EWR 18 (2019), Nr. 2 (März/April)

Ulf Sauerbrey
Öffentliche Kleinkinderziehung
Eine Theorie
Weinheim / Basel: Beltz Juventa 2018
(307 S.; ISBN 978-3-7799-1275-0; 49,95 EUR)
Öffentliche Kleinkinderziehung Obwohl es in den letzten Jahren eine kontinuierlich wachsende öffentliche, politische und wissenschaftliche Aufmerksamkeit für die frühkindliche Erziehung in Institutionen gibt, halten sich theoretische Abhandlungen im Gegensatz zu einer Vielzahl empirischer Studien noch in Grenzen. Und Theorien öffentlicher Erziehung in frühpädagogischen Institutionen sind z. B. im Vergleich zu Auseinandersetzungen mit „frühkindlicher Bildung“ nur vereinzelt und in Bruchstücken zu finden. Es besteht das Problem, dass die Pädagogik der frühen Kindheit nur in Ansätzen über systematische Ansatzpunkte für die Beschreibung des erzieherischen Geschehens in frühpädagogischen Einrichtungen verfügt. An dieser Lücke in der grundlagentheoretischen Arbeit der Pädagogik der frühen Kindheit setzt die Arbeit von Ulf Sauerbrey an, wenn darin im Kern der Frage nachgegangen wird: „Was ist eigentlich öffentliche Kleinkinderziehung?“ (11).

Sauerbrey verfolgt diese Fragestellung aus einer Perspektive der Allgemeinen Pädagogik. Die Erziehungstheorie Wolfgang Sünkels sowie die Theorie der operativen Pädagogik von Klaus Prange sind für seine Ausarbeitung einer eigenständigen Theorie öffentlicher Kleinkinderziehung zentrale Begleiter. In dieser Hinsicht beginnt die Arbeit nach einer Darlegung des Erkenntnisinteresses und des Forschungsstandes mit der Darstellung der methodologischen Herangehensweise, die sich dem „operativen Kern“ von Erziehung durch eine phänomenologisch orientierte „Handlungsproblemstrukturanalyse“ nähert. Als grundlegendes Handlungsproblem der Erziehung wie auch der Kleinkindpädagogik wird angeführt, dass „kulturell entstandene Kenntnisse, Fertigkeiten und Willenseinstellungen beim Neugeborenen noch nicht in einem pädagogischen Aufbau seiner Person […] vorhanden sind, wie er bei den Subjekten der älteren Generation bereits vorliegt“ (74).

Der erste Teil der Arbeit Sauerbreys widmet sich zum einen den anthropologischen Konstanten der Erziehung. Als solche beschreibt er die Leiblichkeit von Erziehungsprozessen, die individuelle und gattungsbezogene Bedeutung von Erziehung, ihre didaktische Lagerung und die Beziehung zum Begriff der Betreuung. Zum anderen wird eine Einbettung öffentlicher Kleinkinderziehung in soziokulturelle und historische Kontexte vorgenommen. Der zweite Teil des Buches unternimmt eine erste, grundlegende Klärung der Begriffe von Öffentlichkeit, Kleinkind und Erziehung. Neben einem historisch-kulturellen Begriff von Öffentlichkeit nutzt Sauerbrey einen Kleinkindbegriff, der zwischen Anthropologie und Konstruktivismus angesiedelt ist, und er rekurriert auf ein Erziehungsverständnis, das gleichermaßen die Vermittlungs- und die Aneignungsdimension betont.

Der dritte Teil des Buches beginnt mit einer subjekttheoretischen Perspektive auf das Verhältnis zwischen Erziehenden und Kleinkindern. Dabei stehen gemäß der hauptsächlichen Theoriebezüge die Konzepte von Vermitteln und Aneignen im Mittelpunkt der Beschreibung. Darüber hinaus wird mit Sünkel zwischen einer Kleinkinderziehung als „Protopädie“ und „Pädeutik“, d. h. zwischen einer implizit und verborgen stattfindenden sowie einer explizit und klar erkennbaren Erziehungsstruktur unterschieden. Im Anschluss werden eingehend verschiedene Formen pädagogischen Handelns von Erzieher_innen differenziert beleuchtet. Erzieher_innen können dabei nicht nur leibliche Erwachsene sein. Auch das Erziehungswesen, der Staat oder andere Kinder wirken situativ vermittelnd. Nachdem sich diese Ausführungen Sauerbreys auf das „Wie“ von Erziehungsprozessen konzentriert haben, richtet sich sein Fokus nun auf das konstitutive „Was“. Das nächste Kapitel fokussiert demnach in objekttheoretischer Hinsicht die Aneignungsinhalte frühkindlicher Erziehung. Als solche Objekte werden immaterielle Kulturelemente verstanden, auf die sich die kindliche Aneignungstätigkeit richtet. Sie werden von Sauerbrey weiter als Fertigkeiten (genauer: Fingerfertigkeiten, Sprechen, kulturell bedingte Bewegungsabläufe), Kenntnisse (genauer: der Sprache und ihres Systems, der Struktur von Räumen, Farben, Formen, Größen und Mengen) und Motive, d.h. das, „was in einer spezifischen Kultur ‚gut‘ oder ‚böse‘, was redlich oder unredlich, was sozial erwünscht oder unerwünscht ist“ (248), spezifiziert.

Die Ausführungen werden im fünften Teil des Buches vor dem Hintergrund einer zeittheoretischen Argumentation zu einem Prozessmodell öffentlicher Kleinkinderziehung verdichtet. Unterschieden wird zwischen einzelnen Erziehungssituationen, die in verschiedener Weise zeitlich vollzogen werden, und der öffentlichen Kleinkinderziehung als begrenztem Abschnitt im individuellen Lebenslauf. Sowohl Erziehungssituationen als auch der Prozess öffentlicher Kleinkinderziehung als solcher sind dabei durch relative Anfänge und Enden gekennzeichnet. Beide Perspektiven werden in einem Modell gebündelt, in dem einzelne Vermittlungs- und Aneignungsprozesse zwischen Erzieher_innen und Kleinkindern den Verlauf öffentlicher Kleinkinderziehung konstituieren. Im sechsten und letzten Teil des Buches unterbreitet Sauerbrey einige „Denkanstöße“ für die Frühpädagogik. Sie konzentrieren sich vor allem auf eine kritische Betrachtung des Bildungs- und des Professionalitätsbegriffs in der Frühpädagogik. Besonders interessant ist dabei die vom Autor aufgeworfene Frage für zukünftige Forschungen, wie ein Begriff von Bildung in der Frühpädagogik aussehen kann, der beschreibt „was die vorliegende Untersuchung der Sache nach noch nicht erfasst hat“ (283). Er wirft damit einen kritischen Blick auf den gegenwärtig so deutungsmächtigen Bildungszugang zum Feld vor und verweist zugleich auf die Notwendigkeit einer grundlagentheoretischen Erörterung und begrifflichen Differenzierung eines frühkindlichen Bildungsbegriffs vor dem Hintergrund eines ausgearbeiteten Erziehungsverständnisses.

Man muss an dieser Stelle keine gewagten Thesen vorbringen um einzuschätzen, dass das Buch von Sauerbrey als eines der wichtigsten für die frühpädagogische Grundlagenforschung in den letzten und den nächsten Jahren angesehen werden kann. Es handelt sich um eine profunde Ergründung dessen, wie öffentliche Kleinkinderziehung zu bestimmen ist und wie das Geschehen in Kindertageseinrichtungen verstanden werden kann. Bislang ist Vergleichbares im deutschsprachigen Raum kaum ein zweites Mal zu finden. Zugleich liefert die Arbeit von Sauerbrey ein Instrumentarium bzw. fast ein Werkzeugkasten zum Verständnis dessen, was die „Pädagogizität“ von Situationen bspw. in der Kindertageseinrichtung ausmacht. Auch wenn davon auszugehen ist, dass der von Sauerbrey gewählte Zugang zum Erziehungsbegriff der öffentlichen Kleinkinderziehung kontrovers diskutiert werden wird, ist die starke Orientierung an allgemeinpädagogischen Theorien als eine wichtige und gewinnbringende Herangehensweise für die Pädagogik der frühen Kindheiten und insbesondere ihre noch in den Anfängen steckende Grundlagenforschung anzusehen. Jedoch ist die Grundausrichtung Sauerbreys, d. h., die enge Anlehnung an die Erziehungstheorien von Sünkel und Prange, immer auch ambivalent einzuschätzen: Auf der einen Seite sind die Ausführungen sehr stark darauf bezogen, wodurch andere konzeptionelle Orientierungspunkte von nachrangiger Bedeutung sind. So spielen z. B. ethisch-moralische Fragen von Erziehung nur am Rande eine Rolle. Es stellt sich auch die Frage, ob die Prozesse des Vermittelns und Aneignens zwischen Kindern untereinander theoretisch so gefasst werden können, wie zwischen Erwachsenen und Kindern. Auf der anderen Seite erlangt die Theorie öffentlicher Kleinkinderziehung durch die Kohärenz ihrer Theoriebezüge eine systematische Tiefe, die bisher beispiellos bleibt. Zugleich kann auch die Reklamation einer empirischen Grundlegung einer solchen Theorie eher als Makulatur gelten, die im Hinblick auf die Gesamtleistung des Buches nur wenig ins Gewicht fällt. Vielmehr bietet das Buch zahlreiche Anknüpfungspunkte für weitere Forschungen nicht nur in empirischer, sondern auch in theoretischer Hinsicht. Exemplarisch dafür ist die kritische Auseinandersetzung mit den Begriffen von Bildung und Betreuung, die für die Frühpädagogik zentral sind.
Markus Kluge (Münster)
Zur Zitierweise der Rezension:
Markus Kluge: Rezension von: Sauerbrey, Ulf: Öffentliche Kleinkinderziehung, Eine Theorie. Weinheim / Basel: Beltz Juventa 2018. In: EWR 18 (2019), Nr. 2 (Veröffentlicht am 10.05.2019), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978377991275.html