EWR 16 (2017), Nr. 3 (Mai/Juni)

Thomas Spiegler
Erfolgreiche Bildungsaufstiege
Ressourcen und Bedingungen
Weinheim / Basel: Beltz Juventa 2015
(366 Seiten; ISBN 978-3-7799-3316-8; 39,95 EUR)
Erfolgreiche Bildungsaufstiege Die Genese von sozialen oder geschlechtlichen Disparitäten im Bildungserfolg – insbesondere beim Hochschulzugang – hat in der bildungssoziologischen Forschung der letzten zwei Dekaden eine prominente Stellung. Seit ungefähr 10 Jahren lässt sich, mutmaßlich als Reaktion auf den Starken Fokus auf Misserfolge und Diskriminierungserfahrungen in Bildungslaufbahnen, ein Interesse an Bildungsaufstiegen und Bildungserfolgen von potentiell benachteiligten Bevölkerungsgruppen beobachten [1]. Auf bildungspolitischer Seite findet sich zudem eine Entsprechung in der BMBF-Qualifizierungsinitiative „Aufstieg durch Bildung“, welche ihrerseits durch die scientific community reflektiert wird [2].

In diesem Horizont entstand die Arbeit von Thomas Spiegler. Sie nimmt als Ausgangsirritation u.a. die an Koversionserzählungen erinnernde Beschreibung von Bildungsaufstiegen, „bei denen sich der ‚Bildungsferne‘ zur Bildung ‚bekehrt‘“ (13). Im Fokus der Untersuchung stehen Stipendiat_innen der Studienstiftung des Deutschen Volkes, deren Eltern keinen akademischen Abschluss haben und damit als Bildungsaufsteiger angesehen werden. Sie setzt sich zum Ziel „herauszuarbeiten, auf welche Art und Weise solche Bildungsaufstiege zustande kommen“ (12) – also die „Grundzüge einer Theorie des Bildungsaufstiegs“ (231) zu skizzieren.

Die Untersuchung gliedert sich in drei Teile. Teil I liefert eine thematische Einleitung, zentrale Aspekte zu Theorie und Empirie von Bildungsaufstiegen und sozialen Disparitäten im Bildungserfolg. Zudem wird eher kurz auf die Methodik der Studie eingegangen. Teil II des Buches liefert zuerst eine kurze Darstellung des Analysemodells entlang dessen drei Typen und Subtypen von Bildungsaufstiegen skizziert werden. In den darauf folgenden Kapiteln werden die drei Haupttypen von Bildungsaufstiegen (Expeditionsteilnehmer, Backpacker und Auswanderer) differenziert entlang des empirischen Materials besprochen. Der zweite Teil wird mit einem zusammenfassenden Kapitel abgeschlossen, welches die Entstehung von Bildungsaufstiegen unter Bedingungen einer differenziellen Ressourcenausstattung behandelt. Der Teil III der Untersuchung fokussiert dann mit einem konsequent mit Bourdieu argumentierenden Instrumentarium Fragen von Bildungsaufstiegen und ihrer sozialräumlichen Dimension sowie die Habitusformationen der Stipendiat_innen. Zudem rückt der Teil auch Muster von Wahrnehmungen und Deutungen der Stipendiat_innen ins Zentrum. Im letzten Kapitel werden Wege der Ermöglichung von Bildungsaufstiegen und damit zusammenhängend auch Schlussfolgerungen für eine Politik der Begabtenförderung diskutiert.

In den theoretischen Erörterungen geht der Autor auf zwei zentrale Stränge ein. Er unterscheidet zwischen Theorien differierender Entscheidungen und Theorien differierender Sozialisation und beleuchtet dabei unterschiedliche Spielarten von Rational-Choice Modellen und Befunde der schichtspezifischen Sozialisationsforschung. Diese Ausführungen sind differenziert, insbesondere gemessen daran, dass der Autor zum Fazit kommt, dass die bisherigen Theorien nicht in adäquater Weise zur Erklärung von Bildungsaufstiegen herangezogen werden können. Zu einem ähnlichen Schluss kommen die Ausführungen zur Geschichte der Bildungsmobilitätsforschung in Deutschland, wie auch die Darstellungen zum internationalen Forschungsstand.

Aus der methodischen Beschreibung wird klar, dass die Untersuchung auf 58 narrativen Interviews mit Stipendiat_innen basiert, welche sich auf die jeweiligen Bildungslaufbahnen und das Zustandekommen des „Aufstiegs“ konzentriert. Die Ergebnisdarstellung erweckt den Eindruck, dass ein inhaltsanalytisches Verfahren zur Interviewauswertung genutzt wurde, auch wenn dies an keiner Stelle genauer expliziert wird. Die mangelnde methodische Transparenz erstreckt sich auch auf das Verfahren, wie der Autor zur Typologie der Bildungsaufstiege kommt. „In einem Wechselspiel zwischen quantitativer heuristischer Analyse [gemeint sind hier Clusteranalysen, J.K.] und der Kontrastierung dieser Ergebnisse mit den qualitativen Daten entwickelte sich in einem mehrstufigen Prozess die […] Typologie des Bildungsaufstiegs“ (84). Es erschließt sich der Leserschaft bis zuletzt nicht, weshalb der methodische Teil nicht ebenso klar einem qualitativen Forschungsparadigma verpflichtet ist, wie die restlichen Teile der Untersuchung, was einen etwas unschönen Schatten auf die dargestellte Typologie und deren Beschreibung wirft.

Im zweiten Teil des Bandes wird sehr detailliert die am empirischen Material entwickelt Typologie von Bildungsaufstiegen ausgebreitet. Sie basiert auf zwei Prämissen. Für die Realisierung von Bildungsaufstiegen werden die drei Aufstiegsbedingungen Können, Wollen und Dürfen vorausgesetzt. Damit sind schulische Leistungen und Fähigkeiten, Bildungsaspirationen resp. motivationale Aspekte und Möglichkeitsräume resp. familiäre Bildungsorientierungen gemeint. Alle drei Bedingungen müssen laut Spiegler erfüllt sein, damit sich ein Bildungsaufstieg vollzieht, wobei die Art des Aufstiegs zudem durch die differenzielle Ausstattung mit Aufstiegsressourcen verbunden ist. Dies ist die zweite Prämisse. Der Typus Expeditionsteilnehmer ist bereits zu Beginn der Schullaufbahn mit allen drei Aufstiegsbedingungen ausgestattet und realisiert durch eine hohe Leistung und hohe Motivation die hohen elterlichen Aspirationen. Der Typus Backpacker weist ebenfalls hohe Leistungen und Motivationen auf, wobei das familiäre Umfeld eher indifferent dem Bildungsaufstieg gegenübersteht. Der Typus Auswanderer – der in drei Subtypen (fernwehgetriebener, verzögerter und verkannter) gegliedert ist – zeichnet sich dadurch aus, dass die Möglichkeitsräume stark eingeschränkt sind und die familiäre Bildungsorientierung dem Aufstieg gegenüber ablehnend ist.

Der Autor unternimmt damit den ambitionierten Versuch eine Theorie des Bildungsaufstiegs zu entwerfen (231ff), wobei sich Aufstiegslaufbahnen auf einem Kontinuum vollziehen, das sich zwischen den zwei Polen „Bildungsaufstieg aufgrund der Familie“ und „Bildungsaufstieg trotz Familie“ aufspannt.

Im dritten Teil der Studie löst sich der Autor wieder von der Typologie und diskutiert dann u.a. Wahrnehmungs- und Deutungsmuster der Stipendiat_innen im Kontext der Aufnahme in die Studienstiftung und geht – im sehr lesenswerten Kapitel 11 – differenziert auf habituelle Passungsverhältnisse bei der Erschließung neuer Räume und Bewältigungsformen habitueller Differenzen ein.

Der große Gewinn von Spieglers Untersuchung liegt eindeutig im eng am Interviewmaterial entwickelten Theorieentwurf von Bildungsaufstiegen, welche im Gegensatz zu vielen bisherigen Untersuchungen Aspekte der sozialen Herkunft, der Bildungsorientierung des Elternhauses und bildungsförderlicher Praktiken differenziert beleuchtet. Ebenso finden sich einige Ausführungen, welche verbreitete Interpretationsnarrative hinterfragen. So widersprechen beispielsweise die Ausführungen zu habituellen Differenzen zum Herkunftsfeld deutlich dem Mythos, dass Bildungsaufstiege zwangsläufig mit einer Distanzierung vom familiären Herkunftsmilieu einhergehen – wie es etwa die kritisierte und dennoch verbreitete These kulturell bedingter Defizite von Migrant_innen nahelegt.

Daneben müssen zwei Kritikpunkte erwähnt werden. Erstens bleiben mit Blick auf die methodischen Ausführungen zur Typenbildung viele Fragen zum Vorgehen resp. dem impliziten Verständnis des hier verfolgten aber nicht explizierten mixed-methods-Ansatzes offen. Zweitens ist es bedauerlich, dass die Daten nicht genutzt wurden um die eingangs zitierten Rational-Choice-Modelle weiterzuentwickeln, obwohl dieses Potenzial seit einiger Zeit insbesondere qualitativen Daten zugesprochen wird [3].
Zusammenfassend handelt es sich, mit den genannten Abstrichen, um eine lesenswerte Untersuchung, welche bei weiteren Entwicklungsversuchen einer Theorie des Bildungsaufstiegs Beachtung verdient.

[1] Beispiele dafür sind u. a.: Raiser, U.: Erfolgreiche Migranten im deutschen Bildungssystem – es gibt sie doch: Lebensläufe von Bildungsaufsteigern türkischer und griechischer Herkunft. Münster: LIT 2007.

El-Mafaalani, A.: BildungsaufsteigerInnen aus benachteiligten Milieus. Habitustransformation und soziale Mobilität bei Einheimischen und Türkeistämmigen. Wiesbaden: Springer VS 2012.

Stamm, M. / Leumann, S. / Kost, J.: Erfolgreiche Migranten. Ihr Ausbildungs- und Berufserfolg im Schweizer Berufsbildungssystem. Münster: Waxmann 2014.

[2] Als Beispiel: Heid, H.: Aufstieg durch Bildung? Zu den Paradoxien einer traditionsreichen bildungspolitischen Parole. Pädagogische Korrespondenz 40, 5-24. 2009.

[3] Brüderl, J.: Die Überprüfung von Rational-Choice-Modellen mit Umfragedaten. In:
Diekmann, A. / Voss, T. (Hrsg.): Rational-Choice-Theorie in den Sozialwissenschaften.
Anwendungen und Probleme. München: Oldenbourg 2004, 163-180.
Jakob Kost (Bern)
Zur Zitierweise der Rezension:
Jakob Kost: Rezension von: Spiegler, Thomas: Erfolgreiche Bildungsaufstiege, Ressourcen und Bedingungen. Weinheim / Basel: Beltz Juventa 2015. In: EWR 16 (2017), Nr. 3 (Veröffentlicht am 30.05.2017), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978377993316.html