EWR 21 (2022), Nr. 1 (Januar)

Simone Kosica
Im Dazwischen bewegen
Ein phänomenologischer Zugang zur Schulraumforschung
Weinheim/Basel: Beltz Juventa 2020
(308 S.; ISBN 978-3-7799-5482-8; 31,99 EUR)
Im Dazwischen bewegen Wenn man das Verhältnis von Kindern zur Schule (oder auch anderen Einrichtungen wie Kindertagesstätten) betrachtet, so darf nicht übersehen werden, dass diese Institutionen für die Kinder zunächst fremd sind. Sie treten in jeweils neue komplexe Räume ein, die auf verschiedenste Weise ansprechen, Anforderungen stellen, Orientierung verlangen, verlocken oder verwirren. Sprichwörtlich geht es darum, seinen Platz zu finden, oder anders gesagt, Orte für sich zu gewinnen und sich selbst im Verhältnis zu diesen Räumen zu begreifen. Versteht man diese Orientierung, wie in Forschungen zu Schulräumen häufig, nicht nur als Aneignung eines im Grunde schon vorkonturierten Raumes oder als Adressierung in damit verbundene Praktiken, dann rückt die Erfahrung von Kindern in den Mittelpunkt der Forschung.

Simone Kosica geht in der aus ihrer Dissertation hervorgegangenen phänomenologisch orientierten Forschungsstudie „Im Dazwischen bewegen“ der Frage nach, wie kindliche Erfahrungen von Schulraum und Architektur beschreibbar werden. „Wie lassen sich Schulraumerfahrungen von Kindern als Erfahrung reflektieren?“ (16). Im Zentrum der Studie stehen Prozesse der „Sinnbildung“ im Kontext von alltäglichen Schulereignissen (33). Dass solche Prozesse sich in einem „Dazwischen“ vollziehen (107 ff.), meint für Kosica, dass Erfahrung nicht nur als subjektiver Akt des Kindes verstanden werden kann. In den Blick gerät ein Geschehen, in dem sich Raum und Selbst in vielerlei Hinsicht verschränken und zugleich erst konstituieren (259). In ihrer Studie zitiert Kosica den Phänomenologen Bernhard Waldenfels: „Die Polarität von Spontaneität und Gewöhnung verkörpert zwei Momente der Weltstruktur: dass wir durch Strukturen, Wiederholungen eine Welt erwerben, und dass wir zugleich für neue Möglichkeiten offen sind, die über diese Regeln und Strukturen hinausführen“ (254; [1]). Das Dazwischen der Erfahrung beschreibt für die Autorin daher ein Feld – zum einen zwischen Institution, Architektur und Selbst und zum anderen zwischen Eingewöhnung und darüber hinausweisende Möglichkeitsräume (106; 218). Darum werden in phänomenologischer Zugangsweise systematisch aktuell gängige Perspektiven eingeklammert, seien es die Übernahme eines immer schon selbstverständlich strukturierten Raumes (15), die Vorstellung eines Kindes als welt-konstruierenden Akteur, oder das Konzept einer relationalen Agency zur Adressierung in sozialen Praktiken.

Kosicas Studie bewegt sich in einer heterogenen Tradition phänomenologischer Forschungen zur Raumerfahrung (ex. Heidegger, Merleau-Ponty, Bollnow, Waldenfels), zu Räumen und Dingen in der Kindheit (ex. Lippitz, Meyer-Drawe, Stenger, Stieve u. a.), zu Räumen des Lernens (ex. Westphal, Agostini u. a.) und zu Schulräumen im Besonderen (ex. Langeveld, Rittelmeyer u. a.). Diese phänomenologischen Zugänge, darin liegt über das eigene konkrete Vorhaben hinaus ein besonderer Gewinn der Studie, werden von der Autorin im Verhältnis zu einer Vielzahl weiterer raum- und architekturtheoretischer Bezüge systematisch aufgearbeitet. Den wesentlichen Gesichtspunkt der Forschung stellt die Leiblichkeit des Kindes und damit ein Grundmotiv phänomenologischen Denkens dar. Aus der Deskription oft unscheinbarer Momente der leiblichen Wahrnehmung entwickelt Kosica in Anknüpfung an Waldenfels die raumtheoretische Perspektive eines „responsiven“ Verhältnisses (109) zum Raum als einem komplexen Aufforderungsgeschehen.

Der hohe Wert der Studie liegt nicht nur in dem, was die Autorin aufzeigt, sondern auch darin, wie sie den methodologischen Weg dahin ausarbeitet, der geradezu eine Art phänomenologischer Empirie zum Ausdruck bringen will. Der Zugang zu Erfahrungen der Kinder wird darüber gesucht, dass sie der Forscherin in Führungen ihre Schulräume zeigen. Diese Führungen wurden methodisch detailliert entwickelt und erprobt – nicht um vorgedachte Leitkategorien abzufragen, sondern gerade um eine ethnographische Offenheit gegenüber unscheinbaren, fast nebensächlich erscheinenden Momenten, die die Kinder mitteilen, zu gewinnen. Verbunden mit einem ausgearbeiteten videographischen Ansatz richtet sich die Aufmerksamkeit der Forscherin nicht nur darauf, was die Kinder erzählen, zeigen und deuten, sondern auch wie sie sich zum Raum bewegen, scheinbar nebensächliche Dinge und Phänomene berühren oder in unerwartete Gespräche mit sich selbst geraten. Die Führungen sind eingebettet in eine längere Feldforschung und knüpfen darin an die phänomenologische Utrechter Schule und den Ansatz der teilnehmenden Erfahrung Ton Beekmans an.

Im Sinne einer Philosophie am Beispiel und in methodischen Schritten der Reduktion, Deskription und Variation arbeitet Kosica insbesondere fünf „Phänomene“ (190) heraus, die für eine Charakterisierung der Schulraumerfahrung bedeutsam werden: ein „Wohnen“ (191-220) als Sich-Beheimaten in schulräumlichen Ordnungen; „Grenz- und Schwellenerfahrungen“ (221-240), im Sinne einer sinnlich leiblichen Aufmerksamkeit für Übergänge und Grenzen schulischer Räume; das „Um-, Ein- und Freiräumen“ (240-258) von Kindern als Erfahrung von Differenzen in situativen, produktiven Abweichungen; und schließlich das Phänomen des „Widerscheins“ (258-275) im Sinne einer Erfahrung seiner selbst in einer Art Spiegelung durch schulische Räume und Architekturen. Besonders eindrücklich sind dabei die ausgewählten und genau analysierten Szenen der Studie – wenn z. B. ein Kind eine fast schon beklemmende Identifikation mit den sich in jedem Gegenstand äußernden genauen Anforderungen an ihr Verhalten im Klassenzimmer spiegelt, wenn Kinder Winkel, Bücher, Dinge und Spiele zeigen, die für sie Eigenorte und -zeiten in der Schule markieren, wenn Kinder zum Ausdruck bringen, wie dieser Lebensort ambivalent zwischen „Wärme“ und ständigen (Selbst-)Anspruch wechselt oder wenn sie im „Widerschein“ mit einem ihnen lieb gewordenen Ort (268) über ihr eigenes Größerwerden und ihr sich veränderndes Verhältnis zu diesem Raum und zu sich nachdenken. Auffällig wechseln die Kinder in ihren Erzählungen und Gebärden zwischen präreflexiven Bewegungen und sich situativ ergebenden reflexiven Momenten. Sie vergewissern sich geradezu selbst ihres Ortes in schulischen Räumen.

Es sind nicht nur diese eindringlichen Erzählungen, welche die Studie wertvoll machen, sondern ebenso ihre systematische Methodologie. In ihr schlägt Kosica Brücken zwischen Feldforschung und Phänomenologie, auch wenn nicht jede Zusammenfassung phänomenologischer Begriffe und jede Abgrenzung zu anderen Forschungsmethodologien gelingt. Das überzeugende Angebot dieser Forschung liegt insbesondere in dem genauen phänomenologischen Mitvollzug, den sie anbietet – in der im wahrsten Sinne teilnehmenden Erfahrung, die die Lesenden mitzieht. So zeigt die Autorin, wie umfassend Schulen Lebensorte für Kinder sind. Deren Räume konstituieren durch ihre Architekturen und Dingwelten Erfahrungen und fordern zugleich zu immer wieder neuen Umdeutungen heraus – zwischen pädagogischen Ordnungen und einem sie überschreitenden Raum des „Möglichen“ und „Außerordentlichen“ (107, in Anknüpfung an Waldenfels). Damit ist Kosicas Studie auch eine Antwort auf politische Programmatiken, in denen der Raum häufig lediglich als vorgegebene Strukturqualität in den Blick gerät und unbefangen und in jeder Hinsicht positiv besetzt, vorgedachte Lernprozesse anregt.

Im Abschlusskapitel ihrer Studie deutet die Autorin den letzten sich geradezu aufdrängenden Schritt einer genauen Konturierung von Schule als „sinnlich-leiblichem Bildungsraum“ (283) nur an. Mehr ausarbeiten ließe sich (oder lässt sich in weiteren Studien vielleicht noch), wie sich das Verhältnis zwischen pädagogisch institutionellen Ordnungen, bewegter Leiblichkeit der Kinder und affizierender Architektur auf ein räumliches Bildungsverständnis hin weiterdenken ließe. Auf dem Weg dorthin bietet Simone Kosica in ihrer Systematik und ihrem Wechsel zwischen Phänomenologie und dicht beschriebener beispielhafter Szenerie eine unverzichtbare Ergänzung zur Schulraumforschung an.

[1] Waldenfels, B. (2000). Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes (S. 207). Frankfurt M.: Suhrkamp.
Claus Stieve (Köln)
Zur Zitierweise der Rezension:
Claus Stieve: Rezension von: Kosica, Simone: Im Dazwischen bewegen, Ein phänomenologischer Zugang zur Schulraumforschung. Weinheim/Basel: Beltz Juventa 2020. In: EWR 21 (2022), Nr. 1 (Veröffentlicht am 19.01.2022), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978377995482.html