EWR 18 (2019), Nr. 3 (Mai/Juni)

Nora von Dewitz/ Henrike Terhart/ Mona Massumi (Hrsg.)
Neuzuwanderung und Bildung
Eine interdisziplinäre Perspektive auf Übergänge in das deutsche Bildungssystem
1. Auflage
Weinheim: Beltz Juventa 2018
(379 S.; ISBN 978-3-7799-3630-5; 34,95 EUR)
Neuzuwanderung und Bildung Der Sammelband „Neuzuwanderung und Bildung“ der Herausgeberinnen Nora von Dewitz, Henrike Terhart und Mona Massumi kann im Kontext der nach 2014 publizierten Fachliteratur zum Thema Flucht und Bildung aus rassismuskritischer Perspektive als besonders differenziert und reflektiert in Bezug auf gesellschaftliche Differenzordnungen hervorgehoben werden. Die darin gesammelten Beiträge sind nicht nur wissenschaftlich auf einem hohen Niveau und an aktuelle – vor allem qualitative – Forschungsdaten rückgebunden, sie sind auch durchweg mit einer kritisch-reflexiven Haltung verbunden, die Migration nicht lediglich als zu problematisierende Herausforderung, sondern als Normalität und Bereicherung ins Zentrum der Betrachtung rückt.

Der Band ist in vier Abschnitte unterteilt. Alle vier Abschnitte enthalten jeweils vier bis fünf thematisch zugeordnete Beiträge, die sich interdisziplinär aus erziehungs-, sprach-, politik-, geschichts- und sozialwissenschaftlichen sowie psychologischen und sprachdidaktischen Perspektiven den jeweilig fokussierten Teildimensionen des Themenkomplexes um Neuzuwanderung und Bildung nähern. Die Auseinandersetzung bezieht sich dabei nicht ausschließlich auf geflüchtete Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene, sondern allgemein auf den Neu- oder Seiteneinstieg in das Bildungssystem nach erfolgter Migration. Auch wenn der Band einen Schwerpunkt beim Komplex der Fluchtmigration hat, legen die Herausgeberinnen Wert darauf, die Notwendigkeit eines grundsätzlich veränderten institutionellen Umgangs mit Migration zu betonen, der sich nicht nur spezifisch auf das Thema Flucht bezieht. Ein solcher beinhaltet insbesondere eine Veränderung der Haltung der pädagogisch Verantwortlichen in Bezug auf jene neu Zugewanderten, die erstmals eine pädagogische Institution in Deutschland besuchen. Diese sind nicht als ein in das Normalsystem zu integrierendes Problem zu markieren. Vielmehr sind Bildungsinstitutionen in der Verantwortung, sich auf eine Weise aufzustellen, dass sie in der Lage sind, die Heterogenität der Lernenden als etwas Selbstverständliches in jeglichem Unterricht zu berücksichtigen. Nur so können den Lernenden wertschätzende Lern- und Bildungsräume eröffnet werden, in denen sie zu respektierten und respektierenden Mitgliedern der Gesellschaft heranwachsen.

Im ersten Teil des Bandes geht es um die Aushandlungen und Diskurse, die den gesellschaftlichen Rahmen konstituieren, innerhalb dessen sich Kinder und Jugendliche im deutschen Bildungssystem bewegen. Hier wird zunächst in zwei Beiträgen der aktuelle Migrationsdiskurs in seiner Historizität bezogen auf die Einwanderung nach Deutschland eingeordnet (Isabell Diehm/ Frank-Olaf Radtke und Jochen Oltmer). Im dritten Beitrag werden dann die zentralen Begrifflichkeiten im Diskurs um Flucht und Bildung geklärt (Louis Henri Seukwa/ Roxana Dauer) und anschließend die mediale Repräsentation der geflüchteten Kinder und Jugendlichen diskursanalytisch untersucht (Gudrun Hentges/Gürcan Kökgiran). Im letzten Beitrag wird der Forschungsstand zur grammatischen und lexikalischen Entwicklung im frühkindlichen bilingualen Spracherwerb dargestellt (Helen Engemann).

Der zweite Teil des Bandes fokussiert auf die Biografien und Ressourcen der neu zugewanderten Kinder/Jugendlichen und jungen Erwachsenen. In Abgrenzung zu sonst in diesem Feld häufig anzutreffenden „Opferperspektiven“ geht es in diesem Abschnitt explizit darum, die Handlungsfähigkeit der Subjekte, über die nachgedacht wird, in den Mittelpunkt zu rücken. Dazu werden in zwei Beiträgen zunächst Resilienz und Diskontinuitäten im schulischen Übergang diskutiert (Michael Fingerle und Joachim Schröder/ Louis Henri Seukwa) sowie in den folgenden beiden Beiträgen literale Kompetenzen und Ressourcen der Jugendlichen thematisiert (Christine Czinglar und Amra Havkic/ Olga Dohmann/ Madeleine Domenech/ Constanze Niederhaus).

Im dritten Teil liegt der Schwerpunkt auf Interaktion und Unterricht, wobei hier aus sprachdidaktischer Perspektive (berufs-)schulische Lernräume in den Blick genommen werden. Die Auseinandersetzungen beginnen in den ersten beiden Beiträgen mit der bisher noch unzureichend bearbeiteten Frage danach, wie Mehrsprachigkeit als Ressource im monolingual deutschen Unterricht aller Fächer eingesetzt werden kann (Hans-Joachim Roth und Sara Fürstenau/ Heike Niedrig), im anschließenden Beitrag werden Beispiele für den Unterricht in Vorbereitungsklassen gegeben – wobei die Einrichtung der Vorbereitungsklassen als solches überaschenderweise nicht in Frage gestellt wird (Theresa Birnbaum/ Göntje Erichsen/ Isabel Fuchs/ Bernt Ahrenholz). Nachdem dann sprachliche Bewältigungsstrategien von Lernenden in beruflichen Ausbildungen untersucht werden (Elisabetta Terrasi-Haufe), schließt dieser dritte Teil mit einem Beitrag zu Überzeugungen und Praktiken von Lehrkräften zu Heterogenität im Unterricht. Dabei wird konsequent darüber nachgedacht, wie Lehrende in ihrer schulischen Praxis dazu beitragen können, einen inferiorisierenden Umgang mit Schüler*innen zu vermeiden. Nur eine reflektierte Praxis, die sich mit Fragen der Schlechterstellung von Schüler*innen auseinandersetzt, leistet in dieser Einstellung einen aktiven Beitrag zu einer Reduktion von Diskriminierung (Terhart/von Dewitz).

Der vierte Abschnitt, Organisation und Strukturen, wirft Schlaglichter sowohl auf die Organisation des Unterrichts für neu Zugewanderte selbst als auch auf die Rolle der Eltern, der ehrenamtlich Tätigen sowie auf Bildungsnetzwerke. Der Abschnitt beginnt damit, anhand einer umfassenden Studie, welche die Berliner Willkommensklassen in den Blick nimmt, die problematischen Legitimierungsmuster aufzudecken, mit denen Segregation und Ausschließung im Bildungssystem begründet werden (Juliane Karakayali/ Birgit zur Nieden). Die folgenden zwei Beiträge fokussieren auf die Familien der Kinder und Jugendlichen, wobei der erste eine differenzierte Berücksichtigung der Diversität der Eltern für die pädagogische Praxis fordert (Alexei Medvedev) und der zweite die Migrations- und Familienforschung einem internationalen Vergleich unterzieht. Konkretisiert wird dies am Beispiel von Forschung über Migrationsbewegungen aus Griechenland nach Deutschland und Kanada (Argyro Panagiotopoulou/ Lisa Rosen). Der Grad des professionellen Handelns von Ehrenamtlichen in der Bildungsarbeit mit Geflüchteten wird im vorletzten Beitrag genauer beschrieben (Dieter Nittel/ Christian Spahn/ Bastian Hodapp) und im letzten Text die Kooperation unterschiedlicher Institutionen im Rahmen von Bildungslandschaften diskutiert (Nina Kolleck/ ZolaKappauf).

Der Sammelband umfasst damit in einem breiten Umfang relevante Fragen zum Umgang mit Neuzuwanderung im deutschen Bildungssystem. Ergänzend wäre ein Beitrag zur historischen Einbettung von Rassismus und Linguizismus aus postkolonialer Perspektive interessant gewesen, da sich bei dem zitierten Interviewmaterial immer wieder kulturalisierende und rassifizerende Haltungen durch die pädagogisch Verantwortlichen finden. Auch ein Beitrag, der auf den pädagogischen Umgang mit Traumatisierungen rekurriert sowie ein Einbezug von anderen Heterogenitätskriterien wie Gender oder Be_hinderungen wären eine spannende Ergänzung gewesen. Insgesamt eignet sich der Sammelband in seiner Breite, Differenziertheit und Aktualität jedoch hervorragend sowohl für pädagogisch Verantwortliche, die im Bildungssystem bereits Kinder, Jugendliche und Erwachsene in ihren Übergängen begleiten als auch für Studierende, die sich für eine solche Arbeit umfassend vorbereiten wollen. Er ist unbedingt lesens- und empfehlenswert.
Alisha M.B. Heinemann (Bremen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Alisha M.B. Heinemann: Rezension von: Dewitz, Nora von / Terhart, Henrike / Massumi, Mona (Hg.): Neuzuwanderung und Bildung, Eine interdisziplinäre Perspektive auf Ăśbergänge in das deutsche Bildungssystem 1. Auflage. Weinheim: Beltz Juventa 2018. In: EWR 18 (2019), Nr. 3 (Veröffentlicht am 31.07.2019), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978377993630-1.html