EWR 20 (2021), Nr. 3 (Mai/Juni)

Sophie Domann
Gruppen Jugendlicher in der Heimerziehung
Weinheim / Basel: Beltz Juventa 2020
(198 S.; ISBN 978-3-7799-6202-1; 34,95 EUR)
Gruppen Jugendlicher in der Heimerziehung Die Bedeutung der Gruppe aus der Sicht von Kindern und Jugendlichen, die im Rahmen stationärer Hilfen zur Erziehung in Wohngruppen leben, wurde in der deutschsprachigen Forschung zu diesem Handlungsfeld bislang wenig berücksichtigt. Wie erleben junge Menschen ihre Ankunft und ihren Alltag in den nicht freiwillig gesuchten Gruppen? Sophie Domann untersucht diese soziale Konstellation unter dem Titel „Gruppen Jugendlicher in der Heimerziehung“ anhand von vier im Jahr 2014 erhobenen Gruppendiskussionen mit Jugendlichen. Das rund 200 Seiten umfassende und in 13 Kapitel gegliederte Buch ist die Veröffentlichung der Dissertation, mit der die Autorin 2018 an der Universität Hildesheim promoviert wurde. Die Datenerhebungen für die Studie erfolgten im Rahmen des Verbundprojekts „Ich bin sicher“ als Teil der Förderrichtlinie des BMBF „Sexuelle Gewalt in pädagogischen Kontexten“ (S. 51).

Ihr Erkenntnisinteresse fasst Domann in der Einführung in folgender, zweiteiliger Fragestellung: „Wie stellen sich Jugendliche einer Wohngruppe selbst als Gruppe her und wie zeigt sie sich nach innen und außen?“ (S. 7) und „Wie gehen sie mit Herausforderungen in dem Lebensumfeld der Wohngruppe und Heimerziehung um?“ (S. 8). Anschließend referiert Domann in den Kapiteln zwei bis vier den Forschungsstand zu Jugendlichen als Adressat:innen der Heimerziehung. Die Autorin skizziert Befunde zu Entwicklungsaufgaben und Herausforderungen der Jugendphase sowie zu Gruppenphasen und spezifiziert diese in Bezug auf den Rahmen stationärer Hilfen. Hier wären eine etwas ausführlichere Einordnung und inhaltliche Systematisierung der zusammengefassten Studienergebnisse hilfreich gewesen.

Domann arbeitet vor dem Hintergrund des Forschungsstands wesentliche Spannungsfelder heraus, in denen sich Jugendliche in der Heimerziehung in der Auseinandersetzung mit Peers bewegen mĂĽssen, wie beispielsweise die Bedeutung der anderen Bewohner:innen in der Phase des Ankommens, die Wirkung von Geschlechterbildern oder Konflikte und Gewalt im Wohngruppenalltag.

Nach überleitenden „Zwischenworte[n]“ (Kapitel fünf) führt Domann in Kapitel sechs ein in die Erhebungsmethode der Gruppendiskussion, die Ebene des damit erhobenen Materials sowie in die Analyseperspektive der Dokumentarischen Methode. Nach Hinweisen zur empirischen Analyse (Kapitel sieben) porträtiert Domann in Kapitel acht die vier Untersuchungsgruppen namens „Wand“, „Aktionstruppe“, „Wir & Wir“ und „Raucherinnen“. Die Namen verdichten Selbstbezeichnungen oder Diskussionsstränge, wie jeweils in den Gruppenportraits erläutert wird. So ist der Hintergrund der Gruppenbezeichnung „Wand“ eine Aufforderung der Fachkräfte der Wohngruppe an die Jugendlichen, wie eine „Wand“ zusammenzuhalten. In dieser Konstellation steht die Gruppe als Ganzes im Vordergrund in Abgrenzung zum pädagogischen Personal. Die Jugendlichen verstehen sich als Einheit und nehmen für Regelverstöße Einzelner Kollektivstrafen auf sich. Die Gruppenbezeichnung „Raucherinnen“ begründet sich aus der Schilderung des geteilten Hobbies des Rauchens durch die Diskussionsteilnehmer:innen. Rauchen fungiert hier, so Domann, als „ein verbindendes Element, eine verbotene und gemeinsame Aktion und gleichzeitig ein ungesundes Hobby“ (S. 97). Diese Gruppe weist in sich Hierarchien auf, strebt aber insgesamt nach Harmonie, der Einhaltung von Einrichtungsregeln und der Inkludierung neu ankommender Jugendlicher. Zu letzteren treten die Gruppenmitglieder durch ein ironisch gemeintes Aufnahmeritual, das aus der Aufforderung „Geh wieder“ besteht, in Kontakt. In den insgesamt vier Fallportraits fokussiert Domann auf die Orientierungen der einzelnen Gruppen und zeigt anschaulich divergente Praktiken und Strukturen am Material auf.

Hierzu zählen beispielsweise Hinweise, die Jugendliche anderen Gruppenmitgliedern zum Leben in der Wohngruppe geben, der geteilte Wunsch nach gemeinsamen Gruppenaktivitäten sowie die vielschichtigen Abhängigkeiten. Letztere zeigen sich im diskutierten Material sowohl innerhalb der Gruppe als auch zwischen der Gruppe im Verhältnis zu den Betreuer:innen, etwa hinsichtlich der finanziellen Ermöglichung von Freizeitgestaltung. Deutlich wird schließlich auch die Rolle der Gruppe als Ort der Verständigung unter den Jugendlichen über von ihnen wahrgenommene Missstände in den Wohngruppen. Ihre Kritik bezieht sich unter anderem auf bestimmte Gruppenregeln, auf Unterschiede im Umgang mit jüngeren und älteren Bewohner:innen seitens der Betreuer:innen oder auf die Qualität des Mittagessens.

Im überbrückenden neunten Kapitel „Von den Fallbeschreibungen zu den Herausforderungen“ werden von Domann gruppenübergreifende Orientierungen und Phänomene zusammengefasst. So zeigt sich in den Untersuchungsgruppen zum einen, wie der Ort der Einrichtung und die dort geltenden Regeln die Gruppe strukturieren und zum anderen, wie Praktiken im Umgang mit den bestehenden Regeln in der Gruppe ausgehandelt, geformt und unter den Jugendlichen weitergegeben werden. Domann stellt das „Verbot des gegenseitigen Verrats“ (S. 91) unter den Jugendlichen heraus und betont als geteiltes Merkmal der vier Gruppen „ein starkes Gerechtigkeitsempfinden" (ebd.) sowie die hohe Bedeutung von „Fairness" (ebd.) und „Harmoniebestreben“ (ebd.). Sie verweist auf die Ambivalenz, dass sich die Jugendlichen einerseits als einander unterstützend beschreiben, die Gruppenharmonie und das gegenseitige Vertrauen zentral setzen, andererseits aber Ausgrenzung und Gewalt innerhalb der Gruppen in den Erhebungen sichtbar werden.

In der komparativen Analyse (Kapitel zehn) vertieft Domann die Analyse von Sequenzen, in denen es um Paarbeziehung, Sexualität, Regeln der Einrichtung, peer violence und Grenzüberschreitungen geht. Sie arbeitet in sequenziellen Feinanalysen heraus, wie Privatsphäre in den Diskussionen verhandelt wird und welche Räume (das eigene Zimmer), Praktiken (wie das Betreten des Zimmers der Mitbewohner:innen, mit oder ohne Anklopfen) oder Zeiten dabei relevant gesetzt werden. Am Beispiel der „Raucherinnen“ wird ein Gruppenprozess von Konflikt über Entschuldigung bis zu kollektiver Schlichtung nachvollziehbar (S. 99-103). Interessant ist an diesen und anderen Ausschnitten und Interpretationen, wie die Konfliktbearbeitung unter den Jugendlichen erfolgt, während die Fachkräfte kaum thematisiert werden. Das Ankommen wird als sensible Phase rekonstruiert, in Verbindung mit der Integration in die Gruppe durch Aufnahmerituale, die Auseinandersetzung mit den bzw. teilweise Rebellion gegen die Gruppenregeln und die Entwicklung subjektiver Strategien im Umgang damit. Die Jugendlichen, die bereits in der Gruppe sind, bewerten das Verhalten der neu Ankommenden. Dabei werden Anpassung an die bestehenden Rituale der Gruppe und Offenheit als angemessenes Verhalten von den Jugendlichen hervorgehoben (S. 112-135).

Exemplarisch vertieft sei die Kategorie „sex & crime“. Hier arbeitet Domann heraus, dass Gewalt, Sexualität und Paarbeziehungen innerhalb der untersuchten Wohngruppen verboten sind, während die Jugendlichen aber zugleich diskutieren, wie sie selbst und andere Jugendliche sich in dem Spannungsfeld bewegen, Verbote zu übertreten (beispielsweise durch die Übernachtung bei Partner:innen) und sich auszuprobieren sowie zugleich mit Konsequenzen (beispielsweise Bestrafung durch Extra-Dienste in der Wohngruppe) rechnen zu müssen (S. 135-152).

In Kapitel elf setzt Domann die von ihr gebildeten Kategorien mit bestehenden Befunden in Verbindung und ordnet sie theoretisch und historisch ein (S. 153-177). Besonders weiterführend erscheinen hier ihre Hinweise zur traditionell eher geringen Beachtung der Gruppenpädagogik und der Bedeutung der Peers im Handlungsfeld der Heimerziehung. Dieser Aspekt ist besonders bemerkenswert angesichts der zuvor dargelegten Befunde zu den Rollen, die die Jugendlichen im Wohngruppenalltag füreinander einnehmen und ihren unterschiedlichen Orientierungen auf die Gruppenzugehörigkeit. Domann verdeutlicht weiter, warum klassische Gruppenphasen im Kontext Heimerziehung aufgrund der hohen Fluktuation kaum durchlaufen werden können und die Bildung eines Gruppengefühls die Jugendlichen in diesem Rahmen fortlaufend herausfordert. Die Autorin formuliert hier anregende Überlegungen zur Bedeutung von peer culture in der Heimerziehung und zu doing group durch die Jugendlichen. Im zwölften Kapitel diskutiert Domann Spannungsfelder aus dem Material, wie beispielsweise „einsam vs. gemeinsam“ oder „Gruppenpädagogik vs. Einzelfallarbeit“ in der Heimerziehung (S. 178-187). Im abschließenden Kapitel dreizehn beantwortet Domann ihre Forschungsfragen und stellt heraus, wie sich Jugendliche in der Heimerziehung als Gruppe herstellen und gemeinsam Kernherausforderungen in diesem Setting bearbeiten. Sie schlussfolgert aus ihren Ergebnissen unter anderem den Bedarf an Schutzkonzepten zum Umgang mit peer violence (S. 177) sowie an partizipativen und sexualpädagogischen Konzepten in den stationären Erziehungshilfen (S. 188).

Insgesamt hat Sophie Domann eine sehr lesenswerte Studie verfasst, deren Analysen dafür sensibilisieren, dass sich in den stationären Hilfen zur Erziehung unfreiwillig zusammengeführte, von Fluktuation geprägte Gruppen Jugendlicher bilden und kontextspezifische Praktiken vollziehen. Deutlich wird das Bedürfnis der Jugendlichen nach Vergemeinschaftung, wobei auf der Basis der Befunde zwischen dem Setting der Wohngruppe und der von den Jugendlichen hervorgebrachten Gruppe zu differenzieren ist. Die Untersuchung zeigt, dass die Gruppenkonstellation entscheidend mitbestimmt, welche Alltagserfahrungen junge Menschen in der Heimerziehung machen (beispielsweise in Bezug auf die Aushandlung von Regeln oder ihren Umgang mit Sexualität). Ausgehend von den Befunden lässt sich kontrovers weiter diskutieren, inwieweit gruppendynamische Prozesse in der Konzeptionierung stationärer Hilfen und der Hilfeplanung mit Jugendlichen ausreichend beachtet werden.
Friederike Lorenz (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Friederike Lorenz: Rezension von: Domann, Sophie: Gruppen Jugendlicher in der Heimerziehung. Weinheim / Basel: Beltz Juventa 2020. In: EWR 20 (2021), Nr. 3 (Veröffentlicht am 07.07.2021), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978377996202.html