EWR 18 (2019), Nr. 5 (November/Dezember)

Barbara Dippelhofer-Stiem
Sind Arbeiterkinder im Studium benachteiligt?
Empirische Erkundungen zur schichtspezifischen Sozialisation an der Universität
Weinheim / Basel: Beltz Juventa 2017
(170 Seiten; ISBN 978-3-7799-3490-5; 29,95 EUR)
Sind Arbeiterkinder im Studium benachteiligt? Als Mitarbeiterin der gemeinnützigen Organisation ArbeiterKind.de habe ich das Buch von Barbara Dippelhofer-Stiem mit großem Interesse gelesen. Barbara Dippelhofer-Stiem untersucht in ihrer empirischen Sozialstudie eine Kernfrage unserer Arbeit, nämlich die Frage nach den Auswirkungen der sozialen Herkunft auf die Erfahrungswelt von Studierenden während ihres Studiums und an der Universität. Dabei stützt sie sich vor allem auf die bundesweiten Daten des 12. Konstanzer Surveys (www.uni-konstanz.de/studierendensurvey). Da das Thema als weitgehend blinder Fleck in der Forschungslandschaft erscheint, ist die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema von hoher Relevanz.

Die Studie gliedert sich in 5 Kapitel. Während in Kapitel 1 und 2 der Bezugsrahmen und die Theoretischen Annäherungen beschrieben werden, folgt in Kapitel 3 ein Abriss über die Methodik. Kapitel 4 beschäftigt sich schließlich konkret mit der Fragestellung, bevor im letzten Kapitel die Ergebnisse zusammengefasst werden. Die Ausgangsthese stammt bereits aus den 1960er Jahren und wurde von Ralf Dahrendorf in seinem Beitrag über "Arbeiterkinder an deutschen Universitäten" formuliert. Er forderte damals ein Bürgerrecht auf Bildung und gerechte Chancen für sozial benachteiligte Gruppen. Dippelhofer-Stiem macht zunächst deutlich, welche Schwierigkeiten aufgrund unterschiedlicher Begrifflichkeiten bestehen, und, was noch wichtiger ist, wie schwer es ist, aufgrund der Komplexität sozialer Faktoren vergleichbare Schlüsse zu ziehen. So sind die Kategorie "Soziale Herkunft" und deren komplexe Einflüsse auf Zugänge zum Studium wie Erfahrungen im Studium schwer zu messen. Es existieren unterschiedliche methodische Vorgehensweisen allein innerhalb der standardisierten Ansätze, aber auch zwischen den standardisierten und nicht standardisierten Ansätzen.

Die wissenschaftliche Literatur zeigt, dass bereits im Vorfeld eines Studiums, in Kindergarten und Schule Herkunftsunterschiede deutlich werden und die Herausbildung des Subjekts beeinflussen, bis hin zu der Tatsache, dass Arbeiterkinder deutlich seltener eine Gymnasialempfehlung erhalten als Kinder aus akademischen Familien. Genannt wird hier u.a. auch der zentrale Impulsgeber Bourdieu, der zusammen mit Passeron die bildungssoziologische Theorie maßgeblich geprägt hat und die Arbeiter- und Bauernkinder von den Kindern der gebildeten Klasse abgegrenzt hat [1]. Das kulturelle Kapital des Elternhauses ist entscheidend: "Die Mechanismen der Reproduktion von Ungleichheit scheinen wesentlich darauf zu beruhen, dass Schule implizit das schon voraussetzt, was sie eigentlich lehren soll." [2] Der erfolgreiche Abschluss des Gymnasiums kann in diesem Zusammenhang als Bildungsaufstieg gelten. Die Anpassungsleistung, die am Gymnasium erbracht werden musste, wird im Studium erneut notwendig, da die unterschiedlichen sozialen Muster und der Habitus der unterschiedlichen sozialen Milieus sich nicht vollständig in der Schule angleichen.

Die Antworten aus den standardisierten Fragebögen des Surveys stützen laut Dippelhofer-Stiem die oben referierten Aussagen aus der Literatur. [3] Sie zeigen in der Phase des Übergangs von der Schule zum Studium, dass der Notenschnitt von Arbeiterkindern schlechter ausfällt als der von Akademikerkindern. Fehlendes kulturelles, aber auch finanzielles Kapital, das für Nachhilfe oder Sprachaufenthalte im Ausland erforderlich ist, macht sich hier bemerkbar. Entsprechend ist auch die Haltung der Arbeiterkinder an der Schwelle zur Universität nicht von Selbstbewusstsein und Entscheidungssicherheit geprägt, sondern von Verunsicherung. Das faktische Übergangsverhalten weist hingegen wenig Unterschiede zwischen den Milieus auf. Arbeiterkinder beziehen häufiger BAföG, werden aber auch von dem Elternhaus unterstützt und finanzieren sich durch Nebenjobs wie die Angehörigen der Mittelschicht auch. Der Wunsch nach Unabhängigkeit vom Elternhaus und dem Sammeln von beruflicher Erfahrung zeichnet alle Gruppen gleichermaßen aus.

Wenig überraschend ist auch die Erkenntnis, dass bei der Wahl des Studienortes ökonomische Aspekte eine große Rolle spielen. Die Nähe zur Herkunftsfamilie gibt Arbeiterkindern Stabilität und ist finanziell eher umsetzbar. Aufschlussreich ist im Ergebnis, dass ein Studium für Arbeiterkinder weniger als Entfremdung von der Herkunftswelt empfunden wird, wie das in vergleichbaren Untersuchungen festgestellt wurde. Stattdessen vermögen Arbeiterkinder offenbar, einen doppelten Habitus zu etablieren, d.h. sie entwickeln die Fähigkeit, sich in zwei unterschiedlichen „Welten“ zu bewegen. Erfreulich ist darüber hinaus, dass Arbeiterkinder gerne Studierende sind und sich an der Hochschule und mit den Beratungs- und Betreuungsangeboten gut aufgehoben fühlen, also ihre Lebenssituation trotz mancher Widrigkeiten positiv bewerten und ihre Entscheidung, ein Studium aufzunehmen nicht bereuen.
Eine größere Distanz dieser Gruppe zur Hochschulwelt zeigt sich in einer geringer ausgeprägten Kontaktgestaltung gegenüber wissenschaftlichen MitarbeiterInnen und Lehrenden. Auch fordern Kinder aus nichtakademischen Familien deutlich stärker Praxisbezug in den Lehrinhalten, gleichzeitig erscheint ihnen der Aufwand und Zeitdruck für Prüfungen zu hoch. Versagensängste und Angst vor Prüfungen sind laut der Studie von Dippelhofer-Stiem eklatant ausgeprägter unter Arbeiterkindern.

Im Resümee werden noch einmal die wichtigsten Ergebnisse formuliert und Anregungen für weitergehende Maßnahmen in Politik und Hochschule gegeben. Die Ausgangsfrage, ob Arbeiterkinder im Studium benachteiligt sind, lässt sich dabei nicht eindeutig mit Ja oder Nein beantworten, schlussfolgert Dippelhofer-Stiem. Im Kern entwickelt sich das Arbeiterkind im Spannungsfeld von sozialer Zugehörigkeit einerseits und individueller Entfaltung andererseits. An der Hochschule gibt es auch in einigen Punkten keine oder nur graduelle Unterschiede in den Studienerfahrungen unterschiedlicher sozialer Gruppen, in anderen Bereichen treten sie dagegen deutlicher hervor. Akademische Werte wie Persönlichkeitsbildung und Fachkompetenz werden von Arbeiterkindern gleichermaßen anerkannt, auch wenn Tugenden wie Fleiß, Ordnung und Anstrengung in dieser Gruppe noch stärker zum Tragen kommen als bei Kindern aus akademisch geprägtem Milieu. Unterschiede lassen sich in der Integration und Kommunikation feststellen. Arbeiterkinder sind distanzierter gegenüber dem Unikosmos, identifizieren sich weniger mit ihrem Fach und können sich eher einen Fachwechsel oder gar den Wechsel zu einer beruflichen Ausbildung vorstellen. Kontakte zum universitären Mittelbau oder zu Mitstudierenden finden seltener statt. Deutlich schlechter positioniert sind Arbeiterkinder im Durchschnitt in zwei Bereichen. Zum einen hat der Berufs- und Praxisbezug eine höhere Bedeutung für Arbeiterkinder, ein Wunsch, den das Hochschulangebot häufig nicht bietet. Zum anderen wird der zeitliche und inhaltliche Aufwand des akademischen Lernens bis hin zu Prüfungssituationen als sehr belastend erlebt. Auch beim Thema Lernstrategie verfügen Angehörige dieser Gruppe im Durchschnitt über weniger Kompetenzen des Planens, des Lernens und der Konzentration als Studierende aus akademischen Familien. Besonders auffällig sind die Unterschiede auch in dem wirtschaftlichen Druck, der Arbeiterkinder gedanklich auch über den Studienabschluss hinaus zu beschäftigen und zu belasten scheint. Hier werden deutliche Verbesserungen bei der Studienfinanzierung gewünscht. Insgesamt schließt sich hier der Kreis, der mit den theoretischen Schriften von Bourdieu [4] und Dahrendorf [5] seinen Anfang genommen hat. Es bleibt auch die Erkenntnis, dass die grundlegenden Probleme der damaligen Zeit immer noch bestehen.

Die Ergebnisse der Studie bestärken die Relevanz von Praxiskonzepten, wie sie von ArbeiterKind.de seit vielen Jahren realisiert werden. Die Einrichtung spezifischer Angebote für diese Gruppe als Ergänzung zu dem bestehenden Beratungs- und Unterstützungsangebot erscheint sinnvoll. Auch die Verbesserung der Informationen im Vorfeld, d.h. in Schulen und beim Übergang zum Studium trägt zu mehr Chancengerechtigkeit bei. Der öffentliche Diskus soll im Interesse der Zielgruppe weitergeführt und die Sensibilisierung der Verantwortlichen an den Hochschulen für die schichtspezifische Komponente verstärkt werden.

Nach Ansicht der Autorin wären die zahlreichen relevanten Erkenntnisse aus der Untersuchung von Dippelhofer-Stiem in tiefergehenden und ausdifferenzierten Analysen weiter zu fundieren. Dabei wäre v.a. deutlich zu machen, dass Erfahrungen von Benachteiligung im Studium nicht immer schichtbegründet sind, da sich soziale Gruppen nicht immer homogen verhalten. Entsprechend differenzierte Analysen setzen schwierige und aufwändige Formen der Datenerhebung voraus. Eine lohnenswerte Lektüre vor allem für diejenigen, die mit Gleichstellungsfragen an Hochschulen beauftragt sind.

[1] Bourdieu, Pierre / Passeron, Jean-Claude: Die Illusion der Chancengleichheit. Untersuchungen zur Soziologie des Bildungswesens am Beispiel Frankreichs. Stuttgart: Klett 1971.
[2] Ditton, Hartmut: Der Beitrag von Schule und Lehrern zur Reproduktion von Bildungsungleichheit. In: Becker, R. / Lauterbach, W. (Hrsg.): Bildung als Privileg. Erklärungen und Befunde zu den Ursachen der Bildungsungleichheit. Wiesbaden: Springer VS 2010, 247-275.
[3] 12. Studiensurvey der Konstanzer AG Hochschulforschung 2013; eigene Berechnungen, zitiert nach: Dippelhofer-Stiem 2017, S. 82
[4] Bourdieu, Pierre / Passeron, Jean-Claude: Die Illusion der Chancengleichheit. Stuttgart: Klett 1971.
[5] Dahrendorf, Ralf: Bildung ist Bürgerrecht. Hamburg: Nannen-Verlag 1965.
Evamarie König (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Evamarie König: Rezension von: Dippelhofer-Stiem, Barbara: Sind Arbeiterkinder im Studium benachteiligt?, Empirische Erkundungen zur schichtspezifischen Sozialisation an der Universität. Weinheim / Basel: Beltz Juventa 2017. In: EWR 18 (2019), Nr. 5 (Veröffentlicht am 18.12.2019), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978377993490.html