EWR 15 (2016), Nr. 3 (Mai/Juni)

Dieter Isler
Vorschulischer Erwerb von Literalität in Familien
Erkundungen im Mikrokosmos sprachlicher Praktiken und Fähigkeiten von 5- und 6-jährigen Kindern
Weinheim / Basel: Beltz Juventa 2016
(168 S.; ISBN 978-3-7799-3338-0; 29,95 EUR)
Vorschulischer Erwerb von Literalität in Familien Im aktuellen wissenschaftlichen Diskurs gewinnt der ethnografische Zugang in der Erforschung der frühen Kindheit immer mehr an Bedeutung. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf der Sprache bzw. auf dem Sprachgebrauch der Vorschulkinder. Während die quantitativen Forschungsansätze sprachliche Fähigkeiten in Form von Sprachproduktion und -produkten messen, konzentrieren sich qualitative, insbesondere ethnografische Ansätze auf den sprachlichen Alltag und die sprachlichen Praktiken der Kinder. Durch den längeren Aufenthalt im Forschungsfeld und die fortlaufende Beobachtung des eigenen und „fremden“ Handelns eröffnet der ethnografische Zugang neuen Erkenntnisgewinn auf der Mikroebene. Eine besondere Stärke der ethnografischen Forschungsstrategie besteht in ihrer Methodenpluralität und -flexibilität. Durch die Wahrnehmung der Perspektiven von verschiedenen Akteurinnen und Akteuren wird die (sprachliche) Realität rekonstruiert. Selten steht aber die Elternperspektive im Mittelpunkt der ethnografischen Forschung [1] und dementsprechend fehlen Erkenntnisse darüber, wie der sprachliche Alltag von Familien gestaltet ist und welche literalen Praktiken Vorschulkinder im familiären Kontext ausüben. Mit seiner Monographie trägt Dieter Isler zum Schliessen dieser Forschungslücke bei und leistet einen wesentlichen Beitrag zur Diskussion über literale Familienkulturen und ihre Bedeutung für den Erwerb der sprachlichen Fähigkeiten von 5- und 6-jährigen Kindern.

In einer inhaltlichen Einführung stellt der Autor die Ausgangslage seiner Untersuchung vor und erläutert den zentralen Begriff literale Praktiken und Fähigkeiten, die sowohl konzeptionell schriftliche als auch mündliche Sprachhandlungen, den Gebrauch von Symbolen und Schrift sowie die Objektivierung der Sprache als Gegenstand beinhalten (9). Im Weiteren wird auf den Unterschied der Kommunikationsbedingungen und der Literalität im Bereich der Familie und der Schule eingegangen. Die Herausarbeitung dieses Unterschieds erscheint insbesondere bei Islers bedingter Übertragung der Erkenntnisse aus dem Feld der Familie auf den schulischen Kontext als relevant.

Kapitel 2 wird der Erläuterung des in der Forschung uneinheitlich verwendeten Begriffs Literalität gewidmet. Dabei definiert der Autor sein Literalitätsmodell mit fünf Dimensionen (realitätsbezogene, fiktionale, weitere „schulnahe“ Sprachhandlungen, medial schriftlicher Sprachgebrauch sowie Objektivierung der Sprache) als soziale Praxis nach der kulturwissenschaftlichen Konzeption von Barton [2]. Dieses Modell gilt in der vorliegenden Studie als theoretische Grundlage bei der Untersuchung und Erfassung von Literalität. Da das sprachliche Handeln in den dargestellten theoretischen Konzepten eine Schlüsselrolle innehat, verwendet der Autor den wissenssoziologischen Ansatz des kommunikativen Konstruktivismus (19) als methodologischen Rahmen. Dementsprechend werden über die sprachlichen Mittel hinaus möglichst auch alle anderen Mittel der Interaktion bei der Analyse berücksichtigt.

Kapitel 3 gibt eine wertvolle detaillierte Beschreibung des aktuellen Forschungsstandes in Bezug auf familiäre Rahmenbedingungen und literale Fähigkeiten, Angebote und Praktiken als Repertoires sowie Praktiken als Diskursmuster. Zunächst werden die Ergebnisse vor allem quantitativer und longitudinaler Studien aus dem europäischen Raum (Deutschland, Schweiz, Grossbritannien) aber auch aus den USA diskutiert. Aufgrund der Ergebnisse folgert der Autor, dass in den dargestellten Studien vor allem die rezeptiven, lokalen, dialogischen Sprachfähigkeiten untersucht wurden, während der konzeptionell und medial schriftliche Sprachgebrauch unberücksichtigt blieb (28). Diesen Anspruch sollen die vom Autor referierten ethnografisch ausgerichteten Studien erfüllen, die literale Angebote und Praktiken als Repertoires untersuchen. Im Anschluss stellt der Autor Arbeiten dar, die familiäre Interaktionen im Fokus haben. Allerdings weist er darauf hin, dass in seiner eigenen Studie nicht die Interaktionen zwischen Kindern und ihren Eltern sondern Interaktionen zwischen Kindern und den Forschenden im Zentrum stehen. Isler verweist zudem auf neue Erkenntnisse der Arbeiten mit interaktionsanalytischen Zugängen, bei denen das elterliche Handeln stärker ins Zentrum rückt. Die ausführliche Beschreibung zahlreicher Studien gibt einen umfassenden Überblick über die aktuelle Forschungslandschaft, gleichzeitig geraten aber durch dieses Vorgehen Aspekte, die für die vorliegende Studie besonders relevant sind, aus dem Blickfeld. Hilfreich sind hierbei die jeweiligen Zusammenfassungen am Ende jedes Teilkapitels, in denen der Autor die zentralen Ergebnisse der vorgestellten Studien in mehreren Punkten bündelt.

Die Fragestellung und das Forschungsdesign werden im Kapitel 4 diskutiert. Isler widmet sich den Fragen zu familiären Rahmenbedingungen, literalen Familienkulturen sowie den literalen Fähigkeiten der Kinder in familiären Kontexten und in der schulischen Erhebungssituation. Darüber hinaus sind die Bezüge zwischen den familiären Rahmenbedingungen und den literalen Fähigkeiten der Kinder von Forschungsinteresse. Gewählt wurde der ethnografische Zugang, um auf die Mikroprozesse von sprachlichen Praktiken und Fähigkeiten vertieft eingehen zu können. Die Grundlage der Analyse bilden Daten aus teilnehmenden Beobachtungen sowie aus Audioprotokollen und Fotos. Zusätzlich wurden Leitfadeninterviews mit den Eltern und den Kindergartenlehrpersonen sowie Lesestanderhebungen mit den jeweiligen Kindern durchgeführt.

Im Kapitel 5 stellt der Autor die theoretischen und methodologischen Ansätze der Datenerhebung und -auswertung dar. Die Lesenden werden Schritt für Schritt in das äusserst transparente primäre (Inhalts-, Gattungs- und Sequenzanalyse) und sekundäre Auswertungsverfahren (fallinterne und fallübergreifende Vergleiche) eingeführt. Das deduktiv hergeleitete Kategoriensystem mit 30 induktiven Feinkategorien, welches in der Auswertung eine zentrale Rolle spielt, wird in Kapitel 6 übersichtlich und nachvollziehbar dargestellt.

Exemplarisch für die untersuchten vier bildungsorientierten mittelständischen Familien steht die Einzelfallanalyse des Mädchens Jana im Mittelpunkt des Ergebnisteils (Kapitel 7). Anhand der Befunde kann ein umfassendes Bild der Charakteristik des literalen Angebots der Familie und der literalen Fähigkeiten von Jana im Kontext dieser Familie und in schulnahen Situation erstellt werden. Die Besonderheit von Islers Analyse besteht im multiperspektivischen und multimodalen Vorgehen, bei dem die Perspektive des Kindes und die seiner Eltern durch unterschiedliche methodische Zugänge berücksichtigt werden. Über die literalen Praktiken von Janas Familie hinaus bekommen die Lesenden eine differenzierte Momentaufnahme des sprachlichen Alltags eines mehrsprachigen Kindes.

Im Kapitel 8 werden die wichtigsten Ergebnisse aus weiteren drei Familien einbezogen und zusammengefasst sowie diese im Hinblick auf die Fragestellung interpretiert. Die fallübergreifende Analyse zeigt einen deutlichen Unterschied in den literalen Praktiken und Fähigkeiten der einzelnen Kinder, der sich insbesondere in Beziehungskonstellationen zwischen den Kindern, ihren Eltern und Geschwistern, in ihrer Nutzung von Medienangeboten sowie in ein- oder mehrsprachigen familiären Sprachsituation äusserten. Des Weiteren wird hier auf die umfangreiche Dissertationsschrift hingewiesen, in der sich die detaillierte Darstellung der Auswertungen von den drei Fallbeispielen befindet.

Abschliessend (Kapitel 9) diskutiert der Autor ausgewählte Ergebnisse der Studie. In Bezug auf die literalen Praktiken und Fähigkeiten der 5- und 6-jährigen Kinder spielen die Eltern- und Geschwisterkonstellationen eine bedeutende Rolle. Obwohl die Familien einen vergleichbaren sozioökonomischen Status aufweisen, zeigen die literalen Familienkulturen ein äusserst heterogenes Bild. Gelebte Mehrsprachigkeit innerhalb der Familie erweist sich als Potential für den Erwerb literaler Fähigkeiten des jeweiligen Kindes. Zwar entsprechen diese fallübergreifenden Ergebnisse auf den ersten Blick den Erwartungen der Lesenden, allerdings liefert die fallinterne Analyse eine facettenreiche Darstellung des familiären sprachlichen Mikrokosmos. In Bezug auf den Abbau von Bildungsungleichheit folgert der Autor anhand seiner Erkenntnisse, „dass der Erwerb umfassender und differenzierter literaler Fähigkeiten nicht von einer „bildungsbürgerlichen“, buchorientierten und medienkritischen Familienkultur abhängig ist“ (153).

Mit Blick auf die Triangulation der Ergebnisse muss angemerkt werden, dass auf die detaillierte Fallanalyse zu den weiteren drei Familien aus Platzgründen verzichtet wurde (Kapitel 8). Ohne die ersichtliche Datenbasis und -analyse wird jedoch die Interpretation der zusammengefassten Ergebnisse erschwert. In diesem Sinne müssen die Lesenden eigentlich die für dieses Buch als Grundlage dienende Dissertationsschrift einbeziehen, um die triangulierten Ergebnisse nachzuvollziehen. Im Vergleich zum umfangreichen Forschungsstand und zur ausführlichen Darstellung der Auswertungsmethode erscheinen die fallinternen und fallübergreifenden Analysen weniger gewichtet. Ausgeklammert wurde die in der ethnografischen Forschungsstrategie bedeutsame Reflexion der Forscherrolle. Gerne hätte man hier darüber gelesen, nicht zuletzt deshalb, da die Interaktionen zwischen den Kindern und dem Forschenden einen zentralen Gegenstand der Untersuchung bildeten.

Die Studie von Dieter Isler ist dennoch in mehrerlei Hinsicht für den wissenschaftlichen Diskurs bedeutend. Die ethnografische Perspektive bei der Erschliessung der Literalität in Familien einerseits und die aufschlussreichen Resultate einer fundierten und multiperspektivischen Forschungsarbeit andererseits bilden meines Erachtens die Stärken der vorliegenden Arbeit. Während sich der erste Teil des Buches durch seine inhaltliche Dichte eher an einer akademische Leserschaft orientiert, bildet der zweite Teil durch die reichen praxisrelevanten Daten aus der Einzelfallanalyse eine wichtige Diskussionsgrundlage in der Aus- und Weiterbildung von Lehrpersonen.

[1] Neumann, S.: Unter Beobachtung. Ethnografische Forschung im frühpädagogischen Feld. Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation (ZSE) 2013, 33 (1), 10-25.

[2] Barton, D.: Literacy. An introduction to the ecology of written language. Malden M.A.: Blackwell 2007.
Edina Krompàk (Basel)
Zur Zitierweise der Rezension:
Edina Krompàk: Rezension von: Isler, Dieter: Vorschulischer Erwerb von Literalität in Familien, Erkundungen im Mikrokosmos sprachlicher Praktiken und Fähigkeiten von 5- und 6-jährigen Kindern. Weinheim / Basel: Beltz Juventa 2016. In: EWR 15 (2016), Nr. 3 (Veröffentlicht am 25.05.2016), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978377993338.html