EWR 20 (2021), Nr. 5 (September/Oktober)

Bettina Ritter / Friederike Schmidt
Sozialpädagogische Kindheiten und Jugenden
Weinheim: Beltz Juventa 2020
(324 S.; ISBN 978-3-7799-6061-4; 34,95 EUR)
Sozialpädagogische Kindheiten und Jugenden Obwohl sich Sozialpädagogik sowohl theoretisch als auch praktisch vielfach mit Kindern und Jugendlichen beschäftigt, mangelt es in Disziplin und Profession vielerorts an einem reflexiv geschärften Begriff von Kindheit und Jugend. Umgekehrt beschäftigt sich die Kindheits- und Jugendforschung traditionell vielfach empirisch mit Kindheit und Jugend im Kontext sozialpädagogischer Institutionen und Organisationen, zeichnet dabei jedoch mitunter ein recht holzschnittartiges Bild von Sozialpädagogik. Dementsprechend ist ein vermehrter wechselseitiger Bezug zwischen Sozialpädagogik und Kindheits- und Jugendforschung, wie er im vorliegenden Band angeregt wird, längst überfällig. Diese Lücke wird nicht nur seit Jahren markiert [1], sondern auch durch einzelne Studien bereits produktiv bearbeitet. Daher ist es ein großes Verdienst von Bettina Ritter und Friederike Schmidt, im vorliegenden Band Beiträge von Wissenschaftler*innen zu bündeln, die sich im Schnittfeld der Forschungsfelder bewegen.

In ihrer Einleitung umreißen die Herausgeberinnen zunächst das Desiderat, gemäß dem „in den verschiedenen Analysen sozialpädagogischer Bezugnahmen auf Kinder und Jugendliche wie auch auf Kindheit und Jugend weitgehend unbestimmt [bleibt], wie Generationales im Horizont des Sozialpädagogischen relevant und, vice versa, wie Sozialpädagogik im Horizont des Generationalen bedeutsam wird“ (7–8). Weiter nehmen sie eine Systematisierung der empirischen Forschung zu Kindheit und Jugend in Kontext sozialpädagogischer Institutionen vor. Hiervon ausgehend wird in theoriesystematischer Absicht begründet, dass – erstens – Sozialpädagogik nicht nur auf Kindheiten und Jugenden reagiert, sondern selbst an deren Hervorbringung beteiligt ist, und dass sich – zweitens – auch Sozialpädagogik erst in Relation zu Kindheit und Jugend konstituiert und dementsprechend in ihrer Genese hiervon nicht zu trennen sei.

Die insgesamt 18 Einzelbeiträge des Bandes wurden vier Abschnitten zugeordnet. Im ersten Abschnitt sind grundlegende Beiträge zum Theorie- und Forschungsprogramm sozialpädagogischer Kindheiten und Jugenden versammelt. Der zweite Abschnitt widmet sich den Praktiken der Hervorbringung von Kindheiten und Jugenden in unterschiedlichen sozialpädagogischen Institutionen bzw. Organisationen (Kindertagesbetreuung, Hort und übergangsbegleitende Hilfen). Im dritten Teil finden sich Beiträge zu Perspektiven auf Kindheit und Jugend in der Sozialpädagogik einschließlich der Rekonstruktion des Blickes von jugendlichen Adressat*innen auf sich selbst. Im vierten Abschnitt werden schließlich wissenschaftliche und politische Konzeptionen von Kindheit und Jugend im Kontext von Kindertagesbetreuung und Jugendpolitik rekonstruiert.

Bettina Ritter und Friederike Schmidt legen einen sehr überzeugenden Band vor, dem eine breite Beachtung sowohl in der Kindheits- und Jugendforschung als auch in der Sozialpädagogik zu wünschen ist. Die versammelten Einzelbeiträge sind durchweg von hoher Qualität und bieten in der Summe einen guten Überblick über Forschungsstand und -perspektiven. Der Band zeichnet sich in der Gesamtschau dadurch aus, dass Beiträge aus unterschiedlichen Forschungsfeldern und traditionen (wie etwa der Forschung zu jugendlichen Careleavern, zum Kindergarten-Kind oder der Repräsentanz von Kindern im Kinderschutz) versammelt wurden, die alle einen klaren Gegenstandsbezug auf Kindheit und/oder Jugend im sozialpädagogischen Feld aufweisen und nicht beliebig zusammengesetzt wurden. Die von den Herausgeberinnen anvisierte Verhältnisbestimmung wird in den Einzelbeiträgen sowohl theoretisch als auch empirisch am Beispiel unterschiedlicher Institutionen und Organisationen der Sozialpädagogik vorgenommen, wobei die Kinder- und Jugendhilfe (und hier wiederum die Kindertagesbetreuung sowie die stationären Erziehungshilfen) nachvollziehbarer Weise einen deutlichen Schwerpunkt bildet. Insbesondere die gemeinsame Behandlung von Kindheit und Jugend in einem Band erweist sich als fruchtbar und es bleibt zu hoffen, dass der hier angeregte Dialog auch an anderer Stelle fortgeführt wird. Damit ließe sich auch über die additive Thematisierung heraus eine explizite Verhältnisbestimmung zwischen Kindheiten und Jugenden vornehmen. Instruktiv für weitere Forschungsarbeiten im Sinne der von den Herausgeberinnen skizzierten relationalen Perspektive wäre dann die systematische Rekonstruktion von Differenzen sowohl zwischen Kindheit und Jugend als auch zwischen unterschiedlichen Institutionen im sozialpädagogischen Feld in vergleichender Perspektive.

AbschlieĂźend seien noch zwei kritische Bemerkungen erlaubt.
(1) Die Herausgeberinnen verzichten weitgehend auf eine eigene Bestimmung dessen, was als Kindheit und Jugend verstanden wird. Auch wenn im Rekurs auf Honig und Andere überzeugend das (re-)konstruktionslogische Argument stark gemacht wird, gemäß dem sich das, was Kindheit bzw. Jugend ist, erst im Vollzug praktisch realisiert und es Aufgabe der Wissenschaft ist, diese Konstruktionsleistungen zu rekonstruieren, verweist allein schon der synonyme Gebrauch der Begriffe des „Generationalen“ sowie der „Lebensphase“ durch die Herausgeberinnen in der Einleitung zur Umschreibung des Gegenstandes darauf, dass auch dieses (re-)konstruktionslogische Argument eine eigene Positionierung erfordert.
Theoriekonzeptionelle Angebote aus der Kindheits- und Jugendforschung gäbe es hierzu reichlich und die Diskussion, ob Kindheit und Jugend als Generationen, Lebensphasen im Lebenslauf, Institutionen, Kulturen, diskursive Formationen etc. zu betrachten sind, werden bisweilen hoch kontrovers geführt. Da sich die Begrifflichkeiten und Konzepte in eben jener Pluralität auch in den Einzelbeiträgen wiederfinden, wäre es sinnvoll gewesen, diese, soweit das im Rahmen eines editierten Bandes möglich ist, zu systematisieren oder sie zumindest in ihrer Heterogenität und jeweiligen Angemessenheit für eine sozialpädagogische Theoriebildung zu reflektieren.

(2) Es fällt positiv auf, dass die Herausgeberinnen Kindheiten und Jugenden entgegen der sonst üblichen Verwendungsweise der Begriffe bereits im Titel prominent im Plural setzen. Dies begründen sie überzeugend mit der Heterogenität sozialpädagogischer Kindheiten und Jugenden angesichts der Pluralität der Lebenswirklichkeiten von Kindern und Jugendlichen sowie der Unterschiedlichkeit der sozialpädagogischen Reaktionen hierauf. Gleichwohl schlägt sich dieses Argument – mit Ausnahme einzelner Beiträge (wie bspw. dem von Scherr) – nicht systematisch in den Einzelbeiträgen nieder und es bleibt letztlich der*dem Leser*in überlassen, die im Band entfalteten Perspektiven auf ihre Diversität und Differenz hin einzuordnen.

Beide Anmerkungen sind jedoch nicht mit einer Kritik an der Qualität des sehr gelungenen Bandes zu verwechseln, insofern ihre systematische Bearbeitung über die Möglichkeiten einer herausgegebenen Schrift hinaus geht. In ihrer Gesamtheit eröffnen die Einzelbeiträge diese fruchtbaren Forschungsperspektiven für ein noch junges inter-und transdisziplinäres Feld, zu dessen weiterer Konstituierung die vorliegende Edition einen vielversprechenden Beitrag liefert.

[1] Betz, T. & Neumann, S. (2013). Kinder und ihre Kindheit in sozialpädagogischen Institutionen. Diskurs Kindheits- und Jugendforschung, 8(2), 143–148.
Florian EĂźer (OsnabrĂĽck)
Zur Zitierweise der Rezension:
Florian EĂźer: Rezension von: Ritter, Bettina / Schmidt, Friederike: Sozialpädagogische Kindheiten und Jugenden. Weinheim: Beltz Juventa 2020. In: EWR 20 (2021), Nr. 5 (Veröffentlicht am 25.10.2021), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978377996061.html