EWR 20 (2021), Nr. 3 (Mai/Juni)

Dietrich Benner
Umriss der allgemeinen Wissenschaftsdidaktik
Grundlagen und Orientierungen fĂĽr Lehrerbildung, Unterricht und Forschung
Weinheim / Basel: Beltz Juventa 2020
(336 S.; ISBN 978-3-7799-6021-8; 29,95 EUR)
Umriss der allgemeinen Wissenschaftsdidaktik Der Begriff „Wissenschaftsdidaktik“ bezeichnet ein besonders wichtiges Feld didaktischen Handelns, wobei die explizite Diskussion und Konturierung dieses Begriffs in der wissenschaftlichen Literatur bisher nur fragmentarisch geblieben ist. Erstmals tritt der Begriff „Wissenschaftsdidaktik“ zwischen Mitte der 1960er und Mitte der 1970er Jahre im Kontext von Studienreformen und der Gründungen der Ruhr-Universität Bochum (1962) sowie der Universität Bielefeld (1969) auf. Mit dieser ersten Welle sind Namen wie Hans-Martin Saß (Bochum), Klaus Schaller (Bochum), Ludwig Huber (Bielefeld) und Hartmut von Hentig (Bielefeld) verbunden. Die Autoren waren an Fragen der Einheit von wissenschaftlicher Tätigkeit und der Vermittlung von Wissenschaft interessiert, an fachnaher Gestaltung von Didaktik und auch an der gesellschaftlichen Relevanz der Vermittlung von Wissenschaft. Ein zweites Mal tritt der Begriff „Wissenschaftsdidaktik“ erst wieder in der Zeit nach der Bologna-Reform auf, d. h. ab den 2000er Jahren. Dieses neue Interesse entstand vor dem Hintergrund wahrgenommener Spannungen zwischen einer Formalisierung und Straffung der (Bologna-)Studiengänge einerseits und dem Bildungsauftrag der Universitäten andererseits. Seitdem fand der Begriff wieder vermehrt Verwendung, beispielsweise in Texten von Ludwig Huber (Bielefeld), Wolfgang Nieke (Rostock) und Gabi Reinmann (Hamburg).

Mit seinem Buch „Umriss der allgemeinen Wissenschaftsdidaktik. Grundlagen und Orientierungen für Lehrerbildung, Unterricht und Forschung“ hat Dietrich Benner nun einen gewichtigen neuen Akzent für die Diskussion von Wissenschaftsdidaktik gesetzt. Dabei fällt auf, dass er an den vorstehenden Diskurs nicht unmittelbar bzw. nur sehr vereinzelt anschließt. Auch die von ihm fokussierte Bildungsphase ist eine andere: Seine allgemeine Wissenschaftsdidaktik zielt auf die Gestaltung schulischer Bildungsprozesse und schließt an dort zu verortende Diskurse um Wissenschaftspropädeutik an. In der Grundsätzlichkeit der Herangehensweise hat Benners Arbeit allerdings Bedeutung sowohl für die Schule als auch für die Hochschule und geht in ihrer Systematik über bisherige Arbeiten hinaus.

Für seinen Umriss baut Benner auf eigene Vorarbeiten seit den 1960er Jahren auf bzw. synthetisiert diese und ergänzt sie um neue Überlegungen. Ausgangspunkt ist im ersten Kapitel des Buches die Beschäftigung mit Meisterlektionen aus Antike und Moderne, die grundlegende Zusammenhänge von Lehr- und Lernbarkeit thematisieren. Am Anfang dieser Meisterlektionen steht Platons Höhlenerzählung und die Erkenntnis, dass die Veränderung von Perspektiven nicht von außen erzwungen werden kann, sondern sich nur vollzieht, wenn Lernende selbst ihren Blick umlenken und sich in Wechselwirkung mit der Welt auf Lernprozesse einlassen. Wie eine solche Umlenkung des Blicks bei Lernenden erreicht werden kann, zeigt Benner beispielsweise anhand von Sokrates, Rousseau und Dewey, die Schülerinnen und Schüler durch Fragen, Perspektivwechsel oder das Herbeiführen auch negativer Erfahrungen an die Grenze von Wissen und Nicht-Wissen bringen wollten.

Nach dieser Annäherung ordnet Benner im zweiten Kapitel systematisch zentrale Begriffe, die er aus der Beschäftigung mit den Meisterlektionen ableitet. Dies betrifft Erziehung und Bildung, Lehren und Lernen, positive und negative Erfahrungen sowie Kompetenz. Als wichtiges Motiv erscheint hierbei die Relevanz von Erziehung und Lehre, d. h. dass Lernen sich nicht allein als Prozess von Selbstbildung vollziehe, sondern dass Lernprozesse durch lehrenden und erziehenden Unterricht mit initiiert werden müssen. Eben dies sei der Bezugspunkt von Didaktik und wird damit auch zur Legitimation von Wissenschaftsdidaktik – denn auch der Umgang mit Wissenschaft und wissenschaftliches Denken sollten durch bewusste Lehre unterstützt werden.

Zu einer differenzierteren Betrachtung des Begriffs „Wissenschaft“ führt das dritte Kapitel, in dem unterschiedliche Paradigmen von herausgehobener wissenschaftstheoretischer Wirkung vorgestellt und u. a. in Hinblick auf Konsequenzen für Lehre und Lernen diskutiert werden. Dieser Überblick reicht vom teleologischen Paradigma über die szientifische Induktion bis zum kritischen Rationalismus sowie zu vertiefenden Konzepten von Hermeneutik, Phänomenologie und kritischer Theorie. Dieses Kapitel kann als eigentliches Herzstück des Buches betrachtet werden und ist auch mit Abstand das umfangreichste: Benner zeigt hier auf, dass Wissenschaft und Wissenschaftsdidaktik keineswegs als ein fixes Konstrukt im Rahmen einheitlicher Begriffe und Perspektiven verstanden werden können, sondern dass die Herangehensweise an Wissenschaft und darauf bezogene Didaktik je nach ihrem wissenschaftstheoretischen Ausgangspunkt unterschiedlich sind.

Im vierten Kapitel werden Lehrkonzepte vorgestellt, in denen ein didaktischer Ansatz an Wissenschaft bereits angelegt ist. Dies führt von Herbarts Unterrichtstheorie u. a. über geisteswissenschaftliche Lehrplantheorie hin zu bildungskategorialer Didaktik und der Didaktik des Zeigens. Benner stellt in diesem Kapitel jenseits der didaktischen Theorie auch dar, dass wissenschaftsdidaktische Fragestellungen noch bis in die 1960er Jahre in der Schulpolitik kaum Geltung hatten und dass wissenschaftspropädeutische Herangehensweisen in den Bildungsplänen erst danach an Bedeutung gewannen. So ist schließlich hergeleitet, dass Benner im fünften Kapitel selbst definierte Bausteine einer bildungs- und kompetenztheoretisch fundierten Wissenschaftsdidaktik vorstellt. Hier zeigt er u. a. auf, wie nach seiner Einschätzung unterschiedliche Paradigmen und Wissensformen in Unterricht einbezogen werden können und wie dabei eine „evaluative Trias“ von didaktischen Aufgaben, Testaufgaben und Prüfaufgaben mitzudenken sei. Umsetzungsbeispiele sowie ein Ausblick in die Gestaltung von Wissenschaftsdidaktik in Hochschulen runden das Buch ab.

Als Zielgruppe seines Buches nennt Benner Studierende der Erziehungs- und Bildungswissenschaften, angehende und praktizierende Lehrerinnen und Lehrer sowie alle, die sich darüber hinaus mit didaktischen Fragen beschäftigen. Er verweist dabei auf die Relevanz seiner Ausführungen insbesondere für den wissenschaftspropädeutischen Unterricht an Schulen. Für die genannte Leser/-innenschaft ist zu beachten, dass – wie Benner auch selbst im Vorwort schreibt – in diesem Buch kein praktischer Leitfaden oder Ratgeber für die Planung und Durchführung von konkretem Unterricht geboten wird. Es ist stattdessen ein Buch, das von seinen tiefgehenden theoretisch-konzeptionellen Ausführungen lebt. Sein Wert besteht darin, einen in dieser Hinsicht außerordentlich weiten Bezugsrahmen aufzuspannen. Leserinnen und Leser müssen Aufgeschlossenheit und auch Konzentration für eine solche Herangehensweise mitbringen.

Benner selbst nennt als Prüfkriterium für den Erfolg seines Versuchs, einen Umriss allgemeiner Wissenschaftsdidaktik zu schreiben, „ob von ihm Anregungen für die Weiterentwicklung der Wissenschaftsdidaktik zu einer mehrere Wissensformen verknüpfenden und Zusammenhänge von Lehren und Lernen untersuchenden Disziplin ausgehen werden“ (13). Tatsächlich sind diese beiden Aspekte diejenigen, welche nach der Lektüre am stärksten im Gedächtnis bleiben: Das Buch regt dazu an, die Blickwendung zur Wissenschaft durch Lehre bewusst zu gestalten und dabei die paradigmatische Vielfalt von Wissenschaft zu berücksichtigen.
Peter Salden (Bochum)
Zur Zitierweise der Rezension:
Peter Salden: Rezension von: Benner, Dietrich: Umriss der allgemeinen Wissenschaftsdidaktik, Grundlagen und Orientierungen fĂĽr Lehrerbildung, Unterricht und Forschung. Weinheim / Basel: Beltz Juventa 2020. In: EWR 20 (2021), Nr. 3 (Veröffentlicht am 07.07.2021), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978377996021.html