EWR 19 (2020), Nr. 1 (Januar / Februar)

Ruprecht Mattig
Wilhelm von Humboldt als Ethnograph
Bildungsforschung im Zeitalter der AufklÀrung
Weinheim/Basel: Beltz Juventa 2019
(361 S.; ISBN 978-3-7799-6088-1; 29,95 EUR)
Wilhelm von Humboldt als Ethnograph Wilhelm von Humboldt gilt als einer der wichtigsten Bildungstheoretiker ĂŒberhaupt. Als empirischer Bildungsforscher wurde er allerdings bisher kaum wahrgenommen. Dies, so zeigt die Studie von Ruprecht Mattig, lĂ€sst sich als ein folgenreiches VersĂ€umnis sowie Desiderat fĂŒr aktuelle ForschungszusammenhĂ€nge verstehen. Im Fokus des Buchs steht die Auseinandersetzung mit der Schrift „Die Vasken“, die Humboldt in den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts verfasst hatte, die jedoch erst im 20. Jahrhundert veröffentlicht und bis dato kaum rezipiert worden ist. In dieser Schrift setzt sich Humboldt mit seinen Beobachtungen der Basken auseinander, die er als besonders geeignet fĂŒr die Untersuchung der Bildung eines „Nationalcharakters“ ansah, welcher wiederum einen zentralen Aspekt menschlicher Bildung darstelle. Mattig arbeitet heraus, dass „Die Vasken“ auf unterschiedlichen Ebenen eine zentrale Bedeutung fĂŒr das VerstĂ€ndnis des Gesamtwerks Wilhelm von Humboldts haben: nĂ€mlich bezĂŒglich seiner bildungstheoretischen Überlegungen, im Hinblick auf das VerhĂ€ltnis von Theorie und Methode als auch im Kontext seiner bildungspolitischen und bildungsorganisatorischen AusfĂŒhrungen.

Das eingangs formulierte Anliegen ist die Rekonstruktion eines ethnographischen Suchbildes, das Humboldt seinen Beobachtungen der Basken zugrunde legt. Hierzu mĂŒssen, so Mattig, zum einen die Beobachtungen Humboldts analysiert werden, zum anderen aber auch seine (theoretische, politische und historische) Positionierung, die seinen Blick lenkt. Des Weiteren bedĂŒrfe es einer Einbettung in die zeitgenössischen wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskurse.

Den Einsatzpunkt fĂŒr diese komplexe Untersuchung bildet die Darstellung der bis dato gĂ€ngigen Humboldt-Bilder in der Humboldt-Rezeption (Kapitel 1). Hier sei zunĂ€chst das „klassische“ Humboldt-Bild zu nennen, das ihn als Schriftgelehrten einerseits und Bildungsreformer anderseits darstellt und gleichsam als ReprĂ€sentanten eines spezifisch deutschen Bildungsideals (30). Dieses Ideal werde oft als „Korrektiv gegenĂŒber utilitaristischen Tendenzen in der [aktuellen, A.W.] Empirischen Bildungsforschung“ (31) herangezogen. Andererseits gab und gebe dieses Bild auch Anlass zu Kritik, weil Humboldt wiederum eine absolute Empirielosigkeit unterstellt werde oder gar eine „Geistesaristokratie“ (Heinrich Roth) (33). Dieses Bild blendet also vollkommen aus, dass Humboldt selbst Bildungswirklichkeit untersucht hat. Mattig zufolge könne so gar nicht danach gefragt werden, welche empirischen oder auch methodischen Implikationen Humboldts bildungstheoretische Annahmen haben. Forscher (sic), die sich mit diesem Problem befasst haben, setzten sich zumeist mit Humboldts anthropologischen Konzept auseinander, welches er etwa im „Plan einer vergleichenden Anthropologie“ entworfen hat. Die Reiseberichte ebenso wie die Baskenstudie hingegen hĂ€tten bisher kaum Beachtung gefunden. Im zweiten Kapitel werden Humboldts anthropologische Überlegungen in den Kontext ihrer Zeit gestellt. So werden der geistes-, der sozial- und der kulturgeschichtliche Hintergrund skizziert und zu Humboldts Arbeiten ins VerhĂ€ltnis gesetzt. Humboldt mĂŒsse als Denker der AufklĂ€rung verstanden werden, der sich gleichwohl kritisch mit ihr befasst. Mit der AufklĂ€rung sei der Mensch als sich bildendes Wesen ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerĂŒckt. Dabei stellte sich die Frage, wie das ‚allgemein Menschliche‘ im Angesicht gesellschaftlicher PluralitĂ€t bestimmbar sein könnte. Ein zentraler Begriff ist der des Nationalcharakters (54). Er bietet die Möglichkeit, Vielfalt und Differenz nicht anhand von stĂ€ndischen Unterschieden zu definieren, sondern anhand von kulturellen, ethnischen und damals auch dezidiert rassistischen Merkmalen, die ein Volk in seiner Eigenheit ausmachen – und damit auch die diesem Volk zugehörigen Individuen. Humboldt verstehe den Nationalcharakter als eine „Kraft“, die sich frei entfalten können sollte (58) und die dem jeweiligen Volk eigen ist, ihm also nicht von außen angetragen werden kann. Im Gegenteil, Ă€ußere EinflĂŒsse wĂŒrden eher zu einer Entfremdung fĂŒhren. Damit sieht Mattig Humboldts VerstĂ€ndnis vom Nationalcharakter als dem von Rousseau formulierten nahe (60ff.). Es sei zentral, die ,UrsprĂŒnglichkeit‘ des Charakters zur Entfaltung zu bringen, wobei Vermischungen unterschiedlicher nationaler Charaktere problematisiert werden. Im Gegensatz etwa zu Kant gehe es Humboldt jedoch nicht um Ă€ußerliche Merkmale, wie die Hautfarbe, sondern um die ganzen Menschen, um ihr Wesen. Die meisten AusfĂŒhrungen zum Thema aus der Zeit sind theoretischer Art, empirische Studien finden sich kaum und wenn, dann erscheinen sie als „geradezu erschreckend simplifizierend, homogenisierend und stereotypisierend“ (72). Dies habe nicht zuletzt an der unzureichenden VerknĂŒpfung von Theorie und Empirie gelegen, wie Humboldt selbst feststellte. Vor diesem Hintergrund kann sein Werk insgesamt als Versuch gelesen werden, dieses Desiderat anzugehen. In seiner Forschung verknĂŒpften sich Literaturstudien, ethnographische Beobachtungen und die Reflexion der eigenen Reiseerfahrungen, in denen sich Humboldt selbst als liberaler, deutscher, bĂŒrgerlicher Intellektueller darstellt, der sich vor allem fĂŒr die mannigfaltige und höchste Bildung der unterschiedlichen Menschen und Nationen interessiert.

Diese Bildung sehe Humboldt nun im SpannungsverhĂ€ltnis zwischen AufklĂ€rung und Charakterbildung (Kapitel 3). Die AufklĂ€rung ziele vor allem auf die „Geistesbildung“ (93) und vernachlĂ€ssige dabei die körperlich-sinnlichen KrĂ€fte des Menschen, wobei Bildung fĂŒr Humboldt die Bildung aller KrĂ€fte zu einem Ganzen umfasse. Das Ganze bezeichne Humboldt als den Charakter des Menschen, der wiederum als „Eine“, als „ursprĂŒngliche“ Kraft gelte – und zwar sowohl fĂŒr das Individuum als auch fĂŒr die Nation. Wie man sich eine ideale Charakterbildung vorstellen könne, zeige Humboldt am Beispiel der alten Griechen (Kapitel 4). An ihnen lasse sich zeigen, dass es möglich sei, sowohl das je Eigene, das UrsprĂŒngliche bestmöglich auszubilden, als auch die geistigen KrĂ€fte höchstmöglich zu verfeinern. FĂŒr Humboldt habe sich die Frage gestellt, ob in seiner Gegenwart auch Beispiele fĂŒr derart ursprĂŒngliche und verfeinerte Charaktere zu finden sind. Dabei sei die zentrale Herausforderung, wie es möglich sei, zwischen dem „zufĂ€lligen“ und dem „wesentlichen“ Charakter zu unterscheiden, denn nur im wesentlichen Charakter könnten sich „Klarheit, Wahrheit und Freiheit des Denkens und Empfindens“ (170) entfalten. Es geht also darum, das Menschliche in seiner je spezifischen AusprĂ€gung und im Hinblick auf seine Bildungsmöglichkeiten zu erforschen und hierzu habe Humboldt ein elaboriertes Forschungsprogramm entwickelt und auch erprobt (Kapitel 5). Diese Methodologie bezeichnet Mattig als Erstellung bildender CharaktergemĂ€lde, welche eben ein umfassendes Literaturstudium zum jeweiligen Volk, dessen Beobachtung und auch den Vergleich zu anderen Völkern beinhalten. ZunĂ€chst wird gezeigt, dass Humboldt vor dem Hintergrund dieser Überlegungen Studien zu den Franzosen und den Spaniern durchgefĂŒhrt habe, die ihm verdeutlicht hĂ€tten, dass sie gerade nicht geeignet seien, um empirische Bildungsstudien durchzufĂŒhren, weil ihnen das ,UrsprĂŒngliche‘ lĂ€ngst abhandengekommen sei (Kapitel 6 und 7). Interessanterweise habe Humboldt „kaum explizite Darstellungen vom deutschen Charakter“ (166) vorgenommen. Im Gegensatz zu diesen Nationen erschienen Humboldt nun die Basken, auf die er im Rahmen seiner Frankreich- und Spanienreisen trifft, als idealer Forschungsgegenstand (Kapitel 8). Im Nationalcharakter der Basken (die bezeichnender Weise ja keinen Staat bilden) meinte Humboldt, die von ihm als zentral eingeschĂ€tzte UrsprĂŒnglichkeit vorzufinden, was er an der Sprache und der Geschichte festmachte. Die Sprache sei allen anderen europĂ€ischen Sprachen unĂ€hnlich und es habe kaum Vermischungen mit anderen Volksgruppen gegeben. Gleichzeitig habe Humboldt ein fortschrittliches Gemeinwesen und Politikmodell vorgefunden, das gleichsam Partizipation und Wohlstand ermögliche. Besonders hervor hebt Mattig, dass Humboldt die NĂ€he der unterschiedlichen StĂ€nde als zentral ansah, denn damit habe fĂŒr ihn die nationale und kulturelle IdentitĂ€t ĂŒber der stĂ€ndischen gestanden, was wiederum zur StĂ€rkung des Nationalcharakters beitragen wĂŒrde. Dies sei etwas, was Humboldt an Preußen und anderen deutschen Staaten kritisiert habe, wenn auch zurĂŒckhaltend. Dies stelle die zentrale Erkenntnis der Studie dar, die aber nicht in der Weise missverstanden werden dĂŒrfe, dass Humboldt fĂŒr die Aufhebung der StĂ€ndegesellschaft eingetreten wĂ€re. Ihm sei es um „Deseparierung“ gegangen, nicht aber um die Herstellung gleicher LebensverhĂ€ltnisse. In diesem Kapitel werden die Baskenstudien sehr umfassend und in Bezug auf das zuvor herausgearbeitete Suchbild Humboldts systematisiert. Im neunten Kapitel geht es um die Frage, ob und inwiefern Humboldts Erkenntnisse aus ethnographischen Forschungskontexten seine TĂ€tigkeit als preußischer Reformer beeinflussten. Mattig stellt auch hier noch einmal heraus, dass es fĂŒr Humboldt zentral gewesen sei, dass die unterschiedlichen StĂ€nde sich nahe, d.h. in stĂ€ndigem Austausch miteinander stehen – nicht zuletzt im Rahmen der Volksbildung. Nur so könne sich eine „Masse der Nation“ (301) bilden, die wiederum ein stabiles Fundament des aufgeklĂ€rten Staates sein könne. In seinen ersten Schriften habe Humboldt sich stark auf das Individuum bezogen, dass sich möglichst von der Masse abheben sollte. Aus den Beobachtungen im Baskenland schloss er, dass sich der individuelle Charakter nur in Einklang mit dem Nationalcharakter ausbilden und nur so zur Höherbildung der Nation beitragen könne. Allerdings zeige sich Humboldt in seinem SpĂ€twerk nicht mehr derart inspiriert, sondern vielmehr enttĂ€uscht, da er retrospektiv annahm, den Einfluss der christlichen Missionare im Baskenland unterschĂ€tzt zu haben (Kapitel 10). Zu dieser EinschĂ€tzung komme er ĂŒber die Auseinandersetzung mit dem Einfluss der Missionare auf die amerikanischen Ureinwohner*innen. Am Ende stellt Humboldt demnach also grundlegend in Frage, ob sich ihm bei den Basken tatsĂ€chlich die ‚UrsprĂŒnglichkeit‘ und ‚Wesentlichkeit‘ ihres Charakters gezeigt habe. Schließlich gibt das Buch einen knappen Ausblick auf mögliche ForschungsanschlĂŒsse, wobei sowohl Bezug auf die Humboldt- als auch die Bildungsforschung genommen wird.

Das Buch leistet damit einen wichtigen Beitrag zur Bildungsforschung. Einerseits werden neue Perspektiven darauf eröffnet, wie Bildung von Humboldt theoretisch gefasst wurde und wird, nĂ€mlich nicht nur als individueller Prozess, sondern immer auch als sozialer und kultureller, der nicht unabhĂ€ngig von der gesellschaftlichen Situation betrachtet werden kann – und dabei als ein Prozess, der die Entfaltung von ursprĂŒnglichen KrĂ€ften umfasst. Die Problematik einer solchen Orientierung an Figuren der ‚UrsprĂŒnglichkeit‘ oder des ‚Wesens‘ stellt Mattig explizit heraus. Dadurch wird eine Einordnung in weitergehende Diskurse, etwa postkolonialer Provenienz, im Ausblick dezidiert angeregt. Hieran schließt meines Erachtens auch die Frage an, ob Bildung etwa grundsĂ€tzlich im Anschluss an Humboldt als Transformation verstanden werden kann. Andererseits wird eindrĂŒcklich dargestellt, dass das VerhĂ€ltnis von Theorie und Empirie und damit auch von Methoden bereits im frĂŒhen 19. Jahrhundert thematisiert worden ist und dass diese RelationalitĂ€t ebenso Einfluss auf die Idee als auch die Praxis von Bildung (etwa im Hinblick auf die Organisation des Schulwesens) genommen hat. Hieraus ergibt sich die Notwendigkeit, das VerhĂ€ltnis von Bildungsforschung und Bildungspolitik genauer zu reflektieren.
Anke Wischmann (Flensburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Anke Wischmann: Rezension von: Mattig, Ruprecht: Wilhelm von Humboldt als Ethnograph, Bildungsforschung im Zeitalter der AufklĂ€rung. Weinheim/Basel: Beltz Juventa 2019. In: EWR 19 (2020), Nr. 1 (Veröffentlicht am 18.03.2020), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978377996088.html