978377055655.html