EWR 18 (2019), Nr. 2 (März/April)

Frederick de Moll
Familiale Bildungspraxis und Schülerhabitus
Außerschulische Reproduktionsmechanismen von Bildungsungleichheit in der Grundschule
Weinheim: Beltz 2018
(433 S.; ISBN 978-3-7799-1596-6; 58,00 EUR)
Familiale Bildungspraxis und Schülerhabitus Die anhaltende Bildungsungleichheit im deutschen Schulsystem ist vor allem seit der Publikation der ersten PISA Studie im Jahr 2000 ein zentrales Thema der soziologischen und erziehungswissenschaftlichen Forschung. Dabei wird an verschiedenen Stufen und Übergängen des deutschen Bildungssystems nachgewiesen, dass die sozialökonomische Herkunft der Kinder maßgeblich für deren Schulerfolg verantwortlich ist.

Im Mittelpunkt der als Buch erschienenen Dissertation von Frederick de Moll steht diesbezüglich die konkrete Frage, über welche Mechanismen sich die soziale Position von Eltern auf den Schulerfolg von Grundschulkindern auswirkt. Hierzu wird schwerpunktmäßig auf die bekannten Konzepte von Pierre Bourdieu und Annette Lareau eingegangen. Im Anschluss daran wird versucht mit eigener empirischer Forschung die gefundenen Forschungslücken zu schließen.

Neben den allgemein bekannten Konzepten von Bourdieu zu der sozialen Position, dem sozialen und kulturellen Kapital, zum Feld, zurr kulturellen Passung, zum Habitus und zur Praxis bzw. zum Lebensstil wird vor allem auch das Konzept von Lareau zur familialen Bildungspraxis umfangreich dargestellt und diskutiert. Dabei wird, um die Mechanismen der Bourdieuschen Transmissionsthese in den Blick nehmen zu können, vor allem auch auf die „Concerted Cultivation“ und „Accomplishment of Natural Growth“ von Lareau Bezug genommen. Diese beiden Konzepte werden als zentrale Reproduktionsmechanismen von Bildungsungleichheit angesehen.

Insgesamt werden die genannten Konzepte sehr detailliert und gespickt mit aktuellen quantitativen und qualitativen Forschungsergebnissen vorgestellt. Dabei wird beispielsweise bei der Diskussion des Habitus darauf verwiesen, dass häufig die in qualitativer Forschung gefundenen Zusammenhänge bisher nicht quantitativ erforscht wurden, teilweise aufgrund mangelnder Kenntnis oder der Schwierigkeit der quantitativen Umsetzung.

Daran schließt sich der empirische Teil direkt an. Anhand von Daten des Projekts EDUCARE, indem Befragungen mit Eltern und deren Kindern in Frankfurt und Dresden durchgeführt wurden, sollen vor allem folgende Kernfragen beantwortet werden:
Erstens: Wie unterscheidet sich das außerschulische Leben von Kindern je nach familialen Verhältnissen in Bezug auf Elternhandeln, Alltagsorganisation und nicht erwachsenenstrukturierte Praktiken von Kindern?
Zweitens: Lassen sich differenzielle Konstellationen der Praktiken von Kindern und Eltern im Familienalltag identifizieren, die im Sinne Lareaus als klassenspezifische familiale Bildungspraxen interpretiert werden können?
Drittens: Inwieweit tragen familialen Bildungspraxen zur Weitergabe eines je nach Existenzbedingungen der Familie unterschiedlich ausgeprägten Schülerhabitus aufseiten des Kindes bei?
An diese Kernfragen schließen sich weitere Teilfragen an, die systematisch und verständlich abgearbeitet werden, hier in ihrer Ausführlichkeit aber nicht vorgestellt werden können. Dabei finden sich differenzierte Analysen zum Elternverhalten, zur Alltagsgestaltung, zu familialen Bildungspraxen und zum Schülerhabitus.

Die erste Kernfrage beschäftigt sich mit dem Elternhandeln und der Alltagsorganisation. Dabei wird in kindorientieres und erwachsenzentriertes Handeln unterschieden. Es zeigt sich, dass die kindorientierten elterlichen Praktiken in vier Subdimensionen aufgeteilt werden können: musisch-buchkulturelle Eltern-Kind Praktiken, schulbezogenes Engagement, kommunikative Praktiken und diskursiver Austausch. Nur die buchkulturellen Praktiken lassen sich direkt mit der sozialen Position der Familie in Verbindung bringen, die weiteren Dimensionen hängen nicht wie theoretisch erwartet mit der sozialen Herkunft zusammen. Auch die Ergebnisse zum erwachsenenzentrierte Elternhandeln erweisen sich als anschlussfähig zur Studie von Lareau und deuten auf soziale Unterschiede hin. Anders als erwartet zeigt sich jedoch, dass es keinen negativen Zusammenhang zwischen der sozialen Position und den häuslichen Familienpraktiken gibt. Insgesamt überraschen auch die Ergebnisse zur Kommunikation innerhalb der Familie, da hier die erwarteten sozialen Unterschiede teilweise nicht zu finden sind.

Die zweite Kernfrage beschäftigt sich mit der familialen Bildungspraxis. Mit Hilfe von Latent-Class-Analysen werden vier unterschiedliche familiale Bildungspraxen, die auch deutlich von den Existenzbedingungen der Familien abhängen, unterschieden: bildungsstrategisch kindorientierte Familienpraxis, hochgeschäftig-bildungseifrige Familienpraxis, medial und peerkulturell geprägte Bildungspraxis und medial geprägte, kommunikationsorientierte Bildungspraxis.

Bei der dritten Frage steht der Schülerhabitus im Vordergrund, der maßgeblich zur Erklärung der Transmissionsthese beitragen soll. De Moll unterscheidet vier Dimensionen des Schülerhabitus: Besorgtheit, Selbstvertrauen, Selbstbeschränkung und Ohnmachtserleben. Die Analysen zeigen, dass der Faktor Schülerhabitus mit der Schulleistung zusammenhängt, ebenso wie mit der sozialen Position und der familialen Bildungspraxis. Darüber hinaus zeigt sich, dass die familiale Bildungspraxis auch einen vom Schülerhabitus unabhängigen Einfluss auf die Schulleistung ausübt.

Insgesamt stellt das Werk von de Moll eine sehr gut zu lesende, dennoch tiefgründige und umfassende Darstellung der familialen Bildungspraxis entlang der gängigen Konzepte von Pierre Bourdieu und Annette Lareau dar. Es werden aktuelle nationale und internationale Forschungsergebnisse berücksichtigt und kritisch hinterfragt. Die abgeleiteten Lücken werden im Rahmen der eigenen empirischen Forschung zwar nicht in der Gänze gefüllt, jedoch werden auch hier wichtige Ergebnisse methodisch fundiert erarbeitet. Besonders bereichernd für den empirisch ambitionierten Forscher ist dabei, dass de Moll mit fundierten Methoden (z.B. Strukturgleichungsmodelle, Pfadanalysen und Regressionsmodelle) Itembatterien vorstellt, die zur quantitativen Messung von Elternhandeln, Alltagsgestaltungen, familiale Bildungspraxen und Schülerhabitus auch über die vorgestellte Studie hinaus verwendet werden können.

Die Arbeit lässt kaum bis keinen Raum zur Kritik. Ein Schwachpunkt, der jedoch viele Forscher betrifft, ist der Tatsache geschuldet, dass die Stichprobe nicht gezielt für sein Forschungsvorhaben erstellt wurde, sondern in ein anderes Forschungsprojekt mit anderen Themenschwerpunkt eingebettet ist. Daher sind nicht alle wünschenswerten Variablen im Datensatz enthalten. Kritisch sehe ich auch die Verwendung von verschiedenen Imputationen, um mit der recht großen Anzahl von fehlenden Werten umzugehen. Hier hätte ich mir als Leser den Bezug auf die Ergebnisse ohne diese Imputationen gewünscht, um abschätzen zu können, ob das Verfahren die Ergebnisse signifikant beeinflusst. Darüber hinaus finde ich, dass der Aspekt der Schulleistungsunterschiede und der Einfluss der verschiedenen gefundenen Faktoren darauf noch weiter hätten analysiert werden können und in der Arbeit insgesamt etwas zu kurz kommen.

Abschließend kann ich die Lektüre jedoch vollumfänglich empfehlen, vor allem die strukturierte und klare Darstellung, der doch sehr komplexen Mechanismen hat mich selbst sehr inspiriert und bergen noch zahlreiche Möglichkeiten für weitere Forschung.
Nicole Biedinger (Mainz)
Zur Zitierweise der Rezension:
Nicole Biedinger: Rezension von: Moll, Frederick de: Familiale Bildungspraxis und Schülerhabitus, Außerschulische Reproduktionsmechanismen von Bildungsungleichheit in der Grundschule. Weinheim: Beltz 2018. In: EWR 18 (2019), Nr. 2 (Veröffentlicht am 10.05.2019), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978377991596.html