EWR 8 (2009), Nr. 1 (Januar/Februar)

Michael Wagner (Hrsg.)
Schulabsentismus
Soziologische Analysen zum Einfluss von Familie, Schule und Freundeskreis
Weinheim/München: Juventa 2007
(253 S.; ISBN 978-3-7799-1696-3; 23,50 EUR)
Schulabsentismus Michael Wagner u.a. haben im Rahmen eines Forschungsprojektes am Kölner Forschungsinstitut für Soziologie empirische Jugend- und Schulstudien miteinander verglichen. Die Ergebnisse dieser Sekundäranalyse werden in dem vorliegenden Sammelband in neun Beiträgen zusammenfassend wiedergegeben. Dabei liegt der Schwerpunkt auf dem Ausmaß (siehe Bernd Weiß), den Gründen (siehe Thomas Weißbrodt, Imke Dunkake, Kathrin Samjeske) und den Folgen (Rebecca Frings) von Schulabsentismus. Darüber hinaus enthält der Band eine Analyse der Defizite der bisherigen Schulabsentismusforschung und Vorschläge zu möglichen Präventionsmaßnahmen (siehe v.a. Michael Wagner).

Alle Beiträge basieren auf klaren Begrifflichkeiten. In der Einleitung definiert Wagner Schulabsentismus als das „Fernbleiben der Schüler vom Unterricht – erlaubt oder unerlaubt“ (7). Mit der negativen Sicht auf Schulabsentismus, dem Schulschwänzen als „unerlaubte Abwesenheit vom Schulunterricht“ (25) befasst sich Dunkake im ersten Beitrag dieses Bandes. Nach Dunkake verstößt der Schüler mit diesem Verhalten gegen Normen (z.B. Schulpflicht) und zeigt damit abweichendes Verhalten.

Der folgende Beitrag von Weiß beschäftigt sich mit dem Ausmaß von Schulschwänzen und Schulabsentismus. Die vorgestellten Ergebnisse basieren auf einer Analyse der Datensätze von zwölf deutschen Studien. Diese vergleichende Sekundäranalyse zeigt deutlich, dass die Ergebnisse dieser Einzelstudien stark differieren. So kann nach Weiß auf der Grundlage dieser Einzelstudien eine generalisierende Aussage über die Häufigkeit des Schulschwänzens nicht getroffen werden. Die Ergebnisse seiner Mehrebenenanalyse des Datensatzes einer im November 2003 an allen Kölner Hauptschulen durchgeführte Klassenlehrerbefragung zum ganztätigen Schulabsentismus, stellt Weiß in seinem zweiten Beitrag vor. Auf der Grundlage dieser Analyse trifft Weiß u.a. folgende generalisierende Aussage über die Häufigkeit von ganztätigem Schulabsentismus an Kölner Hauptschulen: Fast 9 % aller Schülerinnen und Schüler fehlen im Wochenmittel entschuldigt oder unentschuldigt.

Im Anschluss an Weiß setzen sich Weißbrodt, Dunkake und Samjeske mit den Gründen von Schulabsentismus auseinander. Dem Einfluss von Schule als sekundäre Sozialisationsinstanz auf Schulabsentismus geht Thomas Weißbrodt in seinem Beitrag nach. Seine Überlegungen stützen sich auf die Soziale Kontrolltheorie von Hirschi (1969), nach der die Intensität der Bindung an die Gesellschaft für abweichendes Verhalten von großer Bedeutung ist. Weißbrodt stellt vier Hypothesen auf, welche gemäß Hirschi die vier Arten von Bindungen berücksichtigen. Zur Überprüfung der Hypothesen konstruiert er Skalen aus den Items der PISA 2000-Studie, deren Daten er verwendet. Diese Skalen lassen sich inhaltlich den vier Bindungsarten zuordnen, so dass nunmehr das Ausmaß der einzelnen Bindungsebenen messbar ist. Im letzten Teil seines Beitrags führt er deskriptive und multivariate Analysen durch, die seine Hypothesen bestätigen. Ein schulischer Faktor, der zur Schulverweigerung führen kann, ist danach beispielsweise in der schulischen Leistung zu finden.

Imke Dunkake dagegen sucht im familiären Umfeld nach den Ursachen von Schulabsentismus. Ihre Überlegungen basieren auf der Kontrolltheorie nach Sampson und Laut (1993), nach der soziostrukturelle Merkmale der Familie zu abweichendem Verhalten führen können. Zwischen September und Dezember 1999 wurde in den 8. bis 10. Klassen an Kölner und Freiburger Schulen eine Schülerbefragung zum Thema Jugenddelinquenz (MPI-Schulbefragung) durchgeführt. Dunkake führt nach der Operationalisierung der familiären Strukturmerkmale eine bivariate und multivariate Analyse der Daten dieser Untersuchung durch. Die Analyse ergab beispielsweise, dass geringe elterliche Kontrolle ein Risikofaktor für Schulweigerung ist.

In ihrem dritten Beitrag geht Dunkake weiter dem Einfluss von Familie auf Schulabsentismus nach. Dieses Mal beziehen sich ihre Überlegungen auf die Anomietheorie von Merton (1968) und den Konzepten des sozialen und kulturellen Kapitals von Coleman und Bourdieu. Die fünf Mertonschen Anpassungstypen überträgt sie auf das Schulschwänzen und leitet für den Typen des Innovators („aktives Schulschwänzen“) ihre Hypothesen ab. Durch die Erweiterung der Anomietheorie um eine Handlungstheorie und die Ergänzung der Anomietheorie auf der Mesoebene folgen weitere Hypothesen. Die PISA 2000-Studie dient Dunkake nach der Operationalisierung der Variablen als Grundlage zur Überprüfung der Hypothesen mittels einer multivariaten Analyse. Ein Ergebnis dieser Analyse war beispielsweise, dass der Einfluss des sozioökonomischen Status auf den Großteil der Merkmale des sozialen und kulturellen Kapitals hoch signifikant ist.

Mit dem Einfluss der Peers auf Schulabsentismus setzt sich Samjeske in ihrem Beitrag auseinander. Ihre Überlegungen basieren wie auch bei Weißbrodt auf der Theorie der sozialen Kontrolle von Hirschi (1969), da diese Theorie soziale Beziehungen des Individuums, insbesondere deren Strukturen und Qualitäten, in den Fokus nimmt. Wie Dunkake in ihrem zweiten Beitrag verwendet auch sie die Daten aus der MPI-Schulbefragung. Nach der Operationalisierung der Bindungsarten untersucht sie zum einen die Unterschiede von Schulverweigerern zu anderen Schülern hinsichtlich allgemeiner Merkmale der Freundschaftsbeziehungen und zum anderen überprüft sie ihre Hypothesen. Eine Bindung an Freunde, die selber schwänzen, so ein Ergebnis, stellt einen wichtigen Einflussfaktor auf die Entstehung von Schulverweigerung dar.

Für Frings, die den vorletzten Beitrag des Bandes verfasst hat, stellt sich die Frage, ob Delinquenz eine mögliche Folge von Schulabsentismus sei. Delinquenz definiert sie als spezielle Subkategorie von Devianz, da es sich dabei um eine Abweichung von kodifizierten Strafrechtsnormen handelt. Da Schulschwänzen eine Ordnungswidrigkeit darstellt, will Frings dieses Verhalten als deviantes und nicht als delinquentes Verhalten verstanden wissen. Ihre Hypothesen leitet sie aus Modellen zur Sozialen Kontrolltheorie, Anomietheorie und Subkulturtheorie ab. Als Datengrundlage verwendet sie die MPI-Schulbefragung. Nach der Operationalisierung der zentralen Konstrukte Schulschwänzen/Schulverweigerung und Delinquenz führt Frings bivariate und multivariate Analysen durch. Dabei zeigte sich u. a., dass Schulverweigerer im Vergleich zu Schulschwänzern das größte Delinquenzrisiko haben. Nach Frings bedarf es weiterer Forschungsarbeiten zum Zusammenhang von Schulschwänzen und Delinquenz, da Beides für die Prävention umfassenderer Erklärung bedarf.

Abschließend fasst Wagner die Ergebnisse des Bandes kurz zusammen, indem er auf den aktuellen Forschungsstand eingeht und auf bestehende Forschungsdefizite hinweist. Zum Beispiel ist es immer noch schwierig über das Ausmaß des Schulschwänzens genaue Aussagen zu treffen. Gründe hierfür liegen v.a. in den unterschiedlichen Operationalisierungen und der Begründung der Schwellenwerte. Wagner stellt in diesem letzten Beitrag Überlegungen für weitere empirische Untersuchungen an. Er würde beispielsweise die Erhebung des Schulbesuchsverhaltens durch die Befragung der Schüler der Befragung der Eltern oder Lehrer vorziehen. Des Weiteren weist Wagner auf Maßnahmen zur Verminderung und Vermeidung von Schulabsentismus hin, wie zum Beispiel die Erstellung von Schulstatistiken über die Fehlzeiten der Schüler.

„Ohne eine theoretisch angeleitete empirische Forschung, die sich großer und repräsentativer Datensätze bedient, kann dem Schulschwänzen weder durch Prävention noch durch Intervention sinnvoll und aussichtsreich begegnet werden“ (239) schreibt Wagner über den Zusammenhang von Forschung und Praxis. Dem ist voll und ganz zuzustimmen. Für die weitere Schulabsentismusforschung in der Soziologie, wie sie in diesem Band beispielhaft aufgezeigt wurde, und in anderen wissenschaftlichen Disziplinen sollte dieser Satz von Wagner maßgebend sein. Wenn auch nicht viele neue Erkenntnisse hinzugekommen sind, so weiß man am Ende des Bandes, welche bekannten Ergebnisse zuverlässig sind und welche nicht. Damit wird dieser Band seinem Anspruch gerecht. Bei der Auseinandersetzung mit dem Phänomen Schulabsentismus bezüglich Ausmaß, Ursachen und Folgen sollte dieser Band daher nicht fehlen.

Ein Hinweis zum Schluss: Auch wenn sich die Autorinnen und Autoren um das Verständnis ihres Bandes deutlich bemüht haben, so wäre es doch von Vorteil, wenn der Leser über sozialwissenschaftliche Kenntnisse, insbesondere aus der empirischen Sozialforschung verfügt. Für die Praktikerinnen und Praktiker, die die Präventionsmaßnahmen umsetzen sollen, insbesondere für Lehrerinnen und Lehrer, wären diese Kenntnisse im Speziellen zum Lesen dieses Bandes und im Allgemeinen für das Lesen von Ergebnissen aus empirischen Studien notwendig. In dem Fehlen dieser Kenntnisse und damit der Beschränkung des Zugangs zum vorliegenden Band wird jedoch ein allgemeines Defizit in der Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern deutlich, welches die Verwertung von Forschungsergebnissen für die Praxis erschwert.
Susann Reinheckel (Gießen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Susann Reinheckel: Rezension von: Wagner, Michael (Hg.): Schulabsentismus, Soziologische Analysen zum Einfluss von Familie, Schule und Freundeskreis. Weinheim/München: Juventa 2007. In: EWR 8 (2009), Nr. 1 (Veröffentlicht am 04.02.2009), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978377991696.html