EWR 17 (2018), Nr. 1 (Januar/Februar)

Daniel Hofstetter
Die schulische Selektion als soziale Praxis
Aushandlungen von Bildungsentscheidungen beim Übergang von der Primarschule in die Sekundarstufe I
(Bildungssoziologische BeitrÀge)
Weinheim / Basel: Beltz Juventa 2017
(310 Seiten; ISBN 978-3-7799-1594-2; 34,95 EUR)
Die schulische Selektion als soziale Praxis Kaum ein Thema heizt schulpolitische Diskussionen so stark auf wie die Problematik von Selektionsentscheidungen in der Schule. Insbesondere fĂŒr den deutschsprachigen Raum (Deutschland, Schweiz, Österreich) mit einer hierarchisch gegliederten Sekundarstufe I sind schulische ÜbergĂ€nge ein Forschungsthema mit langer Tradition. An diesem Punkt setzt die Dissertationsschrift – eine ethnographische Feldforschung – von Daniel Hofstetter an, die konkrete Selektionsmechanismen am Beispiel von zwei Klassen beim Übergang von der Grundschule in die Sekundarstufe I des Kantons Freiburg in der Schweiz untersucht. Das Ziel der vorliegenden Forschungsarbeit war es, die sozialen Praktiken zu fokussieren, die, institutionell-organisatorisch gerahmt, in der Interaktion zwischen Lehrpersonen, Eltern und SchĂŒler_innen entstehen. Die institutionellen Rahmenbedingungen sowie die rechtlichen Richtlinien, die in Form von unterschiedlichen Übertrittmodellen den Übergang in die Sekundarstufe I mitgestalten, sollten zugleich einen Fokus der Analyse bilden.

Die unterschiedlichen rechtlichen Grundlagen aus Deutschfreiburg, so die vorletzte Grundlage (Modell 1998), welche zu ihrer Selektionsgerechtigkeit wissenschaftlich evaluiert und 2009 ĂŒber den CORECHED-Preis zugleich prĂ€miert wurde, sowie die neueste und erweiterte Selektionsgrundlage (Modell 2011), werden unter die Lupe genommen. Das Modell 2011, so die Intention der Entwickler_innen, erweitert bisherige Versuche des Kantons, die Selektion gerechter (durch MĂ€ĂŸigung sozialer Herkunftseffekte) zu gestalten. Mit der BerĂŒcksichtigung von Notenentwicklungen der Kinder, Empfehlungen der Lehrpersonen, Empfehlungen der Eltern, sowie dem Einsatz einer VergleichsprĂŒfung sollen die sozialen Aufstiegschancen fĂŒr alle Kinder garantiert sein.

Es gelingt Hofstetter, den Forschungsstand um das PhĂ€nomen der sozialen Ungleichheit von Bildungschancen sowohl auf der Basis internationaler wie auch historisch-gesellschaftlicher Entwicklungen (seit Durkheim 1911) aus verschiedenen theoretischen Perspektiven kritisch zu diskutieren. Der Autor fokussiert insbesondere die theoretische und methodische Perspektive von Bourdieu/Passeron (1971) sowie jene Cicourels und Kitsuses (1974), die er als Interpretationsfolien fĂŒr seine qualitativ erhobenen Daten einsetzt. Quantitativ empirische Erkenntnisse zur Bildungsungleichheit werden zwar eingefĂŒhrt, aber doch eher kurz diskutiert.

Mit einer ethnographischen Forschungsstrategie hat der Autor wĂ€hrend einer bewundernswert langen, nĂ€mlich dreijĂ€hrigen Feldforschung (vom Ende der 4. Klasse zum Ende des Semesters der 7.Klasse nach dem Übergang in die Sek I) die Erfahrungswirklichkeiten und die Ko-Konstruktion des Alltagswissens um die schulische Selektion der beteiligten Akteur_innen erfasst, indem sich die Analyse hauptsĂ€chlich auf Interaktionsprozesse in GesprĂ€chen fokussiert und diese in der Tradition der Ethnographie dicht beschreibt.

Die analysierte Datenbasis fußt hauptsĂ€chlich auf aufgezeichneten und danach transkribierten GesprĂ€chen. Dagegen werden leider kaum Daten aus den langjĂ€hrigen teilnehmenden Beobachtungen innerhalb und ausserhalb des Unterrichts (im Sinne von analysierten Protokollen) in diesem Forschungsfeld berĂŒcksichtigt. Hofstetter entwickelt ein Ă€ußerst ausgefeiltes Design, um schulisch relevante KommunikationsrĂ€ume der Selektion zu identifizieren. So nimmt der Forscher sowohl an allen obligatorischen GesprĂ€chen der 5. und 6. Klassen zwischen Lehrpersonen und den Eltern der Kinder teil als auch an deren Vor- und Nachbereitungen durch die Lehrpersonen. Beim konkreten Übergang in ein Schulniveau der Sek I vermag er zugleich den GesprĂ€chen zwischen Primarlehrpersonen und Direktor_innen der Sekundarschulen (zur Gestaltung der DurchfĂŒhrung der VergleichsprĂŒfung) beizuwohnen, womit er Zeuge des Verfahrens der Zuteilung der sogenannten unklaren FĂ€lle (auch nach der VergleichsprĂŒfung) auf die unterschiedlichen Schultypen wird.

Hofstetter nimmt im Rahmen seiner Feldforschung einerseits eine formale Kontrastierung der zwei Übertrittsmodelle (1998 und 2011) vor, andererseits kann er belegen, dass je nach Selektionsmodell andere Kinder zu ‚klaren oder unklaren’ SelektionsfĂ€llen deklariert werden. Die Selektion und der damit verknĂŒpfte Bildungs(miss)erfolg bleiben in diesem Sinne einem gewissen Zufallsprinzip ĂŒberlassen. Wie bereits Kronig fĂŒr die Schweiz belegen konnte, sind Selektion und Leistungsbewertungen in der Schule von kuriosen ZufĂ€llen, die Bildungs(un)-gleichheit und Chancengerechtigkeit modellieren, betroffen [1].

Die dreijĂ€hrige Feldforschung von Hofstetter beginnt am Ende der 4. Klasse und endet nach dem ersten Semester der 7. Klasse, also nach dem Übergang in die Sek I Allerdings ist hier hervorzuheben, dass der Autor bereits vor seinem Feldeintritt ĂŒber Datenmaterial zu den jeweiligen Kindern verfĂŒgt, so die Notenzeugnisse aus der 3. Klasse. Der Forscher kann mit seinen Daten deutlich aufzeigen, dass die Entwicklung der Hauptfachnoten bereits ab der 3. Klasse eine tatkrĂ€ftige Vorselektion darstellen. Die Hierarchisierung der Kinder (bereits lange vor dem Einsatz des Selektionsverfahrens) nach Noten entspricht in hohem Maße der spĂ€teren Zuteilung in der gegliederten s.o. Auch der unterschiedliche sozioökonomische Hintergrund der Kinder (Klasse K hauptsĂ€chlich Akademiker _Innen-Eltern und Klasse W hauptsĂ€chlich Berufe des untersten und mittleren Wirtschaftssektors) spielt bei der Zuteilung der Kinder in die unterschiedlichen Typen der Sek I eine gewichtige Rolle. Die Schultypen mit den erweiterten AnsprĂŒchen (sogenannte A-PlĂ€tze) werden hauptsĂ€chlich von den sozial besser situierten Kindern belegt (Bourdieu und die Soziodizee lassen grĂŒĂŸen).

Auf die GesprĂ€che mit den Eltern am Ende der 5. Klasse bereiten sich die Lehrpersonen im Lichte der Zeugnisse der 4. Klassen sowie anhand kollektiv konstruierter Bilder bezĂŒglich der elterlichen Bildungsaspirationen (auch abgeleitet vom antizipierten elterlichen Berufsstatus) vor. Im Rahmen dieser GesprĂ€che lĂ€sst sich dann eine gewisse Anspannung auf der Seite der Lehrpersonen feststellen, wenn sie die Bildungsaspirationen der Eltern nicht vor dem GesprĂ€ch kennen. Bei der DurchfĂŒhrung der GesprĂ€che lassen sich unterschiedliche Kommunikationsmuster zwischen den Akteur_innen aufzeichnen. Aus den Daten wird klar ersichtlich, dass Eltern ĂŒber unterschiedliche soziokulturelle und sprachliche FĂ€higkeiten verfĂŒgen, um die schulische Zukunft ihrer Kinder mit den Lehrpersonen auszuhandeln. Akademikereltern sind viel eher bereit, sich gegen ungĂŒnstige Bewertungen ihres Kindes einzusetzen. Machtkonstellationen zwischen Eltern und Lehrpersonen werden bei diesen GesprĂ€chen und je nach ‚Fall‘ unterschiedlich sozial modelliert. HĂ€ufig sind diskriminierende Äußerungen ĂŒber Eltern und Kinder in den Transkripten vorzufinden.

Der zweifelhafte Vorteil der Verfahren (Modelle 1998 und 2011) scheint darin zu liegen, dass sie offene FĂ€lle produzieren, die je nach Bedarf dem einen oder anderen hierarchisch gegliederten Typus der Sek I zugewiesen werden können. Die Analyse der Daten deutet darauf hin, dass bei der Zuweisung der unklaren FĂ€lle die Argumentation der Direktor_innen der Sekundarschulen von deren organisatorischen BedĂŒrfnissen beeinflusst wird. Bei der Bewertung der VergleichsprĂŒfungen anlĂ€sslich der Schwellensitzung scheinen die Direktor_innen der abnehmenden Schulen ihre Einflussmöglichkeiten so einzusetzen, dass die Ergebnisse möglichst ihren organisatorischen Interessen dienen. Wenn doch die Verletzung des meritokratischen Prinzips durch Leistungsbewertungen (Kronig 2012 [2]) sowie das PhĂ€nomen der Institutionellen Diskriminierung im Kontext schulischer Selektion (Gomolla und Radtke 2002 [3]) bereits empirisch belegt worden sind, verweist diese Arbeit ein weiteres Mal darauf, dass nicht die Selektionsmodelle, sondern die bildungspolitische Tradition der Dreigliedrigkeit – mit klaren Quotierungen des Zustroms von SchĂŒler_innen in die unterschiedlichen Leistungstypen der Sek I – die Selektion vordefiniert. Die tatsĂ€chlichen Quoten fĂŒr das Gymnasium, die Sekundar- und Realschule bleiben ĂŒber die Zeit bedenklich stabil. Die Zuweisung und das ‚Decision making’ wird dadurch vorprogrammiert. Die Lehrpersonen mĂŒssen dabei, so zeigt Hofstetter auf, in vorgegeben Selektionslogiken und -erwartungen des Schulsystems operieren.

Dahingehend kann man dem Verfasser zustimmen, wenn er festhĂ€lt: „So sehr man in ein gutes Verfahren investiert hat, so sehr die Eltern der betroffenen Kinder das Verfahren als gerecht beurteilen mögen, so sehr lĂ€uft man Gefahr, den irrigen Eindruck zu erwecken, dass dem Problem der sozialen Reproduktion durch die Schule mit einem ‚guten Verfahren‘, das heisst mit einem transparenten Selektionsinstrument, entschieden entgegengewirkt werden könne“ (288). Die vermeintlich geltende meritokratische Logik, nach welcher die Zuweisung in die spezifische Abteilung der Sek I von den Leistungen der SchĂŒler_innen abhĂ€ngig gemacht werden soll, wird somit mehrfach verletzt. Im Feld scheint das Verfahren dazu beizutragen, dass kaum ĂŒber diese Diskrepanzen gesprochen wird und somit eine zweifelhafte Selektionslogik legitimiert wird, was ein wichtiges Ergebnis der Studie darstellt.

Die Einblicke in die Entscheidungspraktiken der Schulen belegen, dass Lehrpersonen das Zustandekommen von Bildungsentscheidungen in jenen Momenten hinterfragen, wo sie mit einem Kind ein Bildungsprojekt verfolgt haben, das gescheitert ist. In diesen Situationen stellen sie ihre eigene Arbeit infrage, machen dann aber schließlich das Kind fĂŒr das Ergebnis verantwortlich.

Soziodizee steht somit ĂŒber Allem und damit auch die GĂŒltigkeit der Stammtischaussage ‚Jeder sei seines GlĂŒckes Schmied‘ in der Schule. Über die Konstruktion eines ‚gerechten’ Übertritts durch rechtliche Vorgaben und seiner kaum hinterfragten Umsetzung durch Lehrpersonen werden Bildungskarrieren von Kindern legalisiert und legitimiert.


Anmerkung:
[1] Kronig, W.: Die systematische ZufÀlligkeit des Bildungserfolgs. Theoretische ErklÀrungen und empirische Untersuchungen zur Lernentwicklung und zur Leistungsbewertung in unterschiedlichen Schulklassen. BeitrÀge zur Heil- und SonderpÀdagogik 32. Bern / Stuttgart / Wien: Haupt Verlag 2007.
[2] Kronig, W.: Über das Eigenleben von Leistungsbewertungen. In S. FĂŒrstenau und M. Gomolla (Hrsg.) Migration und schulischer Wandel: Leistungsbeurteilung. Wiesbaden: VS Verlag 2012, 51-64.
[3] Gomolla, M. / Radtke, F.-O.: Institutionelle Diskriminierung. Die Herstellung ethnischer Differenz in der Schule. Wiesbaden: VS Verlag fĂŒr Sozialwissenschaften, 2002.
Maria Kassis (PĂ€dagogische Hochschule FHNW, Basel)
Zur Zitierweise der Rezension:
Maria Kassis: Rezension von: Hofstetter, Daniel: Die schulische Selektion als soziale Praxis, Aushandlungen von Bildungsentscheidungen beim Übergang von der Primarschule in die Sekundarstufe I (Bildungssoziologische BeitrĂ€ge). Weinheim / Basel: Beltz Juventa 2017. In: EWR 17 (2018), Nr. 1 (Veröffentlicht am 26.02.2018), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978377991594.html